Theodor Fontane
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Vierundzwanzigstes Kapitel
Salve caput
Es war zwölf Stunden später; die helle Mittagssonne stand über Hohen-Vietz, und es taute von allen Dächern. Auch das Eis, das stumpf geworden an den Rädern von Miekleys Mühle hing, blitzte wieder durchsichtig und kristallen, und die Tauben saßen auf Kniehases langem Scheunenfirst. Alles war licht und heiter, und ein erstes Frühlingswehen ging durch die Natur.
Und in hellem Sonnenscheine lag auch das Herrenhaus. Wer aber von der Auffahrt her einen Blick auf den Vorplatz und die lange Reihe der Fenster geworfen hätte, der hätte doch wahrnehmen müssen, daß es ein Trauerhaus sei oder, schlimmer als das, in jedem Augenblicke ein solches zu werden drohe. Über den Damm hin war eine dichte Strohlage gebreitet, und hinter den Scheiben wurde niemand sichtbar. Auch nicht hinter der Glastüre der Halle. Alles wie ausgestorben. Nur die Sperlinge waren guter Dinge; sie saßen in Scharen auf dem ausgestreuten Stroh und pickten die verlorenen Körner. Ihr Zwitschern war der einzige Ton, der in der tiefen Stille laut wurde.
Zwölf Stunden lagen zurück, und nur eine Minute vollen Glücks und höchster Freude hatten sie gebracht: die Minute, wo nach der ersten Begrüßung mit der Schwester das in Jubel und Tränen ausbrechende Wiedersehen zwischen Lewin und Marie auch zugleich ihr Verlöbnis bedeutet hatte. Und ein Verlöbnis, wie Menschenaugen kein schöneres gesehen. Denn es war nur gekommen, was kommen sollte; das Natürliche, das von Uranfang an Bestimmte hatte sich vollzogen, und Berndt selber, tiefbewegt in seinem Herzen, hatte sich des Glückes der Glücklichen gefreut.
Aber welch andere Minuten dann, als eine kleine Weile später der zweite Schlitten vorgefahren war und Krist und Pachaly den auf Betten und Kissen gelegten Tubal langsam und leise treppauf getragen hatten. Und auch Hektor hatte mit hinauf gewollt; aber gleich an der ersten Treppenstufe hatte seine Kraft versagt, und er war den schmalen Küchenkorridor entlang bis an seine Binsenmatte zurückgekrochen. Da lag er nun und schob sich näher an die warme Wandstelle hinter dem Herde; denn ihn fror.
Um elf Uhr war Doktor Leist von Lebus gekommen. Er stieg – so geräuschlos es seine Gewohnheit und seine Schneestiefel zuließen – in den oberen Stock hinauf und trat hier in das Krankenzimmer ein, in dem die Vorhänge, der prall auf die Fenster stehenden Morgensonne halber, dicht geschlossen waren. »Wir müssen Licht haben«, sagte er und schob eine der Gardinen beiseite.
Nun erst sah er Tubal. Dieser hatte heftige Schmerzen, ertrug aber ohne Zucken das Sondieren seiner Wunde, trotzdem eine »leichte Hand« nicht gerade das war, worüber Doktor Leist Verfügung hatte.
»Brav, junger Herr, das nenn' ich tapfer ausgehalten.«
»Was ist es?« fragte Tubal.
»Ein häßlicher Fall; Perforation der Milz. Aber was ist die Milz? Das Überflüssigste, was der Mensch hat. Es gibt welche, die sie sich ausschneiden lassen. Und Jugend überwindet alles. In vier Wochen setzen wir uns hier ans Fenster, zählen die Dohlen auf dem Kirchendach und rauchen eine Pfeife Tabak. Sie rauchen doch, junger Herr?«
Tubal verneinte.
»Nun, dann spielen wir Patience oder Mariage.«
»Patience.«
Der alte Leist streichelte dem Schwerverwundeten die Hand.
»Das ist recht; immer Kopf oben und bei Laune geblieben. Gute Laune heilt und ist das beste Pflaster.«
Und darnach stieg er wieder treppab, um unten in Berndts Arbeitskabinett über den Befund seiner Untersuchung zu berichten.
»Nun, Doktor?« fragte Vitzewitz.
Der alte Leist zuckte die Achseln. »Er muß sterben.«
»Keine Rettung?«
»Nein; es war ein Schrägschuß, und das sind immer die schlimmsten. Alles durch: Lunge, Leber. Und zum Überfluß auch noch die Milz.«
»Und wie lange dauert es noch?«
»Wenn's hoch kommt, bis diese Nacht. Es ist heute sein letzter Tag, und morgen hat er es hinter sich. Wenn Sie seinem Vater, dem Geheimrat, noch Nachricht geben wollen, so ist es höchste Zeit. Freilich... doch zu spät. Er trifft ihn nicht mehr, und wenn er Flügel der Morgenröte nähme. Und das sind die schnellsten, wenn ich meinen Psalm recht verstehe.«
»Dann wollen wir es abwarten. Besser, er erfährt das Ganze als das Halbe.«
Leist nickte.
»Ach, Doktor«, fuhr Berndt fort, »welche Tage das! Um Lewin zu retten, dieser Preis. Wie soll ich dem Vater unter die Augen treten! Der einzige Sohn, nein, mehr... das einzige Kind!«
Berndt stützte seinen Kopf in die Hand und sagte dann nach einer Weile: »Was haben Sie verordnet?«
»Nichts.«
»Und was geben wir ihm, wenn er etwas will?«
»Alles.«
»Ich verstehe. Und wann kommen Sie wieder? Am Nachmittag oder gegen Abend?«
»Ich bleibe«, sagte der Alte und ging dann, da nichts mehr zu sagen war, zu Bamme hinüber, den er von Guse her kannte. Und das traf sich gut für beide. Sie setzten sich alsbald an den Ofen und rauchten sich durch ein paar Stunden durch, unerschöpflich in ihrem Diskurse, der bei Tubal begann und bei Hoppenmarieken endete. Diese war am Morgen auf demselben Prellstein, auf dem Berndt sie hatte sitzen sehen, tot vorgefunden worden. Ob erfroren oder vom Schlage getroffen, hatte sich durch Pachaly, der auch dokterte, nicht feststellen lassen, und auch Leist bezeigte keine Lust, den Ursachen ihres Ablebens wissenschaftlich nachzuforschen. Sie war tot, und das genügte. Von Zeit zu Zeit ging er treppauf, um dem Verwundeten, wenn dieser über Schmerzen klagte, von seiner »Crocata« zu verabreichen, deren Überlegenheit über die »Simplex« er bei dieser Veranlassung wieder in enthusiastischen Ausdrücken pries, bis er – als es ihm endlich geglückt war, unter Anwendung dieses Opiats einen schmerzensfreien Zustand herzustellen – auch für sich persönlich den Zeitpunkt für gekommen erachtete, wieder freier aufzutreten und sich eines Café au Cognac zu versichern. Jeetze brachte das Verlangte, Bamme nahm teil, und immer seltner ein ernstes Gesicht aufsetzend, einigten sich schließlich beide dahin, im ganzen genommen seit längerer Zeit keinen so gemütlichen Nachmittag verplaudert zu haben.
Und nun kam der Abend. In dem Eckzimmer war alles versammelt, nur Renate hatte sich zurückgezogen. Man sprach über gleichgültige Dinge, als Jeetze, der sich mit Lewin und der Schorlemmer in den Krankendienst teilte, eintrat und meldete, daß der junge Herr Tubal nach dem Herrn Rittmeister verlangt habe.
Hirschfeldt ging hinauf. Eine Lampe mit einem kleinen grünen Schirm brannte und gab ein spärliches Licht.
»Ich habe Sie bitten lassen, Hirschfeldt«, sagte Tubal. »Es ist so dunkel, aber ein Stuhl wird ja wohl zu finden sein. Bitte, hierher.«
Hirschfeldt tat, wie ihm geheißen, und setzte sich an das Bett.
»Ich sterbe, Freund. Cito mors ruit.«
Hirschfeldt wollte antworten.
»Nein, keine Versicherungen vom Gegenteil... Ich fühle es, und wenn ich es nicht fühlte, so würd' ich es aus jedem Worte des alten Leist heraushören können. Er versteht sich schlecht auf Verstellung und hat einen Gemütlichkeitston, in dem die Sterbeglocken immer mitklingen. Und am Ende, was tut es? Früher oder später!«
»Sie regen sich auf, Tubal«, sagte der Rittmeister. »Ich glaube, daß Ihnen der Alte die Wahrheit gesagt hat. Ihnen und uns.«
Der Kranke schüttelte den Kopf.
Hirschfeldt aber fuhr fort: »Sie werden leben, und Sie wollen auch leben, Tubal. Es ist niemand, der gern aus dieser Welt scheidet. Nur die Müden ausgenommen.«
»Ich bin müde. Aber lassen wir das. Ich habe nur noch wenig Stunden. Bitte, lassen Sie mich trinken. Wein; dort. Der Alte hat es erlaubt, er hat alles erlaubt.«
Hirschfeldt gab ihm.
»Und nun hören Sie mich. Ich habe zwei Wünsche. Sorgen Sie, daß ich in die Kirche hinaufgeschafft werde, so bald wie möglich. Ich will dort vor dem Altar stehen.«
Das Sprechen griff ihn sichtlich an. Als er aber getrunken und das Glas wieder beiseitegesetzt hatte, fuhr er in ruhigerem Tone fort: »Das ist eins. Und nun das andere. Ich möchte hier bestattet sein. Aber nicht in der Gruft, in der ich vielleicht unruhig werden würde wie das Fräulein von Gollmitz, die wieder heraus wollte. Nein, fest in Erde.«
Er schwieg eine Weile und setzte dann unter schmerzlichem Lächeln hinzu: »Sie sehen mich an, Hirschfeldt, als ob ich im Fieber spräche. Nein, ich fiebere nicht. Aber das von dem Fräulein, das müssen Sie sich erzählen lassen, von Renate oder von Marie. Ja, von Marie, die hat es mir erzählt. Also nicht in die Gruft. Und nun schicken Sie mir den Doktor, ich will mich noch einmal trösten lassen. Die Schmerzen kommen wieder, und sein Opium ist mein bester Trost.«
Hirschfeldt ging, um den alten Leist hinaufzuschicken. Dieser verordnete dem Kranken eine neue Dosis von seiner »Crocata«, sprach eingehend von »Anno zweiundneunzig« und der Kanonade von Valmy und schloß nicht bloß mit der Versicherung, daß in höchstens sechs Wochen alles wieder in Ordnung sein würde, sondern empfahl ihm auch aufs ernsthafteste, bei der bevorstehenden Reise nach Breslau lieber in Sagan als in Sorau übernachten zu wollen. Er machte dies so gut und so geschickt, daß Tubal einen Augenblick über seine wirkliche Lage getäuscht wurde.
Aber nicht auf lange. Denn in der Tat, es ging rasch zu Ende, rascher noch, als der alte Doktor erwartet hatte. Um acht kam Seidentopf, und die Schorlemmer ging jetzt nach oben, um den Kranken zu fragen, ob er den »alten Freund des Hauses« vielleicht noch sprechen wolle; sie wollte nicht sagen: »den Geistlichen«.
Tubal lächelte und verneinte, trotzdem er ein Trostbedürfnis und eine rechte Sehnsucht nach Erhebung fühlte; aber er empfand auch, daß Seidentopf ihm nicht geben könne, wonach er verlangte.
Eine halbe Stunde später stellten sich Phantasien ein: er sprach von der Mutter Gottes, die das Jesuskindlein habe fallen lassen; dann bat er, daß sie mit dem Trommeln und Blasen aufhören möchten, und zuletzt richtete er sich auf und sagte: »Nein, nein, das soll nicht sein; Hektor, das treue Tier.«
Aber plötzlich war es, als würd' er wieder klar; er verlangte zu trinken, und gleich darauf bat er die Schorlemmer, ihm Renate zu rufen.
»Und den Doktor?«
»Nein, den nicht. Er lügt mit jedem Wort, und seine Tropfen lügen auch. Ich will von beiden nicht mehr. Renate soll kommen.« Und Renate kam.
Als sie da war, war aus allem zu sehen, daß er mit ihr allein sein wollte, und die Schorlemmer verließ das Zimmer.
»Setze dich zu mir, Renate«, sagte der Kranke. »Ich will Abschied von dir nehmen.«
Sie brach in krampfhaftes Weinen aus, warf sich auf die Knie und barg ihr Haupt in die Kissen.
»Nicht doch; mach' es mir nicht so schwer. Ach, du weißt nicht wie schwer. Und du sollst es auch nicht wissen. Nie, ich hoffe nie... Ach, Renate, das Scheiden ist doch bitterer, als ich dachte, und nur eines ist, das mich tröstet: es war nichts Rechtes mit mir, und ich hätte dich nicht glücklich gemacht.«
Sie wollte antworten, aber er fuhr abwehrend fort: »Sage nichts, sage nicht nein. Ich weiß es besser. Denn was gibt Glück uns und andern? Fest sein und stetig sein, stetig sein im Guten. Und wir waren immer unstet, alle, alle. Auch mein Vater war es. Land, Glauben, Freunde gab er hin. Und warum? Einem Einfall zuliebe. Und wir haben nichts Gutes davon gehabt.«
»Verklage dich nicht, mein Geliebter. Ach, Tubal, um was stirbst du jetzt? Um Lieb' und Treue willen. Ja, ja. Erst galt es Lewin, und dann, als er gerettet war, da dauerte dich die arme Kreatur, die verlassen dalag und vor Schmerz und Jammer aufwinselte, und du stirbst nun, weil du dich des treuen Tieres erbarmtest.«
»Ja, Mitleid hatt' ich! Das hatt' ich immer, Mitleid und Erbarmen. Und vielleicht auch, daß meiner ein Erbarmen harrt, um meines Erbarmens willen. Ich kann es brauchen; jeder kann es. Und in der letzten Stunde tut es wohl, etwas von diesem Ankergrund zu haben... Ich entsinne mich eines langen Liedes, das ich in der Predigerstunde bei dem alten Oberkonsistorialrat lernen mußte; ich hatte keinen Sinn dafür, aber eine Strophe gefiel mir; die war schön.«
»Welche? Sprich sie, oder willst du, daß ich sie spreche?«
»Es war etwas von Tod und Sterben und von Christi Beistand in der Scheidestunde.«
Renate hatte seine Hand genommen und sprach jetzt, ohne weiter zu fragen, mit leiser, aber fester Stimme vor sich hin:
»Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Soll ich den Tod erleiden,
Tritt du für mich herfür;
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Reiß mich aus meinen Ängsten,
Kraft deiner Angst und Pein.«
Tubal hatte sich aufgerichtet.
»Ja, das ist es.«
Er schien noch weitersprechen zu wollen, sank aber, immer matter werdend, in die Kissen zurück und begann unruhig und hastig, wie die Sterbenden tun, an seiner Bettdecke herumzuzupfen. Dabei war es, als ob er in seiner Erinnerung nach etwas suche.
Endlich hatte er es und fuhr in abgerissenen Sätzen fort: »Es war noch früher, viel früher, und wir waren noch in der alten Kirche, da sagte mir der Kaplan ein lateinisches Lied vor. Und als Ostern herankam, da mußt' ich es hersagen vor meinem Vater und vor meiner Mutter und vor Graf Miekusch. Und meine Mutter lachte, weil sie das Lateinische nicht verstand. Aber mein Vater war ernst geworden und Graf Miekusch auch.«
Er schwieg eine Weile, und Renate sah bang auf ihn.
»Das ist nun zwanzig Jahre«, fuhr er fort, »oder noch länger, und ich hatt' es vergessen. Aber nun hab' ich es wieder:
Salve caput cruentatum
Totum spinis coronatum
Conquassatum, vulneratum
Facie sputis illita...«
Er hatte sich bei jeder neuen Zeile mehr und mehr erhoben und starrte mit einem Ausdruck, als ob er etwas sähe, auf den Wandpfeiler zu Füßen seines Bettes. Und ein Lächeln, in dem Schmerz und Erlösung miteinander kämpften, verklärte jetzt sein Gesicht.
»Kathinka hatte recht... aber nun ist es zu spät... Salve caput cruentatum...« Es waren seine letzten Worte.
Er sank in die Kissen zurück, und seine Augen schlossen sich für immer.