Theodor Fontane
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Achtzehntes Kapitel
Othegraven
Der alte Rysselmann, in Jeetzes kleiner Bedientenstube durch einen Imbiß gestärkt und wieder aufgewärmt, passierte eben das an der großen Straße nach Frankfurt gelegene Dorf Podelzig, als ihm ein leichter Kaleschwagen begegnete, auf dessen Lederbank er den Freund seines Justizrats, den Konrektor Othegraven, erkannte. Othegraven ließ halten.
»Guten Tag, Rysselmann, gut bei Weg? Was in aller Welt bringt Sie nach Podelzig?«
»Ich komme schon von Hohen-Vietz. Dienstsachen; ein Brief vom Herrn Justizrat an den Herrn von Vitzewitz. Ein guter Herr; und so ist das ganze Dorf.«
»Ich will auch hin«, sagte Othegraven. »Treffe ich den Schulzen Kniehase?«
»Im Dorf ist er; aber ob der Herr Konrektor ihn treffen werden, ist unsicher. Denn ich hörte, wie der gnädige Herr nach ihm schickte, weil sie bei der alten Botenfrau, die Hoppenmarieken heißt, eine Haussuchung abhalten wollen. Es soll eine Hehlerin sein.«
»Danke schön, Rysselmann; meinen Gruß an den Justizrat. Gott befohlen!«
Damit fuhr der Konrektor in raschem Trabe weiter auf Hohen-Vietz zu. Was ihm Rysselmann gesagt hatte, kam ihm ungelegen, und wenn er zu den Leuten gehört hätte, die auf Zeichen achten, so hätte er umkehren müssen. Er war aber ohne jede Spur von Aberglauben und sah in allem, was geschah, ein unwandelbar Beschlossenes. Seinem Bekenntnis, noch mehr seiner Parteistellung nach streng lutherisch, ruhte doch – ihm angeboren und deshalb unveräußerlich – auf dem Grunde seines Herzens ein gut Stück prädestinationsgläubiger Calvinismus.
Von Podelzig war nur noch eine Stunde. Es läutete Mittag, als Othegraven vor dem Pfarrhause hielt. Seidentopf, den er bei seiner vorgestrigen Anwesenheit in Hohen-Vietz nicht aufgesucht hatte, begrüßte ihn herzlich an der Schwelle seiner Studierstube, die jetzt, wo die Wintersonne schien, ein besonders freundliches Ansehen hatte. Alles war verändert, und die Haushälterin, die sich am zweiten Feiertage durch ihr aufgeregtes Hin- und Herfahren mit Schippe und Räucheressenz so bemerklich gemacht hatte, zeigte heute die vollkommenste Ruhe, als sie, nach dem Brauch des Hauses und ohne daß eine Aufforderung dazu ergangen wäre, ein Frühstück vor Othegraven auf den Tisch stellte.
Beide Männer hatten auf einem kleinen Sofa in der Nähe des Ofens, unter dem verstaubten Regal der Bibliotheca theologica, Platz genommen und sahen in den verschneiten Garten hinaus. Eine Esche stand vor dem Fenster, in Sommerzeit ein wunderschöner Baum; jetzt, wo seine Zweige wie geknotete Hanfstrippen niederhingen, ein trauriger Anblick. Aber keiner von beiden hatte ein Auge dafür, und während der Konrektor, dessen Vorhaben einem guten Appetit nicht günstig war, sich mehr an ein Glas Wein als an das Frühstück hielt, erzählte der Pastor von dem, was sich seit vorgestern in Hohen-Vietz ereignet hatte, von dem Einbruch und von dem Auffinden der Strolche auf dem Rohrwerder.
»Abenteuer und Kriegszüge, als hätten wir schon den Feind im Lande«, so schloß er.
Othegraven, augenscheinlich in sehr unkriegerischer Stimmung, brachte der Erzählung dieser Dinge nur ein geringes Interesse entgegen, das erst wuchs, als der Gesprächsgegenstand wechselte und Seidentopf von dem zweiten Feiertage, ihrem heiteren Beisammensein an jenem Abende, von Pastor Zabels Verlegenheit beim Pfänderspiel und vor allem von Marie zu plaudern begann, wie sie so reizend gewesen sei und so Hübsches über seinen Werneuchner Amtsbruder gesprochen habe, trotzdem er ihr nicht habe beistimmen können.
»Sie könnten mir nichts sagen«, unterbrach ihn Othegraven, »das mich mehr erfreute. Denn wissen Sie, lieber Pastor, ich habe eine herzliche Neigung zu diesem schönen Kinde.«
Seidentopf erschrak; um so mehr, je höher er Othegraven schätzte. Nie war an einen solchen Fall von ihm gedacht worden; jetzt, wo er eintrat, empfand er ihn als eine Unmöglichkeit. Er faßte sich endlich und fragte: »Weiß Marie davon?«
»Nein, ich habe vorgestern mit dem Schulzen gesprochen. Er hat mir geantwortet, Marie sei ein Stadtkind und gehöre in die Stadt; wenn er sie sich an der Seite eines braven Mannes, der sie liebe, denke, so lache ihm das Herz. Und eines Studierten, bald vielleicht eines Pastors Frau, das sei so recht das, was er sich immer gewünscht habe. Das Kind sei sein Augapfel, und mein Antrag sei ihm eine Ehre; aber sie müsse selber entscheiden. Ich konnte ihm nur zustimmen; und da bin ich nun, um mir diese Entscheidung zu holen.«
»Ich wünsche Ihnen Glück, Othegraven. Aber alles erwogen, paßt Marie zu Ihnen?«
Othegraven wollte antworten; Seidentopf indessen, als er aus den ersten entgegnenden Worten heraushörte, daß sich die Antwort nur auf das »Gazekleid mit den Goldsternchen« und alles das, was damit in Zusammenhang war, beziehen werde, unterbrach den Konrektor und sagte ruhig:
»Ich meine nicht das, ich meine, haben Sie bedacht, ob zwei Naturen zueinander passen, von denen die eine ganz Phantasie, die andere ganz Charakter ist?«
»Ich habe es bedacht; aber daß ich es Ihnen bekenne, mehr in Hoffnung als in Zweifel und Befürchtung. Eine Frau von Phantasie, ein Mann von Charakter, wenn ich diese auszeichnende Eigenschaft, die Sie mir zuerkennen, ohne weiteres annehmen darf, ist gerade das, was mir als ein Ideal erscheint. Was ist die Ehe anders als Ergänzung?«
»So heißt es in Büchern und Abhandlungen, und ich kann mir Fälle denken, oder sage ich lieber, ich kenne Fälle, wo dies zutrifft. Aber wenn ich in dem Buche meiner Erfahrungen nachschlage, so ist es im großen und ganzen doch umgekehrt. Die Ehe, zum mindesten das Glück derselben, beruht nicht auf der Ergänzung, sondern auf dem gegenseitigen Verständnis. Mann und Frau müssen nicht Gegensätze, sondern Abstufungen, ihre Temperamente müssen verwandt, ihre Ideale dieselben sein. Vor allem aber, lieber Othegraven, wir sind noch nicht bei der Ehe. Es handelt sich zunächst um den Zug des Herzens, der fast immer nach dem Gleichgearteten geht; wenigstens bei Naturen wie Mariens.«
Othegraven lächelte. »So würde denn, teuerster Pastor, die Frage, die Sie vorhin an mich richteten, nicht haben lauten müssen, ob Marie zu mir, sondern ob ich zu ihr passe? Des ersteren bin ich sicher; um mir auch über den zweiten Punkt Gewißheit zu verschaffen, dazu bin ich hier. Ich bitte, mein Fuhrwerk auf Ihrem Hofe halten lassen zu dürfen; in einer halben Stunde sehe ich Sie wieder. Sie sollen der erste sein, der erfährt, wie die Würfel über mich gefallen sind. Ein unchristlich Wort das; aber ich halt' es aufrecht, weil es genau ausdrückt, was ich in diesem Augenblick empfinde, aller Überzeugung zum Trotz, daß es schließlich kein Würfelspiel ist, was über uns entscheidet. Wir sollten vielleicht vor solchen Widersprüchen, in die auch ein gläubig Herz geraten kann, weniger erschrecken, als wir gewöhnlich tun; wir gewönnen dadurch für uns selbst und für andere mehr, als wir verlieren. Was starr ist, ist tot.«
Sie trennten sich, und Othegraven schritt auf den Schulzenhof zu.
Er fand in dem Zimmer links, in dem am zweiten Weihnachtsfeiertage der alte Kniehase das Kapitel aus dem Propheten Daniel gelesen hatte, nur die Frau des Schulzen vor. Sie schritt ihm unter herzlichem Gruß, aber doch in einer gewissen Befangenheit entgegen und sprach ihr Bedauern aus, daß ihr Mann abwesend sei, einer Dienstsache halber, mit der sie den Herrn Konrektor nicht behelligen wolle. Am wenigsten heute, da sie wisse, weshalb er komme. Sie werde Marie rufen. Dann rückte sie ihm einen Stuhl und stieg hinauf in die Giebelstube, wo die Tochter mit allerhand kleiner Handarbeit, mit Stopfen und Nähen beschäftigt war, um nichts Unfertiges oder Unordentliches mit in das neue Jahr hinüberzunehmen. In der resoluten Weise einer Frau, die von Vorbereiten und Überraschungen ersparen nicht viel hält, sagte sie hier kurz und ohne Umschweife: »Komm, Marie, Konrektor Othegraven ist unten; er hat bei dem Vater um dich angehalten. Sage nun ›ja‹ oder ›nein‹, uns Alten ist beides recht. Wir haben keinen anderen Wunsch als dein Glück, und du mußt selber wissen, was dich glücklich macht.«
Marie war heftig erschrocken, faßte sich aber und folgte der Mutter treppab. Othegraven hatte den Stuhl, der ihm angeboten war, nicht angenommen; er stand am Fenster, mit den Fingern der rechten Hand auf den Knöcheln der linken spielend wie jemand, der voll innerer Unruhe ist.
»Hier ist sie«, sagte Frau Kniehase und schritt wieder auf die Tür zu.
»Bleibe, Mutter«, bat Marie.
Frau Kniehase gab ihre Absicht auf und setzte sich an das Spinnrad. »Marie, Sie wissen, weshalb ich hier bin«, begann Othegraven nach einer kurzen Pause.
»Ja, die Mutter hat es mir eben gesagt.«
»Hat es Sie überrascht?«
»Wir kennen uns erst kurze Zeit.«
»Das Herz, wenn es überhaupt sprechen will, spricht schnell. Es ist jetzt ein halbes Jahr, Marie, daß ich Sie zum ersten Male sah, es war im Park, an der Stelle, wo das Rondell ist. Ich entsinne mich jedes kleinsten Umstandes.«
Marie nickte, zum Zeichen, daß auch ihr der Tag in Erinnerung geblieben sei.
»Es war Besuch da«, fuhr Othegraven fort, »der Steinhöfelsche Herr von Massow, der junge Herr von Burgsdorff und Dr. Faulstich aus Kirch-Göritz; Sie spielten Reifen, und ich hörte schon von fern Ihr Lachen, als ich mit dem alten Herrn von Vitzewitz die große Rüsternhecke heraufkam. Fräulein Renate, in einem hellblauen Sommerkleid, stand Ihnen gegenüber. Als ich dann an dem Spiele teilnahm und Ihnen mit ungeübter Hand die Reifen zuwarf, fingen Sie jeden auf, ob er zu kurz oder zu weit flog. Ihre Geschicklichkeit glich aus, was der meinigen fehlte. Ich habe nichts davon vergessen, und als ich an jenem Abend nach Frankfurt zurückfuhr, wußte ich, daß ich Sie liebte.«
Marie schwieg; das Spinnrad surrte, man hätte eine Nadel fallen hören.
»Haben Sie mir nichts zu sagen, Marie?«
Sie schritt jetzt rasch auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte mit einer Entschlossenheit, in der das voraufgegangene Bangen nur noch leise nachklang: »Es kann nicht sein; Sie selbst haben mir die Antwort auf die Lippen gelegt, als Sie sagten, das Herz spräche schnell, wenn es überhaupt sprechen wolle.« Dann barg sie das Gesicht in ihre Hände und rief: »Ach, bin ich undankbar?«
»Ich habe keinen Anspruch auf Ihren Dank, Marie.«
»Und doch bin ich undankbar vielleicht, nicht gegen Sie, aber gegen mein Geschick. Ich war nicht so jung, als ich in dieses Haus kam, daß ich hätte vergessen können, was ich vorher war. Und wenn ich es je vergessen hätte, so würde mich das Kreuz, das oben auf meines Vaters Grabe steht, jeden Tag daran erinnert haben. Die Art, wie mich Gott geführt, legt mir besondere Dankespflichten auf, und ich weiß nicht, ob ich diese Pflichten erfülle, wenn ich jetzt einfach sage: mein Herz spricht nicht. Es sollte vielleicht sprechen; aber es schweigt. Und so muß es denn bleiben, wie es ist. Es trennt uns etwas, ein Unterschied der Naturen, den ich nicht zu nennen weiß, der aber da ist, weil ich ihn empfinde.«
Marie schwieg.
»So hab' ich denn wenigstens Gewißheit empfangen«, nahm Othegraven das Wort, »und das Traurigste, was es gibt, hoffnungslos zu hoffen, ist mir erspart geblieben. Sie haben es verschmäht, sich hinter Halbheiten zu flüchten; ich danke Ihnen dafür. Auch dies zeigt mir, wie richtig meine Neigung wählte, richtig, aber nicht glücklich. Und es ist ohne Bitterkeit, Marie, daß ich von Ihnen scheide; denn das Herz läßt sich nicht zwingen. Und ob ich es gleich wünschte, daß sich das Ihrige anders entschieden hätte, so weiß ich doch, daß es sich entschieden hat, wie es sich entscheiden mußte.«
Er reichte erst Marie, dann der Mutter die Hand und verließ das Haus, in dem ein kurzes Gespräch über sein Glück den Stab gebrochen hatte.
Eine Stunde später fuhr er wieder auf Frankfurt zu.
»Lieber Freund«, so waren des Pastors letzte Worte gewesen, »ich beobachte das Leben nun vierzig Jahre, und immer wieder habe ich wahrgenommen, daß sich Männer Ihrer Art zu Naturen wie Mariens unwiderstehlich hingezogen fühlen, ohne daß diese Naturen die Liebe, die ihnen entgegengetragen wird, jemals erwidern können. Den Charakter zieht es zur Phantasie, aber nicht umgekehrt.«
Othegraven, indem er die Seidentopfschen Worte hin und her wog, lächelte schmerzlich.
»Es ist so; der Alte hat recht. Und so werd' ich denn liebelos durch dieses Leben gehen; denn nur die Seite des Daseins, die mir fehlt, hat Reiz für mich und zieht mich an. Und so ist mein Los beschlossen. Trag' ich es; nicht nur weil ich muß, auch weil ich will. Tue, was dir geziemt. Aber ich hatte es mir schöner geträumt; auch heute noch.«
Während dieses Selbstgespräches war der Konrektor in Podelzig eingefahren und passierte die Stelle, wo er dem alten Rysselmann begegnet war. Er entsann sich der gehobenen Stimmung, in der er noch zu ihm gesprochen hatte, und wiederholte vor sich hin: »Ja, schöner geträumt; auch heute noch!«