Vor dem Sturm. Dritter Kapitel. Zwölftes Kapitel. by Theodor Fontane
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Vor dem Sturm. Dritter Kapitel. Zwölftes Kapitel.

Theodor Fontane * Track #48 On Vor dem Sturm

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Vor dem Sturm. Dritter Kapitel. Zwölftes Kapitel. by Theodor Fontane

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Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Dritter Kapitel. Zwölftes Kapitel. Annotated

Zwölftes Kapitel
Durch zwei Tore

An »Borodino« knüpften sich hundert Fragen, und von Meerheimb, während er diese Fragen beantwortete, blieb der Mittelpunkt des Kreises. Er erzählte von dem Marsche über das unaufgeräumte, die entsetzlichsten Szenen bietende Schlachtfeld, von dem Einzug in Moskau, von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, endlich von dem Aufgeben der verödeten und mittlerweile zu einer Brandstätte gewordenen Hauptstadt. Mit dem Bilde, das er von diesem Elend entwarf – eine Woche später war er verwundet worden –, brachen seine Schilderungen ab. Es konnte dabei nicht fehlen, daß einzelner französischer Heerführer, Neys oder Nansoutys, noch häufiger Murats und des Vizekönigs, mit wenig verhehlter Vorliebe gedacht wurde; aber die Verhältnisse lagen damals in Preußen und ganz besonders in seiner Hauptstadt so eigentümlich, daß solcher Vorliebe ohne die geringste Besorgnis vor einem Anstoß Ausdruck gegeben werden konnte. Niemand wußte, wohin er sich politisch, kaum, wohin er sich mit seinem Herzen zu stellen hatte, denn während unmittelbar vor Ausbruch des Krieges dreihundert unserer besten Offiziere in russische Dienste getreten waren, um nicht für den »Erbfeind« kämpfen zu müssen, standen ihnen in dem Hilfskorps, das wir ebendiesem »Erbfeinde« hatten stellen müssen, ihre Brüder und Anverwandten in gleicher oder doppelter Zahl gegenüber. Wir betrachteten uns im wesentlichen als Zuschauer, erkannten deutlich alle Vorteile, die uns aus einem Siege Rußlands erwachsen mußten, und wünschten deshalb diesen Sieg, waren aber weitab davon, uns mit Kutusow oder Woronzow derartig zu identifizieren, daß uns eine Schilderung französischer Kriegsüberlegenheit, an der wir, gewollt oder nicht gewollt, einen hervorragenden Anteil hatten, irgendwie hätte verletzlich sein können.

Es schlug eben sechs, als von Meerheimb sich erhob, um den Beginn einer Opernvorstellung – die »Vestalin« wurde gegeben – nicht zu versäumen. Als sich herausstellte, daß er keine Verabredung mit anderen Kameraden getroffen habe, wurde beschlossen, ihn in die Vorstellung zu begleiten; nur Hansen-Grell und Lewin lehnten ab und schritten auf verschiedenen Wegen ihrer Wohnung zu.

Lewin hatte noch die Vorlesung im Sinn, die nicht als Schlachtbeschreibung, wohl aber als Schilderung überhaupt einen großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er sah das brennende Semenowskoi und wie die Pferde, im flüchtigen Passieren der Brand- und Schwelstätte, in die verräterisch mit Aschenschutt überdeckten Kellerlöcher stürzten; er sah die tiefen russischen Kolonnen, zwischen denen, als gält' es eine Spießrutengasse zu passieren, Oberst von Leyser und seine Todesschar hindurchjagten, und er sah endlich, wie sich ein Wiesenstreifen plötzlich mit gelben Schafpelzreitern füllte, Baschkiren und Kalmücken, die nun nach Art eines Wespenschwarms ihre Opfer niederstachen. All das sah er, und dazwischen, wie eine Melodie, die er nicht loswerden konnte, hörte er die Worte des alten Compans: »Sire, es liegt in der Schanze.«

Es klang ihm noch im Ohr, als er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg. Hier fand er alles hell und licht. Frau Hulen mußte sich die Stunde seiner Rückkehr genau berechnet oder seinen Schritt auf dem Hausflur richtig erkannt haben, jedenfalls brannte schon die kleine grüne Studierlampe auf seinem Schreibtisch und schien ihn zu sich einzuladen. Er ließ auch nicht lange auf sich warten, nahm Platz und warf einen Blick auf die Bücher, Blätter und Briefe, die noch ebenso lagen, wie er sie vormittags, als er sich für das Jürgaßsche Frühstück rüstete, zurückgelassen hatte. Renatens Brief überflog er noch einmal, ohne daß sich der Eindruck sonderlich gesteigert hätte; es blieb, wie es war; der äußere Schaden durfte neben dem inneren Gewinn nicht in Betracht kommen. Andererseits trieb es ihn auch wieder, seinen Gedanken, die das Sorgenvolle eines zweiten stattgehabten Brandunglücks innerhalb wenig mehr als Jahresfrist nicht verkennen konnten, womöglich eine freundlichere Richtung zu geben, und die zur Hand liegenden Bücher sollten ihm dabei behülflich sein. Zuoberst lag immer noch der Band Herder. Als er ihn wieder aufschlug, fiel sein Auge auf dasselbe Lied, dessen Schlußzeilen ihn am Vormittage so weh ums Herz gemacht hatten, und abergläubisch, wie er war, sah er darin ein Zeichen von wenig guter Vorbedeutung. Er schloß verdrießlich das Buch, das ihm die gewünschte Freudigkeit nicht geben wollte, und weiter suchend, entdeckte er endlich ein broschürtes Heft, auf dessen zitronengelbem Umschlag, neben seinem eigentlichen Titel: »Chants et Chansons populaires«, noch von Tante Amelies charakteristischer Hand die Worte geschrieben standen: »Dedié à son cher neveu L.v.V. par Amélie, Comtesse de P.; Château de Guse, Noël 1812.« Lewin, voller Mißtrauen in den literarischen Geschmack der Guser Tante, hatte sich noch nicht entschließen können, in das Büchelchen hineinzusehen; lächelnd griff er jetzt nach demselben und blätterte darin. Eine der kleineren Abschnittsüberschriften, die er sich, vielleicht nicht ganz richtig, mit »Kinderreime« übersetzte, reizte flüchtig seine Neugier, und er begann zu lesen:

Ma petite fillette, c'est demain sa fête.
Je sais pour elle ce qui s'apprête:
Le boulanger fait un gâteau,
La couturière un petit manteau...

»Das ist ja allerliebst«, sagte er, »und ganz, wonach ich mich gesehnt habe. Wie mir diese Reime wohltun!« Und er las unter steigendem Interesse bis zu Ende. Die Zeilen hafteten sofort in seinem Gedächtnis; aber das genügte ihm nicht, er wollte sie deutsch haben, wobei dahingestellt bleiben mag, ob nicht vielleicht schon die nächste Kastaliasitzung mit aufmunterndem Winken vor seiner Seele stand. Jedenfalls war es unter dem Einfluß einer freudigerregten Stimmung, die auch dem Übersetzer rascher die Feder führt, daß er wie im Fluge die Reimpaare der zierlichen kleinen Strophe niederschrieb. Nur der »petit manteau« der couturière hatte ihm eine kleine Schwierigkeit gemacht.

Die letzte Zeile stand noch kaum auf dem Papier, als es klopfte und Frau Hulen eintrat. Sie brachte den Tee.

»Setzen Sie sich, Frau Hulen, ich will Ihnen etwas vorlesen.«

Die Alte blieb an der Tür stehen und sah verlegen auf ihren jungen Herrn. Jetzt erst merkte dieser, daß er, in dem Übermut plötzlicher guter Laune, einen gewagten Schritt getan habe, und die Reihe des Verlegenwerdens kam an ihn. Er getröstete sich jedoch, wie so viele vor und nach ihm, mit der alten Anekdote, daß auch Molière das Urteil seiner Haushälterin zu Rate gezogen habe, und sagte deshalb, während Frau Hulen das Teebrett niedersetzte, mit ziemlich wiedergewonnener Unbefangenheit: »Hören Sie nur zu; es ist nicht schlimm.

Zu meiner Enk'lin Namenstag
Ihr jeder etwas bringen mag:
Der Bäcker bringt ein Kuchenbrot,
Der Schneider einen Mantel rot,
Der Kaufmann schickt ihr, weiß und nett,
Ein Puppenkleid, ein Puppenbett,
Und schickt auch eine Schachtel rund,
Mit Schäfer und mit Schäferhund,
Mit Hürd' und Bäumchen, paarweis' je,
Und mit sechs Schafen, weiß wie Schnee;
Und eine Lerche, tirili,
Seit Sonnenaufgang hör' ich sie,
Die singt und schmettert, was sie mag,
Zu meines Lieblings Namenstag.

Nun, Frau Hulen«, schloß Lewin seine Vorlesung, »was meinen Sie dazu?«

Die Alte zupfte an ihrem Haubenband und sagte dann: »Sehr hübsch.«

»Das ist mir zu wenig.«

»Ja, junger Herr, ich kann es doch nicht wunderschön finden!«

»Warum nicht?«

»Es geht alles so klipp und klapp wie ein Fibelvers.«

»Das ist es ja eben; das soll es ja. Ganz richtig. Sie sind doch eine kluge Frau, Frau Hulen, und wenn ich wieder einen Fibelvers schreibe, so sollen Sie auch wieder die erste sein, die ihn zu hören kriegt.«

Es schien nicht, daß die Mitteilung einer derartig bevorstehenden Auszeichnung von derjenigen, an die sie sich richtete, in ihrem ganzen Werte gewürdigt wurde; Frau Hulen suchte vielmehr, während sie sonst das Plaudern über die Maßen liebte, die Rückzugslinie zu gewinnen, und erst als sie die Türklinke schon in der Hand hatte, wandte sie sich noch einmal und sagte: »Ach, da war auch der junge Schnatermann hier...«

»Von Lichtenberg?«

»Ja, von Lichtenberg. Er brachte eine Empfehlung von seinem Vater, und sie hätten morgen ein Dachsgraben in der Dahlwitzer Forst. Es kämen noch andere Berliner Herren. Ob der junge Herr auch vielleicht Lust hätte? Elf Uhr am Lichtenberger Weg.«

Lewin nickte.

»Das trifft sich gut; Donnerstag ist ein freier Tag. Wecken Sie mich früh, Frau Hulen.«

Und damit wünschten sie sich eine gute Nacht.

Lewin war zu guter Stunde auf, und da nur mäßige Kälte herrschte, so bedurfte es für ihn, der ohnehin gegen Wind und Wetter abgehärtet war, keiner sonderlichen Vorbereitungen, um sich für die Partie zu rüsten.

Der Weg bis zum Rendezvousplatz war nicht allzu weit und hielt sich vom Frankfurter Tore aus auf derselben Pappelallee, die Lewin auf seinen Besuchs- und Ferienreisen nach Hohen-Vietz ungezählte Male passiert hatte. Er kannte bis nach Lichtenberg und Friedrichsfelde hin jedes einzelne Etablissement und versäumte selten, wenn er an der »Neuen Welt«, einem vielbesuchten Vergnügungslokal, vorüberkam, ein Glas Bernausches zu trinken und mit dem alten, blauschürzigen Wirt, der immer selbst bediente, einen langen Diskurs zu halten. Heute gebot es sich aber doch, auf solche Diskurse, die leichter anzufangen als abzubrechen waren, Verzicht zu leisten, und so schritt er denn an dem Etablissement vorüber, vor dem eben ein mit zwei Hunden angeschirrter Brotwagen abgeladen wurde.

Er war noch kaum dreihundert Schritt' drüber hinaus, als er auf dem breiten Fahrdamm, auf dem er bequemlichkeitshalber selber ging, einen ungeordneten Trupp Menschen auf sich zukommen sah, vierzig oder fünfzig, soweit es sich in der Entfernung abschätzen ließ. Es schien, daß auch er bemerkt worden war, denn der Trupp, sei es auf ein Kommandowort oder aus Antrieb jedes einzelnen, begann sich plötzlich militärisch zu ordnen, und Lewin, der nicht wußte, was er aus dieser Erscheinung machen sollte, trat auf die Seite, um die Näherkommenden an sich vorbei zu lassen. Er hatte jedoch noch eine Weile zu warten, denn es waren keine raschen Fußgänger mehr, die da heranmarschierten. Endlich ließen sich die vordersten deutlich erkennen. Sie trugen graue Mäntel samt einem Tschako und konnten auf den ersten Blick noch als eine uniformierte Truppe gelten, aber bei genauerer Musterung zeigte sich der ganze Jammer ihres Zustandes. Die Stiefel, soweit sie deren hatten, waren aufgeschnitten, um die verschwollenen Füße minder schmerzvoll hineinzuzwängen, und wenn der Wind den Mantel auseinanderschlug, sah man, wie die Gamaschen herabhingen oder völlig fehlten. Alles desolat. Ihre teils froststarren, teils längst erfrorenen Hände waren in Tuch- und Zeuglappen gewickelt, und von Waffen hatten sie nichts mehr als das Seitengewehr. Sie sahen nach Lewin hin und grüßten ihn artig, aber scheu.

Nach dieser Infanterieabteilung kam Kavallerie, Kürassiere, zehn Mann oder zwölf, die Reste ganzer Regimenter. Sie waren in besserem Aufzug, hatten noch ihre weißen Mäntel, zum Teil auch noch die hohen Reiterstiefel und trugen zum Zeichen, daß sie durch Mißgeschick und nicht durch Schuld ihre Pferde verloren hätten, die Sättel derselben über die eigenen Schultern gelegt. Einige hatten noch ihre Helme mit den langen Roßschweifen, und diese wider Willen herausfordernden Überbleibsel aus den Tagen ihres Glanzes gaben ihrer Erscheinung etwas besonders Grausiges.

Den Schluß machte wieder Infanterie, die von einem am linken Flügel marschierenden Korporal in zerschlissener, aber noch vollständiger Equipierung geführt wurde. Es war ein großer, hagerer Mann mit schwarzem Kinnbart und tiefliegenden Augen, unverkennbar ein Südfranzose. Lewin faßte sich ein Herz, trat an ihn heran und sagte: »Vous venez...«, aber die Stimme versagte ihm, und: »de la Russie«, ergänzte der Korporal, während er die Hand an den Tschako legte.

Im nächsten Augenblick war der Trupp vorüber, ein Leichenzug, der sich selber zu Grabe trug. Lewin sah ihm minutenlang nach, und Empfindungen, wie sie seine Seele nie gekannt, durchwühlten ihn.

»Das sind sie, denen wir aufpassen und Fallen legen und die wir dann hinterrücks erschlagen sollen. Nein, Papa, das wäre schlimmer als den Schlaf morden, schlimmer als das Schlimmste.«

Er hing seinen Gedanken noch eine Weile nach, dann wandte er sich wieder vorwärts, um das Rendezvous am Lichtenbergerweg zu erreichen.

Aber er hielt bald wieder inne. Ein tiefes Mitleid überkam ihn, zugleich ein unendliches Verlangen, diesen Unglücklichen ein Rat, eine Hülfe zu sein, und Rendezvous und Schnatermann, Dahlwitzer Forst und Dachsgraben leichten Herzens aufgebend, beschloß er, wieder in die Stadt zurückzukehren.

Der Vorsprung, den der kleine Trupp gewonnen hatte, war nicht groß, und schon am Ausgang der Frankfurter Linden holte er die letzte Sektion desselben wieder ein. Er sah hier, daß viel Volks um die einzelnen her war, beruhigte sich aber, als er wahrnahm, daß es meist Neugier und Teilnahme war, was sie begleitete. Nur einzelne Hassesworte wurden laut; Hohn und Spott schwiegen. Er hielt sich deshalb zurück und folgte nur in einiger Entfernung dem Zuge, der erst über den Alexanderplatz in die Königsstraße, dann über den Schloßplatz in die Behrenstraße ging. Hier befand sich die französische Kommandantur, in deren großen Hof, nachdem man zuvor leise gepocht, diese Rückzugsavantgarde der ehemaligen »Großen Armee« eingelassen wurde. Die Menge draußen, die bald ermüdete, verlief sich in die Nachbarstraßen.

Nur Lewin blieb. Er mochte eine Viertelstunde vor dem Hause auf- und abgeschritten sein, als die große Portaltür sich von innen her öffnete und fünf von den weißmäntligen Kürassieren wieder auf die Straße traten. Die Sättel hatten sie in der Kommandantur zurückgelassen. Mit dem scharfen Auge, das die Not gibt, erkannten sie Lewin sofort wieder, traten an ihn heran und hielten ihm fragend und bittend die Quartierbilletts entgegen, mit deren Inhalt sie nichts anzufangen wußten. Lewin las die Zettel, die sämtlich auf ein und dasselbe kasernenartige Haus am »Rondell«, wie damals noch der jetzige Belle-Alliance-Platz hieß, ausgestellt waren.

»Suivez-moi«, sagte er und trat rechts neben den Vordersten. Sie folgten ruhig, ohne daß ein Wort gesprochen wurde.

Als sie den Wilhelmsplatz fast schon passiert und den Eckpunkt erreicht hatten, wo die Statue Winterfeldts steht, hörten sie kriegerische Musik, die, wenn das Ohr nicht täuschte, vom Potsdamer Tor oder aus der Nähe desselben herkommen mußte. Lewin, solchen Klängen nicht gut widerstehend, setzte sich in ein schnelleres Marschtempo, hielt aber wieder inne, als er wahrnahm, daß es den ermüdeten Kürassieren schwer wurde, ihm zu folgen. Er wandte sich, wie um durch Freundlichkeit seinen Fehler wieder gutzumachen, an den unmittelbar neben ihm gehenden und sagte, mit dem Finger nach der Richtung hinzeigend, von wo die Musik kam: »Entendez-vous?«

Und über die matten Züge des Angeredeten flog ein Lächeln, als er antwortete: »Ce sont des clairons français!«

Mittlerweile waren sie bis an die Ecke der Wilhelms- und Leipzigerstraße gekommen und sahen vom Tore her, denn der Zug schien endlos, eine ganze französische Division im Anmarsch. Die Musik schwieg eben, wahrscheinlich um Atem zu schöpfen; auf dem Bürgersteige aber, zu beiden Seiten der heranmarschierenden Kolonne, drängten sich dichte Volksmassen, ja waren teilweis' weit voraus, um rascher nach dem Lustgarten zu kommen, wo, wie man wußte, Truppeneinzüge und andere militärische Schauspiele abzuschließen pflegten. Lewin samt seinen Schutzbefohlenen war unter einen Torweg getreten und konnte den lauten Äußerungen der dicht an ihm vorüberflutenden Menge mit Leichtigkeit entnehmen, daß es die von Italien her frisch eingetroffene Division Grenier sei, was da jetzt in allem militärischem Pomp die Leipzigerstraße heraufkomme. Er hörte auch, daß General Augereau, der Gouverneur von Berlin, der Division bis Schöneberg entgegengeritten sei, um sie feierlich einzuholen und den Berlinern in beherzigenswerter Weise zu zeigen, daß der Kaiser nach wie vor unerschöpfte Hilfsquellen und trotz Moskau noch immer Armeen habe.

Es waren immer dieselben Namen und Bemerkungen, die laut wurden; jetzt aber schwieg alles, denn die Spitze der Kolonne, General Augereau selbst, war heran, ein großer, starker Mann mit Adlernase und durchdringendem Blick. Er trug die Uniform eines Marschalls von Frankreich. Die demontierten Kürassiere, als sie seiner ansichtig wurden, rückten sich zurecht, und einer, der ihn schon vom italienischen Feldzug her kannte, flüsterte den andern zu: »Voilà le Duc de Castiglione!«

Eine Suite von Ordonnanzoffizieren folgte unmittelbar, und erst, als auch diese vorüber war, ließ sich die Front des an der Tête marschierenden Bataillons mit Deutlichkeit erkennen. Es war italienische junge Garde. Vorauf ein Tambourmajor, klein und mager, aber mit einem fuchsfarbenen Schnurrbart, der bis an die roten Epauletten reichte. Fünf Schritt hinter ihm ein riesiger Mohr, nur mit Kopf und Hals über die hochaufgeschnallte Regimentspauke hinwegragend, und neben demselben ein vierzehnjähriger Hornist, ein bildschöner und, wie sich leicht erkennen ließ, von allen Weibern verhätschelter Junge, der lachend und kokett seine weißen Zähne zeigte. Er trug ein kleines, silbernes Clairon in der Rechten und sah nach den Fenstern hinauf, um wahrzunehmen, ob er auch beobachtet werde.

Die Musik schwieg noch immer. Aber jetzt, keine dreißig Schritt mehr von der Wilhelmsstraßenecke entfernt, hob der Tambourmajor seinen Stock, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder. Im selben Moment gab der Mohr einen Paukenschlag, und der kleine Hornist neben ihm setzte das silberne Horn an den Mund und schmetterte die Signale. Dann wieder ein Paukenschlag; das Clairon schwieg, und die aus vierzig Mann oder mehr bestehende Regimentsmusik fiel ein. Im Geschwindschritt ging es vorüber; Sappeurs folgten, dann Grenadiere, und unablässig liefen Kommandoworte die lange Reihe der Bataillone hinunter.

Als Lewin sich nach seinen Gefährten umsah, standen sie abgewandt. Von ihrem alten Stolze war nichts übriggeblieben als die Scham über ihr Elend. Er wollte nicht sehen, was er nicht sehen sollte, und richtete deshalb sein Auge wieder auf die Kolonne, die jetzt mit dem letzten ihrer Bataillone defilierte. Erst als auch dieses vorüber war, legte er seine Hand leise auf die Schulter des ihm Zunächststehenden und sagte: »Eh bien, hâtons-nous!«

So schritten sie, ohne daß weiter ein Wort gesprochen worden wäre, die Wilhelmsstraße bis nach dem Rondell hinunter.

Als sie eine Viertelstunde später hier schieden, stellten sich die fünf Weißmäntel wie in Reih und Glied nebeneinander und legten salutierend die Hand an den Korb ihres Pallasch. In ihrem Auge aber lag, was ein edles Herz am meisten erschüttert: der Dank des Unglücks.

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