Theodor Fontane
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Zehntes Kapitel
Dejeuner bei Jürgaß
Nicht bloß die alte Exzellenz Wylich, wie Geheimrat von Ladalinski sich ausgedrückt hatte, war ein Pünktlichkeitspedant, sondern auch Jürgaß. Dies wußte der ganze Kreis. So kam es, daß sich eine Minute vor zwölf alle Geladenen auf Flur und Treppe trafen, selbst Bummcke, der die scherzhaft eingekleidete, aber ernst gemeinte Reprimande von der letzten Kastaliasitzung her noch nicht vergessen hatte.
Die Jürgaßsche Wohnung befand sich in einem mit einigen Reliefschnörkeln ausgestatteten Eckhause des Gendarmenmarktes und nahm die halbe nach dem Platze zu gelegene Beletage ein. Sie bestand, soweit sie zu repräsentieren hatte, aus einem schmalen Entree, einem dreifenstrigen Wohn- und Gesellschaftszimmer und einem Speisesalon. Schon die Größe der Wohnung, noch mehr ihre Ausschmückung, konnte bei einem märkischen, auf Halbsold gestellten Husarenoffizier, dessen väterliches Gut mit drei seiner besten Ernten nicht ausgereicht haben würde, auch nur ein Dritteil dieser Zimmereinrichtungen zu bestreiten, einigermaßen überraschen; unser Rittmeister war aber nicht bloß der Sohn seines Vaters, sondern auch der Neffe seiner Tante, eines alten Fräuleins von Zieten, die als Konventualin von Kloster Heiligengrabe ihrem Liebling, eben unserem Jürgaß, ihr ganzes, ziemlich bedeutendes Vermögen testamentarisch hinterlassen hatte. In diesem Testament hieß es wörtlich: »In Anbetracht, daß mein Neffe Dagobert von Jürgaß, einziger Sohn meiner geliebten Schwester Adelgunde von Zieten, verehelichten von Jürgaß, durch seiner Mutter Blut, insonderheit auch durch Bildung des Geistes und Körpers ein echter Zieten ist, vermache ich besagtem Neffen, Rittmeister im Göckingkschen (ehemals Zietenschen) Husarenregiment, in der Voraussetzung, daß er das Zietensche, so Gott will, immer ausbilden und in Ehren halten will, mein gesamtes Barvermögen, samt einem Bildnis meines Bruders, des Generallieutenants Hans Joachim von Zieten, und bitte Gott, meinen lieben Neffen in seinem lutherischen Glauben und in der Treue zu seinem Königshause erhalten zu wollen.«
Dieses Testament war zufälligerweise gerade am 14. Oktober 1806, also am Tage der Doppelschlacht bei Jena und Auerstädt, seitens der alten Konventualin, die noch denselben Winter das Zeitliche segnete, niedergeschrieben worden, weshalb denn auch Jürgaß, bei der Wiederkehr jedes 14. Oktober, in seiner Weise zu sagen pflegte: »Sonderbarer Tag, an dem ich nie recht weiß, ob ich ein Fest- oder ein Trauerkleid anlegen soll; Preußen fiel, aber Dagobert von Jürgaß stieg.«
Im übrigen hatte ihn die Tante richtig abgeschätzt; es steckte ihm von der Mutter Seite her, neben einem Hange zu gelegentlich glänzendem Auftreten, auch das gute Haushalten der Zieten im Blute, so daß sich sein Vermögen, aller Zeiten Ungunst zum Trotz, in den seit der Erbschaft verflossenen sechs Jahren eher gemehrt als gemindert hatte.
In besonders reicher Weise war das schon erwähnte Wohnzimmer von ihm ausgestattet worden, was denn auch zur Folge hatte, daß alle diejenigen Herren, die heute zum erstenmal in diesen Räumen waren, ihre Aufmerksamkeit auf Pfeiler und Wände desselben richteten. Herr von Meerheimb entdeckte sofort eine in verkleinertem Maßstab gehaltene Kopie eines großen, eine Zierde der Dresdener Galerie bildenden Tintoretto, während von Hirschfeldt sich freute, einer langen Reihe von Buntdruckbildern zu begegnen, deren Originale er in London bei Gelegenheit einer Ausstellung Josua Reynoldsscher Werke gesehen hatte. Die Fülle aller dieser Ausschmückungsgegenstände, unter denen namentlich auch bemerkenswerte Skulpturen waren, gab dem Geplauder, das ohnehin im Auf- und Abschreiten geführt wurde, etwas Unruhiges und Zerstreutes, das dem Aufkommen eines gemütlichen Tones ziemlich ungünstig war, von Jürgaß aber, so sehr ihm unter gewöhnlichen Verhältnissen die Pflege des Gemütlichen am Herzen lag, nicht unangenehm empfunden wurde, da ihm nicht entgehen konnte, daß der Grund dieser beständig hin- und herspringenden Unterhaltung ausschließlich eine seiner Eitelkeit schmeichelnde Bewunderung für seine Kunstwerke oder aber Neugier in betreff der sonst noch vorhandenen Sehenswürdigkeiten war.
Zu diesen Sehenswürdigkeiten gehörte vor allem der »große Stiefel«, der, sechs Fuß hoch, mit einer anderthalb Zoll dicken Sohle und einem neun Zoll langen Sporn daran, seinerzeit entweder selbst eine cause célèbre gewesen war oder doch zu einer solchen die Anregung gegeben hatte. Es hatte damit folgende Bewandtnis.
Es war am Ende der neunziger Jahre, als Jürgaß, damals noch ein blutjunger Lieutenant bei den Göckingkhusaren, mit Wolf Quast vom Regiment Gensdarmes die Friedrichsstraße nach dem Oranienburger Tore zu hinaufschlenderte. Dicht vor der Weidendammer Brücke, gegenüber der Pépinière, fiel ihnen ein riesiger Sporn auf, der im Schaufenster eines Eisenladens hing. Sie blieben stehen, lachten, schwatzten und setzten fest, daß der erste, der in Arrest käme, den Sporn kaufen solle. Der erste war Jürgaß. Aber der Sporn war kaum erstanden, als ein neues Abkommen getroffen wurde: »Der nächste läßt einen Stiefel dazu machen.« Dieser nächste nun war Quast, und nach Ablauf von wenig mehr als einer Woche wurde der mittlerweile gebaute Riesenstiefel unter allen erdenklichen Formalitäten prozessionsartig erst in die Kaserne und dann in Quasts Zimmer getragen. Von den jüngeren Kameraden beider Regimenter fehlte keiner. Da stand nun der Koloß, und der Riesensporn wurde angeschnallt. Aber der einmal wachgewordene Übermut war noch nicht befriedigt, und eine Steigerung suchend, wurde beschlossen, dem großen Stiefel und großen Sporn zu Ehren auch ein entsprechend großes Fest zu geben. Der Stiefel natürlich als Bowle. Gesagt, getan. Das Fest verlief zu vollkommenster Genugtuung aller Beteiligten, aber keineswegs zur Zufriedenheit des Kriegsministers, der vielmehr dem Unfug ein Ende zu machen und den großen Stiefel tot oder lebendig einzuliefern befahl.
Die betreffende Ordre war kaum ausgefertigt, als alle jungen Lieutenants einig waren, daß es Ehrensache sei, den Stiefel coûte que coûte zu retten, der nunmehr auch wirklich bei der bald darauf stattfindenden Kasernenrevision aus einem Zimmer in das andere und schließlich in Rückzugsetappen erst auf die havelländischen, dann auf die Ruppinschen und Priegnitzschen Güter der respektiven Väter und Oheime wanderte, die sich nolens volens in das von ihren Söhnen und Neffen eingeleitete Spiel mitverwickelt sahen. So kam er schließlich nach Gantzer und war auf ein ganzes Dutzend Jahre hin vergessen, als unser Jürgaß, bei Gelegenheit eines kurzen Besuchs im väterlichen Hause, des ehemaligen corpus delicti wieder ansichtig wurde und sofort beschloß, es als originelle Zimmerdekoration in seiner eben in Einrichtung begriffenen Wohnung zu verwenden. Er machte übrigens nicht mehr und nicht weniger von der Sache, als sie wert war, und wenn er, die Geschichte vom »großen Stiefel« erzählend, einerseits viel zu viel Urteil hatte, um einen Fähnrichsstreich als Heldentat zu behandeln, so war er doch auch keck und unbefangen genug, sich des Übermutes seiner jungen Jahre nicht weiter zu schämen.
Der eintretende Diener, die Flügeltüren des Speisesalons öffnend, meldete durch diese stumme Sprache, daß das Frühstück serviert sei, und Jürgaß, vorausschreitend, bat seine Gäste, ihm folgen zu wollen. An einem runden Tische war gedeckt. Hirschfeldt und Meerheimb nahmen zu beiden Seiten des Wirtes Platz, Hansen-Grell ihm gegenüber; Tubal, Lewin und Bummcke, auf die sich aus der Reihe der Kastaliamitglieder die Einladungen beschränkt hatten, schoben sich von rechts und links her ein.
Die Jürgaßschen Frühstücke waren berühmt, nicht nur durch ihre Auserlesenheit, sondern beinahe mehr noch durch die Aufmerksamkeiten und Überraschungen, womit er das Mahl zu begleiten pflegte. Auch heute war er nicht hinter seinem Ruf zurückgeblieben. Unter dem Kuverte von Hirschfeldt lag, aus einem französischen Reisebuche herausgeschnitten, die »Kathedrale von Tarragona«, ein kleines Bildchen, auf dessen Rückseite die Worte zu lesen waren: »In dankbarer Erinnerung an den 5. Januar 1813«, während Hansen-Grell beim Auseinanderschlagen seiner Serviette eines zierlichen, silbernen Sporns ansichtig wurde, der auf dem Kartenblatt, auf dem er befestigt war, nach Art einer Devise die Umschrift führte:
Er trug blanksilberne Sporen
Und einen blaustählernen Dorn,
Zu Calcar war er geboren,
Und Calcar, das ist Sporn.
Auch für Bummcke war gesorgt und eine Überraschung da, die freilich mehr den Charakter einer Neckerei als einer Aufmerksamkeit hatte. Es war eine große, neben seinem Teller liegende Papierrolle, die sich nach Entfernung des roten Fadens, der sie zusammenhielt, als ein vielfach lädierter, in grober Schabemanier ausgeführter Kupferstich erwies. Darunter stand: »Einzug des Hauptmanns von Bummcke in Kopenhagen«. Und in der Tat, so wenig glaubhaft ein hauptmännischer Einzug in die dänische Hauptstadt sein mochte, es sah mehr oder weniger nach etwas Derartigem aus, schon weil die Straßenarchitektur getreulich wiedergegeben und für jeden, der Kopenhagen kannte, der aus drei Drachenschwänzen aufgeführte Spitzturm des alten Börsengebäudes ganz deutlich erkennbar war. Nichtsdestoweniger bedeutete der eigentliche Gegenstand des Bildes, auf dem man einen offenen, mit vier Pferden bespannten und von Militär eskortierten Wagen sah, etwas sehr anderes und stellte weder die Entrée joyeuse Bummckes noch überhaupt einen Einzug, wohl aber die »Abführung der Grafen Brandt und Struensee zu ihrem ersten Verhöre« dar. Bummcke, der den Kupferstich aus einem alten Antiquitätenladen her seit lange kannte, fand sich in dem Scherze schnell zurecht oder gab sich wenigstens das Ansehen davon, was das Beste war, das er tun konnte. Er hatte nämlich, was hier eingeschaltet werden mag, die Schwäche, mit einer etwas weitgehenden Vorliebe von seiner »nordischen Reise«, der einzigen, die er überhaupt je gemacht hatte, zu sprechen und war infolge dieser Schwäche – von der er übrigens selber ein starkes Gefühl hatte – bei mehr als einer Gelegenheit nicht bloß das Opfer Jürgaßscher Neckereien gewesen, sondern hatte auch die Erfahrung gemacht, daß Stillhalten das einzige Mittel sei, denselben zu entgehen oder doch sie abzukürzen.
Das Tablett mit Port und Sherry wurde eben herumgereicht, als Bummcke, das Blatt noch einmal auseinanderrollend, mit jener Ruhe, die einem das Gefühl, seinen Gegenstand zu beherrschen, gibt, anhob: »Der arme Struensee! Ich habe die Stelle gesehen, draußen vor der Westerngade, wo sie ihm den Kopf herunterschlugen. Was war es? Neid, Ranküne und nationales Vorurteil. Ein Justizmord ohnegleichen. Er war so unschuldig wie die liebe Sonne.«
»Seine Intimitäten schienen aber doch erwiesen«, bemerkte Jürgaß wichtig, dem nur daran lag, seinen Infanteriekapitän in das geliebte dänische Fahrwasser hineinzubringen.
»Intimitäten!« entgegnete dieser, der dem Köder, trotzdem er den Haken sah, nicht widerstehen konnte. »Intimitäten! Ich versichere Ihnen, Jürgaß, alles Torheit und Verleumdung. Ich habe während meines Aufenthaltes in Kopenhagen Gelegenheit gehabt, zu Personen in Beziehung zu treten, die, passiv oder aktiv, in dem Drama mitgewirkt haben. Ein Spiel war es mit Ehre und Leben, eine blutige Farce von Anfang bis zu Ende. Das Kanonisieren ist außer Mode; hätten wir noch einen Rest davon, diese Königin Karoline Mathilde müßte heiliggesprochen werden.«
»Wenn es nicht indiskret ist, nach Namen zu fragen, woher stammen Ihre Informationen?«
»Vom Leibarzt der Königin«, sagte Bummcke.
»Nun, der muß es wissen«, erwiderte Jürgaß übermütig, »aber er schafft mit seiner Autorität die Aussagen derer, die sich selber schuldig bekannten, nicht aus der Welt. Ich appelliere vorläufig an unseren Freund Hansen-Grell. Er muß doch in seinem gräflichen Hause das eine oder das andere über den Hergang gehört haben.«
»Nein«, antwortete dieser, »das gräfliche Haus, soviel ich weiß, hatte Ursache, über den Fall zu schweigen, und ihn aus Büchern kennenzulernen habe ich versäumt. Ich muß mich überhaupt anklagen, der dänischen Geschichte, von einzelnen, weitzurückliegenden Jahrhunderten abgesehen, nicht das Maß von Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, das ihr gebührt.«
»Und wir hatten gerade«, bemerkte Tubal verbindlich, »nach Ihrer Hakon Borkenbart-Ballade, womit Sie uns am Weihnachtsabend erfreuten, den entgegengesetzten Eindruck.«
»Weil Sie aus meiner Kenntnis der halb sagenhaften Vorgeschichte des Landes allerhand schmeichelhafte Rückschlüsse auf meine gesamte dänische Geschichtskenntnis zogen. Aber leider mit Unrecht. Ich habe mehr um Dichtungs als um Historie willen im Saxo Grammaticus und in den älteren Mönchschroniken gelesen, so viel, daß ich schließlich die moderne Königin Karoline Mathilde über die alte Königin Thyra Danebod vergessen habe.«
»Thyra Danebod«, rief Jürgaß in aufrichtigem Enthusiasmus, »das ist ja ein wundervoller Name. Er tingelt etwas weniger als Kathinka von Ladalinska; aber trotzdem! Was meinen Sie, Bummcke?«
Bummcke, der sich so unerwartet an den Ladalinskischen Ballabend erinnert sah, drohte gutmütig mit dem Finger; Hansen-Grell aber fuhr fort: »Ich teile ganz den Enthusiasmus unseres verehrten Wirtes, und wenn ich auf das Gewissen gefragt würde, würd' ich bekennen müssen, aus dem Zauber dieses Namens und vieler ähnlicher so recht eigentlich die Anregung zu meinem Studium altdänischer Geschichten empfangen zu haben. Sigurd Ring und König Helge, Ragnar Lodbrok und Harald Hyldetand entzückten mich durch ihren bloßen Klang, und sooft ich dieselben höre, ist es mir, als teilten sich die Nebel und als sähe ich in eine wundervolle Nordlandswelt, mit klippenumstellten Buchten, und vor ihnen ausgebreitet das blaue Meer und hundert weißgebauschte Segel am Horizont.«
»Es ist der fremde Klang, der unser Ohr gefangennimmt«, bemerkte Hirschfeldt, der sich von Spanien her ähnlich bestechender Namenseindrücke entsinnen mochte, und Lewin und Tubal stimmten ihm bei.
»Gewiß«, fuhr Hansen-Grell fort, »dieser Fremdklang ist von Bedeutung. Aber es ist, über denselben hinaus, doch schließlich ein anderes noch, was diesen altdänischen Namen ihren eigentümlichen Zauber leiht. Es spricht sich nämlich in ihnen jene der Sprichwörterweisheit der Völker verwandte Begabung aus, Menschen, Erscheinungen, ja ganze Epochen in einem einzigen Beiwort zu charakterisieren. Die Kraft in der Knappheit, das Viel im Wenigen, da haben wir den Schlüssel zum Geheimnis.«
Bummcke geriet in Aufregung, so sehr, daß er – was sonst nicht seine Sache war – den Château d'Yquem mit ablehnender Handbewegung an sich vorübergehen ließ und zu Hansen-Grell, wie zu einem Herzensvertrauten, hinüberrief: »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sprichwörterweisheit sagten Sie, ganz richtig. An den König Erichs, wenigstens an den ersten sechs oder sieben, läßt es sich am besten zeigen: Erik Barn, Erik Ejegod, Erik Lam, Erik Plopenning, Erik Glipping. Ich verbinde mit jedem ein Bild, eine Vorstellung, besonders mit dem Plopenning und dem Glipping. Glipping, das heißt soviel wie ›Augenplink‹ oder der ›Wimperer‹. Und wirklich, es ist zum Lachen, aber ich sehe ihn vor mir, wie er mit dem rechten Augenlide immer hin und her zwinkert.«
Jürgaß warf sich in den Stuhl zurück und sagte während eines Hustenanfalls, der sich vor lauter Heiterkeit nicht legen wollte:
»Das ist denn doch das kapitalste Stück von Fremdlandsenthusiasmus, das mir all mein Lebtag vorgekommen ist. König Wimperer, ich grüße dich.«
»Wenn Sie mehr von ihm wüßten, Jürgaß, so würden Sie dieser bedeutenden Figur mit mehr Respekt begegnen. Er war ein guter König und wurde zu Viborg mit sechsundfünfzig Stichen ermordet.«
»Nicht mehr wie billig. Warum hat er gewimpert? Ich greife mit dem Champagner um zwei Gänge vor. Es lebe Erik Glipping!«
»Er lebe, er lebe!« und die Gläser klangen zu Ehren des alten Dänenkönigs zusammen. Hansen-Grell aber, ehe noch der Übermut sich völlig gelegt hatte, sagte: »Halten Sie es der Pedanterie eines Kandidaten und Schulmeisters zugute, wenn er von seinem Thema nicht los kann, ich verspreche aber, kurz zu sein.«
»Kurz oder lang, Grell, Sie sind immer willkommen.«
»Gut, ich akzeptiere. Unseres verehrten Hauptmanns Vorliebe für König Glipping und, wenn ich mich so ausdrücken darf, die plastische Gegenständlichkeit, mit der er uns denselben vorzuführen verstand, hat uns auf einen Schlag die goldenen Tore der Heiterkeit aufgeschlossen, ich muß aber doch noch einmal ins Ernste zurück. In unserer neueren Geschichte, soweit sie uns von Kaisern und Königen erzählt, ist jetzt die Zahl in Mode gekommen; der Erste, Zweite, Dritte, auch der Vierzehnte und Fünfzehnte; die Zahl gilt, und mit ihr das Nüchternste, das Unpoetischste, das Charakterloseste, das es gibt. Demgegenüber stehen meine alten skandinavischen Königsnamen, nach Klang und Inhalt, ich betone, auch nach Inhalt, auf dem Boden der Poesie, und das ist es, was sie mir so wert macht. Epigrammatischer als ein Epigramm, ist mancher dieser Namen doch zugleich wie ein Gedicht, rührend oder ergreifend, je nachdem. Urteilen Sie selbst. Ich will nur zwei nennen: Olaf Hunger und Waldemar Atterdag! Ist es möglich, Personen und Epochen in einem einzigen Worte schärfer und eindringlicher zu zeichnen? Es vergißt sich nie wieder. Olaf war ein guter König, aber das Land siechte hin an Mißernten und böser Krankheit, und weder seine Gebete noch sein ausgesprochener Wille, sich für das Volk zum Opfer zu bringen, konnten den Unsegen tilgen oder gar in Segen verwandeln. Und so bedeutet dieser König, auf den Blättern der dänischen Geschichte, eine Zeit des Fluchs, von Not und Tod, und sein gespenstisches Bild trägt unverschuldet die furchtbare Unterschrift: Olaf Hunger.«
»Und hält uns eine Fastenpredigt bei unserem Frühstück! Lassen Sie ihn fallen, Grell. Was ist es mit dem andern?«
»Er steht da wie sein Gegenstück.«
»Gott sei Dank!«
»Er war schön und siegreich und liebte die Frauen.«
»A la bonne heure.«
»Aber mehr als das, er war auch heiter und gütig. In jungen Jahren hatten ihn eigene Leidenschaft und anderer Rat zu hitzigen Taten fortgerissen; als er aber ein Mann geworden war, da reute ihn die Raschheit seiner Jugend, und er schwur es sich, nichts Hartes und Strenges mehr aus dem Moment heraus tun zu wollen. Umdrängten ihn seine Hofleute und forderten einen schnellen Spruch von ihm, wohl gar Tod, so machte er eine leichte Bewegung mit Kopf und Hand und sagte nur: ›Atterdag‹. Das heißt: Andertag. Und ein Füllhorn reicher Gnade quoll aus dem einen Wort, und ›Atterdag‹ hat einen guten Klang in Dänemark bis diese Stunde.«
»Das ist mein Mann, Grell. Atterdag! Und Sie haben recht, da haben wir Klang und Inhalt. Sie decken einander. Ich seh' ihn vor mir, so deutlich wie Bummcke den Glipping sah. Aber mein Atterdag zwinkert nicht. Er hat ein wundervolles blaues Auge, und hinter ihm her ziehen endlose Hochzeitszüge, und die Fahnenschwenker werfen ihre Stöcke bis hoch in den Himmel hinein. Lassen Sie den Fasan noch einmal herumgehen, Tubal, das sind wir dem Atterdag schuldig und dem Olaf Hunger erst recht.«
Das Gespräch ließ nun die Dänenkönige fallen, bald Skandinavien überhaupt, und nur Bummcke machte noch einen herkömmlichen Versuch, von Kopenhagen aus in Aalborg zu landen, um dann, quer durch Jütland hin, den großen Limfjord zu befahren. Dies war seine Lieblingstour, weil er in elf Gesellschaften von zwölf darauf rechnen durfte, sie allein gemacht und somit unangefochten das Wort zu haben. Aber dieses Vorzuges ging er heute verlustig, und kaum daß er in ziemlich sentimentalen Ausdrücken von dem »Klageton« und dem »Wehmutsschleier« der nordjütischen Landschaft gesprochen hatte, als ihm auch schon der Widerspruch Grells hart auf der Ferse war, der, der hunderttausend wie weiße Nymphäen auf dem Limfjord schwimmenden Möwen ganz zu geschweigen, nie ein smaragdgrüneres Wasser und nie einen azurblaueren Himmel gesehen haben wollte.
»Nichts Gewöhnlicheres als ein solcher Gegensatz empfangener Eindrücke«, nahm von Meerheimb das Wort, »und es bedarf nicht einmal zweier Personen, um Widersprüchen wie diesen zu begegnen; wir finden sie in uns selbst. Was wir die Stimmung der Landschaft nennen, ist in der Regel unsere eigene. Lust und Leid färben verschieden. Als wir auf der Smolensker Straße zogen und in die Nähe der alten russischen Hauptstadt kamen, war es uns, als marschierten wir unter einem Regenbogen, und überall, wohin wir blickten, stiegen, wie durch Spiegelung, die goldenen Kuppeln Moskaus vor uns auf. Unsere Sehnsucht sah sie, lange bevor sie sich wirklich in dem Nebelduft des Horizontes abzeichneten. Das war um die Mitte September. Und vier Wochen später zogen wir wieder dieselbe Straße. Der Rückzug hatte begonnen. Es war noch nicht kalt, und die Oktobersonne schien nicht weniger hell, als die Septembersonne geschienen hatte, aber rings umher lag Öde und Einsamkeit, und die Flüsse, statt mit uns zu plaudern, schienen hinzuschleichen wie die Wasser der Unterwelt. Das Land war nicht verändert, aber wir.«
Jeder stimmte bei, selbst Jürgaß, der nur den Strich zwischen Neustadt und Gantzer ausnahm, von dem er versicherte, immer denselben Eindruck empfangen zu haben. Welchen? darüber schwieg er, entweder aus Vorsicht oder weil er die sich gerade jetzt bequem darbietende Gelegenheit zu einer noch ausstehenden Ansprache nicht unbenutzt vorübergehen lassen wollte.
»Herr von Meerheimb«, so hob er an, während er mit dem Messerrücken an das Glas klopfte, »hat uns soeben über die Felder von Moshaisk oder ihnen nahegelegener Territorien geführt, nicht in breiter Schilderung, sondern diskursive, wenn ich mich so ausdrücken darf, in landschaftlichen Aperçus, in gegensätzlichen Stimmungsskizzen. Ich erinnere Sie daran, daß uns die vorgerückte Stunde der letzten Kastaliasitzung um einen Vortrag brachte, der, wenn ich recht unterrichtet bin, sich auf denselben Feldern von Moshaisk bewegt, freilich nur um auf ebendiesen Feldern sehr andere Bilder als die Kuppeln von Moskau, die wirklichen oder die visionären, vor unseren Blicken aufsteigen zu lassen. Und so erlaube ich mir, an unseren verehrten Gast die Frage zu richten, ob es ihm genehm sein würde, das in erwähnter Sitzung Versäumte nachzuholen und vor diesem engeren Kreise den uns zugedachten Abschnitt aus seinem Tagebuche zu lesen?«
Von Meerheimb verneigte sich und sagte dann: »Ich gehorche gern Ihrer freundlichen Aufforderung, sosehr ich auch, ganz in Übereinstimmung mit Herrn von Hirschfeldt, der mir darüber nach der letzten Kastaliasitzung seine Konfessions gemacht hat, das Mißliche solcher Vorlesungen fühle. Dies Mißliche wird dadurch nicht vermieden, daß man auf die Mitteilung aller persönlichen Heldentaten – ein Wort, das ich zu nehmen bitte, wie es gemeint ist – Verzicht leistet. Man bleibt eben ein Teil des Ganzen, und indem man dieses feiert, feiert man wohl oder übel sich selber mit. Keine Darstellung großer Vorgänge, bei denen man zugegen war, wird dies vermeiden können, auch die dezenteste nicht, und jeder, der es dennoch wagt, ist auf die besondere Nachsicht seiner Hörer angewiesen. Dieser Nachsicht bin ich bei Ihnen sicher. Im übrigen bitte ich, trotz des Bannes, unter dem in diesem Kreise die Vorreden stehen, noch vorweg bemerken zu dürfen, daß ich nur Erlebtes, also im Hinblick auf den großen Vorgang nichts Vollständiges gebe. Einzelnes, was jenseits des persönlich Erlebten liegt, ebenso wie die Namen von Ortschaften und Personen verdanke ich den Mitteilungen und Aufschlüssen gefangener russischer Offiziere, mit denen ich später im Smolensker Lazarette lag. Und nun habe ich geschlossen und ersuche unseren verehrten Wirt in jedem Momente, der ihm passend scheint, über mich zu verfügen.«
»Nehmen wir den Kaffee«, damit hob Jürgaß die Tafel auf und schritt, Herrn von Meerheimb den Arm bietend, in das Wohnzimmer voran.
Hier waren inzwischen alle Vorbereitungen getroffen und, trotzdem es noch früh war – nach vorgängiger Schließung der schweren Fenstergardinen –, die kleinen mit Kristallglas gezierten Wandleuchter angezündet worden. In dem blanken englischen Kamin, der als Schmuckstück der Wohnung in den großen Ofen hineingebaut worden war, brannte ein helles Feuer, und um den Sofatisch herum, den ein golddurchwirktes türkisches Tuch bedeckte, standen an den freigebliebenen Seiten hohe Lehnstühle und gepolsterte Sessel. Der Kaffee wurde serviert, und während Wirt und Gäste um den Tisch her Platz nahmen, rückte sich von Meerheimb einen Doppelleuchter zurecht und las »Borodino«.