Theodor Fontane
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Sechzehntes Kapitel
Kathinka
Die Wintersterne, die während der Lehniner Rückfahrt so funkelnd am Himmel gestanden hatten, hatten einen hellen Tag versprochen, und dieser helle Tag war nun da. Die Sonne, wo sie scharf hinfiel, schmolz den Schnee von den Dächern, und als sie gegen Mittag ihren höchsten Stand beinahe erreicht hatte, sah sie scharf an dem Nikolaikirchturm vorbei in Kathinkas Zimmer hinein. Es war ein so blendendes, in steiler Schrägung einfallendes Licht, daß das grüne Rouleau bis zur Hälfte des hohen Fensters hatte herabgelassen werden müssen, aber auch jetzt noch hatte jeder Gegenstand eine volle Beleuchtung, und diese war es, die samt den mit frischen Hyazinthen besetzten Blumentischen den anheimelnden Eindruck unterstützte, den das sorglich gehaltene Zimmer zu jeder Zeit zu machen pflegte. Einiges in seiner Einrichtung war während der letzten zwei, drei Tage geändert worden. Vor dem Sofa, auf dem an jenem Abende, wo die Lehniner Partie verabredet worden war, die alte Exzellenz gethront und nach anfänglicher Kriegführung mit beinahe jedem Mitgliede der Gesellschaft schließlich ihren Frieden mit allen geschlossen hatte, fehlte heute der runde Tisch, über den hin damals der Streit der Meinungen gegangen war, und nur ein großer Teppich lag statt dessen an ebendieser Stelle ausgebreitet, ein Musterstück Brüsseler Weberei, auf dem Frau Venus mit ihrem Taubengespann durch die Lüfte zog. Es war derselbe Teppich, dessen durch Farbenpracht ausgezeichnetes Bild unsren Freund Lewin auf seiner Weihnachtsfahrt nach Hohen-Vietz, wo wir zuerst seine Bekanntschaft machten, bis in seine Träume hinein begleitet hatte. Denn sein letzter Besuch an jenem Tage hatte dem Ladalinskischen Hause gegolten.
Das lag nun einen Monat zurück, und heute war es das Auge Kathinkas, das sich vom Sofa her auf dieses Teppichbild richtete. Aber sie sah es, ohne es zu sehen, denn vor ihrer Seele standen andere Bilder, bunt und lachend, und doch ein tiefer Schatten darüber hin. Was war es, das diesen Schatten warf?
Es schien, daß jemand von ihr erwartet wurde, wenigstens horchte sie von Zeit zu Zeit nach der Türe hinüber. Aber es blieb still, und in wachsender Unruhe erhob sie sich endlich und schritt auf die Blumentische, dann auf den Stehspiegel zu, um das eine oder andere an ihrem Anzuge zu ändern. Es war eine Morgentoilette, ähnlich jener, die sie am Tage ihrer Rückkehr aus Guse während ihres Gesprächs mit dem Vater getragen hatte: ein weißbordierter, dunkler Morgenrock mit Pelerine und großen, birnenförmigen Schnurösen, die in weiße Perlmutterknöpfe einhakten. Niemand würde das Geringste an ihrer Erscheinung vermißt haben, nur sie selber schien nicht zufrieden, ordnete ihr Haar immer wieder und wechselte mit dem Musselintuch, das sie leicht geknüpft um den Hals trug. Dann ging sie wieder auf das Sofa zu, warf sich in die eine Ecke desselben und legte den Fuß auf ein Taburett, das sie schon vorher auf den Teppich gestellt hatte. In der Ecke lag ein Buch. Sie schlug es auf und versuchte zu lesen; aber umsonst, sie konnte ihre Aufmerksamkeit nicht zwingen.
In diesem Augenblicke trat der Graf unangemeldet ein, und sie zog den Fuß von dem Kissen, ohne sonst ihre Haltung zu ändern. Es schien, daß sie sich an demselben Morgen schon gesprochen hatten; kein Wort der Begrüßung wurde laut. Er trat an sie heran und küßte ihr die Hand.
»Und was bringst du?« fragte sie mit wiedergewonnener Ruhe.
»Die Entscheidung.«
»So sprich, erzähle«, fuhr sie fort, während sie mit dem Zeigefinger auf die Fingerspitzen ihrer linken Hand tupfte. »Ich weiß alles und will es doch von dir hören. Wie verlief es? Ich hoffe, daß dich nichts verletzt hat, kein Wort, keine Miene.«
»Nein«, antwortete der Graf, indem er sich auf das Taburett setzte und Kathinkas Hand in seine Linke nahm. »Er hörte mich ruhig an. Als ich geendet, legte er das Elfenbeinmesser, mit dem er nach seiner Gewohnheit spielte, beiseite und sagte, ich glaube wörtlich: ›Ich bin nicht überrascht, Graf; ich habe diesen Antrag erwartet, offengestanden gefürchtet. Sie wissen ohne Versicherung, daß sich diese Bemerkung nicht gegen Ihre Person richtet. Ihnen den vollkommensten Beweis davon zu geben, wäre leicht, wenn ich nicht Punkte dabei berühren und Bedingungen stellen müßte, die Sie nach einer andern Seite hin verletzen und Ihre Zustimmung nie finden würden.‹«
Kathinka lächelte.
»Das alte Lied«, sagte sie.
»Ja«, fuhr Bninski fort, »er will mit Polen, mit unserem Lande, ein für allemal gebrochen haben, und daß ich es kurz mache, er schloß damit, daß eine Verbindung zwischen uns aus zwei Gründen untunlich und, wie er glaube, unmöglich sei: des Hofes halber und seiner Erinnerungen halber. Das letztere begreif ich, das erstere nicht.«
»Und doch ist beides in einem Zusammenhang«, antwortete Kathinka, »dies Zugeständnis sind wir ihm schuldig. Er bedarf des Hofes. Weil er die Brücken abgebrochen und sich und uns, sei es mit Recht oder Unrecht, aus dem heimischen Boden in einen fremden verpflanzt hat, kann er besonderer günstiger Bedingungen nicht entbehren, um in dem fremden Boden aufs neue Wurzel zu schlagen. Unter diesen günstigen Bedingungen aber, wie ich dir nicht erst zu sagen brauche, steht der Sonnenschein des Hofes obenan.«
»Vielleicht«, sagte Bninski, »oder meinetwegen auch gewiß. Es bleibt schließlich doch, wie es ist, und ich fass' es nicht, warum er gerade diesen Boden wählte. Und daß er ihn wählte, das entscheidet nun über uns. Denn was er anzudeuten schien, einen Friedensschluß auch meinerseits mit diesem Lande zu machen, nie, nie, Kathinka. Auch nicht um dich.«
Er blieb stehen und schlug heftig die Finger ineinander. Dann, als ob er sich die Verkehrtheit des alten Ladalinski in einer Art Selbstgespräch klarzumachen suche, sprach er vor sich hin: »Was zog ihn nur hierher? Gerade ihn? Es bleibt ein Rätsel und ein Widerspruch. Denn er hat einen Überschuß von jenem Edelsinn, dessen gänzliches Fehlen in diesem Lande mir dieses Land so widerwärtig macht. Er ist großer Opfer und großer Entschlüsse fähig, und selbst der unheilvolle Schritt, der ihn in die Selbstverbannung trieb, trägt immer noch den Stempel der Entsagung an der Stirn. Und was herrscht nun hier? Der Vorteil, der Dünkel, die großen Worte!«
»Auch du singst dein altes Lied«, sagte Kathinka.
Aber Bninski hörte nicht, und ohne die Stellung zu wechseln, fuhr er in wachsender Erregung fort: »Er ist ein Pedant. Da war er freilich hier am Ort. Denn alles, was hier in Blüte steht, ist Rubrik und Formelwesen, ist Zahl und Schablone, und dazu jene häßliche Armut, die nicht Einfachheit, sondern nur Verschlagenheit und Kümmerlichkeit gebiert. Karg und knapp, das ist die Devise dieses Landes. Ich war noch ein Kind, da las ich auf der Krakauer Schule von den Alten-Fritzischen Grenadieren, daß sie Westen getragen hätten, die gar keine Westen waren, sondern nur rote dreieckige Tuchstücke, die gleich an den Uniformrock angenäht waren. Und wahr oder nicht, diese dreieckigen Tuchlappen, ich sehe sie hier in allem, in Kleinem und Großem. Angenähtes Wesen, Schein und List, und dabei die tiefeingewurzelte Vorstellung, etwas Besonderes zu sein. Und woraufhin? Weil sie jene Rauf- und Raublust haben, die immer bei der Armut ist. Nie ist es satt, dieses Volk; ohne Schliff, ohne Form, ohne alles, was wohltut oder gefällt, hat es nur ein Verlangen: immer mehr! Und wenn es sich endlich übernommen hat, so stellt es das Übriggebliebene beiseite, und wehe dem, der daran rührt. Seeräubervolk, das seine Züge zu Lande macht! Aber immer mit Tedeum, um Gott oder Glaubens oder höchster Güter willen. Denn an Fahneninschriften hat es diesem Lande nie gefehlt.«
»Ich erkenne dich nicht mehr«, unterbrach ihn Kathinka. »Du sprichst dich aus dem Recht in das Unrecht hinein. Du fühlst selbst die Übertreibung, zu der dich Vorurteil und Bitterkeit fortreißen.«
»Nein, ich übertreibe nicht. Ich lese nur die Rückseite der Medaille, weil ich sie lesen will. Mag ein anderer sie wieder umkehren und sich an der obenaufliegenden Herrlichkeit erfreuen, Bild oder Schrift, ich bin es zufrieden. Es mag etwas Großes damit sein, nur nicht für mich und auch nicht für ihn«, und dabei wies er mit der Linken nach dem an der entgegengesetzten Seite des Hauses gelegenen Zimmer des Geheimrates hinüber. »Auch nicht für ihn, sag' ich, denn er ist Pole vom Wirbel bis zur Zeh'. Er täuscht mich nicht mit seiner loyalen Preußenmiene. Preußen! Warum gerade Preußen, das uns zuerst um dreißig Silberlinge verschacherte. Jetzt ist es freilich selber an die Kette gelegt; aber auf wielange?... Preußen! Preußen! Warum nicht Frankreich? Warum nicht Rußland, grundschlecht, wie es ist! In seiner Sündenblüte hat es doch wenigstens den Mut, sich zu seinen Taten zu bekennen. Aber nein, es mußte Preußen sein. Und dieses Preußen, in dem der Ladalinskistamm, einer Einbildung, einer Marotte zuliebe, neu blühen und Wurzel schlagen soll, das tritt nun zwischen dich und mich, und um des vielleicht ausbleibenden Lächelns dreier Prinzlichkeiten willen geht in dieser Zeit, in der Gott sei Dank mehr Prinzen auf den Schlachtfeldern als in fürstlichen Wochenstuben geboren werden, unser Glück wie eine Feder in die Luft. Soll es das, Kathinka?! Bist du entschlossen?«
Sie schwieg.
»Lieben wir uns?«
»Du sagst es.«
»So seh' ich nur einen Weg. Und du wirst den Entschluß dazu fassen können. So denk' ich, so hoff' ich.«
Kathinka legte die Hand an ihre Stirn; dann, als entsänne sie sich auf etwas Zurückliegendes, sagte sie: »Ich versprach ihm, nichts zu tun, das seine Stellung untergraben oder seine Zugehörigkeit zu diesem Lande neuen Verdächtigungen aussetzen könnte.«
»Und dies Versprechen wirst du halten. Die Flucht wirft alle Schuld auf uns.«
»Und doch ist ein Schwanken in mir«, fuhr Kathinka fort. »Nicht, daß ich vor meinem Anteil an dieser Schuld erschräke. Du weißt, wie ich bin, und was an Furcht in mir ist, geht unter in der Lust am Wagnis. Also nicht um mich. Aber um deinetwillen; aus Liebe zu dir. Du sollst nicht in einem falschen Lichte dastehen. Und du wirst es. Wie bittere Worte werden fallen... von Tubal...«
»... Von Lewin...«
»Nenne nicht seinen Namen. Es schmerzt mich; denn es ist keiner, den ich mehr gequält und dem ich tiefer verschuldet wäre. Und nun tu' ich ihm das Schwerste! Er liebte mich, und ich war ihm gut von Jugend auf. Das ist nun vorbei. Aber du irrst, wenn du glaubst, daß bittere Worte von seinen Lippen kommen werden. Nicht von ihm; aber die andern! Erinnere dich des Ballabends, als du von General Yorks Kapitulation hörtest, und denke deines spöttischen ›Sans doute‹, womit du der alten Exzellenz ihre feierliche Geschichte von dem kronprinzlichen Einsegnungsringe verdarbst. Was war die Meinung von alledem? Eine tiefe Verachtung gegen das, was sich hierlandes als ›deutsche Treue‹ gibt. Und nun frag' ich dich, üben wir die Treue, übst du sie?«
»Auch nicht ihr Gegenteil«, antwortete Bninski.
Kathinka schüttelte den Kopf.
Der Graf aber fuhr fort: »Und wenn es wäre, wie du meinst, Kathinka, so sprich ein Wort und laß es mich einsehen, daß es so ist, und ich will dem, was ich tue, kein Mäntelchen umhängen. Ich bin kein Ritter von La Mancha, der die Untreue aus der Welt herausfechten will; ich will sie nicht abschaffen, am wenigsten will ich die Vorstellung großziehen, daß ich ihr persönlich entwachsen sei oder über ihr stünde. Untreue! sie war das Erste und wird das Letzte sein; ich erschrecke nicht vor dem Wort und nicht einmal vor der Tat. Aber das Tugendgesicht, das sie hierzulande annimmt, das hass' ich. Was mir zuwider ist, das ist die Lüge. Und das eine weiß ich: es ist nicht Lüge, wenn ich das, was geschehen soll, weder Vertrauensbruch noch Untreue, wohl aber Zwang und Konsequenz und Notwehr nenne. Zug um Zug. Gegen das gekünstelte und mißbräuchlich geübte Recht deines Vaters, das uns zum Opfer mir unbegreiflicher Rücksichten machen will, setzen wir unser natürliches Recht, das Recht unserer Neigung.«
Eine kurze Pause folgte, und nur, um das peinliche Schweigen zu unterbrechen, fügte der Graf hinzu: »Sieh auf die Zukunft, Kathinka. Es kommen bessere Tage. Er wird sich hineinfinden; das unabänderlich Geschehene bekehrt besser als tausend bittende Worte.«
»Du verkennst ihn«, sagte sie, »er hat den ganzen Eigensinn der Gütigen und Schwachen. Ich darf es aussprechen, denn er war schwach gegen mich von Jugend auf. Er wird uns nicht hassen, seine Liebe zu mir wird unerschüttert bleiben, aber er wird sich mit dem Geschehenen nicht versöhnen und wird nicht Frieden mit uns schließen. Ich weiß, was ich tue. Es ist ein Scheiden auf Nichtwiedersehen!«
Der Graf schritt auf und ab. Als er wieder an das Sofa trat, nahm sie seine Hand und sagte, mit einem Ausdruck zu ihm aufblickend, der ihr sonst fremd war: »Und so sei es denn, Jarosch! Ich fühle, es ist beschlossen, und nicht bloß durch uns. Wir erben alles: erst das Blut und dann die Schuld. Ich war immer meiner Mutter Kind. Nun bin ich es ganz. Sei gut mit mir. Ich habe nur noch dich.«
Und sie warf sich an seine Brust.