Vor dem Sturm. Vierter Band. Sechzehntes Kapitel. by Theodor Fontane
Vor dem Sturm. Vierter Band. Sechzehntes Kapitel. by Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Vierter Band. Sechzehntes Kapitel.

Theodor Fontane * Track #70 On Vor dem Sturm

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Vor dem Sturm. Vierter Band. Sechzehntes Kapitel. by Theodor Fontane

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Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Vierter Band. Sechzehntes Kapitel. Annotated

Sechzehntes Kapitel
Wen trifft es?

Um die achte Stunde – Berndt und seine Hohen-Vietzer Gäste waren noch nicht zurück – saßen Renate, Tubal und Lewin in dem uns wohlbekannten Eckzimmer. Seidentopf, der zugesagt hatte, zu kommen, war ausgeblieben; Lewin schien zerstreut; Tubal, befangener noch als am Tage seiner Ankunft, vermied es, dem Auge Renatens zu begegnen. So scheiterten alle Bemühungen dieser letzteren, das sich hinschleppende Gespräch in einen etwas lebhafteren Gang zu bringen, und jeder, wenn ein Wagen vorüberfuhr, atmete auf, in der Hoffnung, daß es die Ponies sein möchten.

»Wo sie nur bleiben?« sagte jetzt Renate. »Den ganzen Tag über bin ich ein Gefühl der Sorge nicht losgeworden; ich hatt' es in der Kirche schon und dann, als ich bemerkte, daß ihr eingeschlossen waret, du und Marie. Ich sagt' es auch der Schorlemmer. Willst du glauben, Tubal, daß ich mich an Mariens Stelle geängstigt hätte. Die Mittagsstunde hat ihren Spuk so gut wie Mitternacht.«

Tubal, den jedes Wort traf, bückte sich, um ein paar Tannäpfel in den Kamin zu werfen, und sagte verlegen vor sich hin: »Die Zeit verging uns rasch. Wir haben die Grabsteine gelesen.«

»Die Grabsteine«, wiederholte Renate. »Das hätte mir den Mut auch nicht gehoben. Aber Marie, glaub' ich, setzte sich in den Majorsstuhl und vergäße seine Schrecken, vorausgesetzt, daß es sein müßte. Denn im Grunde hat sie das Grauen so gut wie ich, sie hat nur mehr Kraft, ihre Furcht zu bezwingen.«

Die Pendüle schlug jetzt acht, und Renatens Besorgnisse wurden immer größer. »Haltet ihr es für möglich«, sagte sie, während sie sich erhob und voll Unruhe auf das Fenster zuschritt, »daß die Franzosen von unserem Vorhaben erfahren haben können? Unser Landsturm ist seit drei Tagen auf allen Straßen, und es gibt immer feile Kreaturen, die für Lohn oder Vorteil den Spion machen.«

»Gewiß«, sagte Lewin. »Aber diese Spione können nicht mehr verraten, als sie selber wissen. Und was sie wissen, das wissen die Franzosen auch. Es ist einfach das, daß sich ein Wetter gegen sie zusammenzieht. Nicht bloß hier, überall.«

»Und nun dieser Drosselsteinsche Brief«, fuhr Renate fort, die nur mit halbem Ohre zugehört hatte, »ich glaube nicht, daß er viel Gutes bringt. Es ist mir, als läs' ich ihn Zeile für Zeile. Absage, Zweifel, irgend etwas...«

In diesem Augenblicke fuhr der mit so viel Spannung erwartete Wagen über das Pflaster des Hofes und hielt. »Da sind sie!« riefen alle, und ehe Renate Zeit gefunden hatte, die bis dahin im Hintergrunde des Zimmers stehende Astrallampe vor das Sofa zu stellen, traten unsere Frankfurter Reisenden bereits ein. Die Schorlemmer und Jeetze folgten. Fragen über Fragen. Abendbrot wurde refüsiert, nur Tee befohlen, und weil alle mehr oder weniger ausgefroren waren, kam man überein, statt am Sofatisch, um den Kamin her Platz zu nehmen. Der Tagesbericht sollte chronologisch gegeben werden, kam aber nicht weit, da sich, als des über Hohen-Ziesar genommenen Umweges gedacht wurde, Lewin und Renate sofort des Drosselsteinschen Briefes entsannen, der in der Freude des Wiedersehens vergessen worden war.

Berndt erbrach den Brief und las: »Nur wenige Worte, mein teurer Vitzewitz. Eben komme ich von jenseits der Oder zurück und erfahre, daß Sie mit dem General und zwei anderen Herren hier waren, um mich für Frankfurt abzuholen. Ich war, wie Sie gewiß vermutet haben werden, inzwischen ein zweitesmal bei Tschernitscheff, den ich bereits auf dem Marsche traf. Er rückt heute noch bis auf zwei Meilen gegen Frankfurt vor. Seine Gesinnungen sind unverändert die besten. Er teilte mir zum Schlusse mit, daß er an seinen unmittelbaren Chef, den Korpskommandanten Fürsten Wittgenstein, berichtet habe und spätestens bis morgen mittag der Gutheißung der von ihm getanen, beziehungsweise noch zu tuenden Schritte entgegensähe. Tout à vous. Drosselstein.«

Ein jeder empfand die Zweideutigkeit dieser Tschernitscheffschen Zusage, die nötigenfalls auch Rückzug bedeuten konnte, keiner aber gab dieser Empfindung Ausdruck, am wenigsten Bamme, der, um der schlechten Stimmung ein Ende zu machen, von allem Möglichen und Unmöglichen, von Othegraven und den Sottmeiers, von den beiden »letzten Hellern«, dem himmlischen und dem höllischen, und schließlich auch von den zwei Nonnen »mit der blakenden ewigen Lampe« zu perorieren begann. Zuletzt verschwor er sich, daß es ein gutgeplantes Unternehmen sei, vor allem klar in der Anlage; drei Linien konzentrisch auf einen Punkt gerichtet, garantierten den Erfolg. Die Russen seien gute Kameraden. Hierbei warf er einen Blick auf Vitzewitz, um zu sehen, ob dieser es ernsthaft oder ironisch auffassen würde. Ja, sie seien gute Kameraden, müßten es sein, und es werde glücken. Wenn es aber nicht glücke, so sei die Welt keinen Schuß Pulver wert, einschließlich der ganzen göttlichen Gerechtigkeit, über die er ohnehin so seine Gedanken habe.

Alles sah verlegen vor sich hin, und die Schorlemmer flüsterte Renaten zu: »Wo will das hinaus?«; Bamme selbst aber, immer neue Löffel voll Baseler Kirschwasser in die längst geleerte Teetasse gießend, begann jetzt in seinem Ärger über Tschernitscheff – gegen den er klugheitshalber nichts sagen durfte – die Schalen seines Zornes auf den »Tout à vous-Drosselstein« auszuschütten, der sich mindestens zweierlei hätte sparen können: erstens den erneuten Besuch im russischen Hauptquartier und zweitens diesen Brief. Aber er gehöre ganz und gar zu den vornehmen Herren, die, weil sie nichts Besseres zu tun hätten, immer zwischen artigen Besuchen und artigen Briefen hin und her pendelten. Und das hieße dann Lebensart und Diplomatie.

Nach diesem Trumpfe – denn er hielt es mit »guten Abgängen« – erhob er sich plötzlich, wünschte gute Nacht und ging in sein Zimmer hinüber. Berndt folgte seinem Beispiele, bald auch die andern, und ehe zehn Uhr heran war, war alles still und dunkel im Haus.

Nur in den Hinterzimmern des Oberstocks brannte noch Licht. Hier hatten sich's die Freunde bequem gemacht und genossen des Behagens, den eben beschlossenen Tag noch einmal durchzuplaudern. Auch des kommenden wurde dabei gedacht.

Tubal und Hirschfeldt, wie seinerzeit erzählt, waren Schlafkameraden. Ihr Zimmer lag mehr der Treppe zu, jener mittleren Stube gegenüber, in der die drei jungen Mädchen an dem »Einbruchsabend« in eine so tödliche Angst versetzt worden waren. Schon an einem der voraufgegangenen Tage hatte man des kleinen Abenteuers samt des Nachspiels mit Hoppenmarieken eingehender gedacht; heute kam man darauf zurück, und Tubal sagte plötzlich: »Und nun, Hirschfeldt, mit einem Sprunge, der von Hoppenmarieken aus eigentlich kein Sprung mehr ist, wie gefällt Ihnen Bamme? Sie sind heute den ganzen Tag über mit ihm zusammen gewesen. Aber auch vor einer Stunde noch, unten am Kamine; hörten Sie's wohl? er mokierte sich über Drosselstein und glaubte es zu dürfen. Und was ist es am Ende? Diogenes in der Tonne, der sich über Alexander ärgert. Ein bißchen Zynismus, ein bißchen Schabernack. Ich lasse das Preußentum gelten, aber dies säbelbeinige Märkertum, das sich am liebsten in einen Husaren verkleidet, jeden Augenblick den alten Zieten spielen möchte und nichts von ihm hat als die Häßlichkeit, das ist mir verhaßt. Ja, die Häßlichkeit. Sehen Sie sich diesen Mann an, der für einen Typus dieser Gegenden gelten kann, und dann beantworten Sie mir die Frage, ob sich in der ganzen Gotteswelt, wenn Sie Kirgisen und Kalmücken außer Spiel lassen, etwas Ähnliches findet wie dieser ›Typus Bamme‹?«

»Vielleicht nicht«, antwortete Hirschfeldt. »Aber ich kann mich darüber nicht entrüsten. Der ›Typus Bamme‹, wie vieles an ihm auszusetzen sein mag, ist wenigstens ehrlich. Und je mehr in diesem Lande geheuchelt wird, vielleicht auch um seiner Entstehung und Geschichte willen geheuchelt werden muß, desto wohltuender berühren mich Einzelfiguren, die, wenn Sie mir den Ausdruck zugute halten wollen, durch En-detail-Ehrlichkeit die nationale En-gros-Schuld zu tilgen trachten. Bewußt oder unbewußt, ist gleichgiltig.«

Tubal hatte sich in seinem Bette aufgerichtet und sah verwundert zu dem Sprecher hinüber. Es war ihm, als ob er Bninski gehört hätte. Hirschfeldt aber, während er die Lichtschnuppe mit seinem Finger wegknipste, fuhr in demselben Gleichmutstone fort: »Es wundert Sie, Ladalinski, mich so sprechen zu hören. Mich, einen Altpreußen. Aber es erklärt sich leicht. Ich war lange draußen, und draußen lernt es sich. Jeder, der zurückkommt, wird durch nichts so sehr überrascht als durch den naiven Glauben, den er hier überall vorfindet, daß im Lande Preußen alles am besten sei. Das Große und das Kleine, das Ganze und das Einzelne. Am besten, sag' ich, und vor allem auch am ehrlichsten. Und doch liegt unser schwacher und schwächster Punkt gerade nach dieser Seite hin. Welche Politik, die wir seit zwanzig Jahren gemacht! Lug und Trug, und wir mußten daran zugrunde gehen. Denn gleichviel, Staat oder Person, wer wankt und schwankt, wer unzuverlässig und unstet ist, wer Gelöbnisse bricht, mit einem Worte, wer nicht Treue hält, der ist des Todes. Und nun Gott befohlen. Löschen wir das Licht und schlafen wir. Morgen sind wir schlechter gebettet.«

Er löschte das Licht und sah Altes und Neues an sich vorüberziehen. Aber eines sah er nicht: wie seine letzten Worte das Herz seines Schlafkameraden getroffen hatten.

In dem Zimmer nebenan plauderten Lewin und Grell.

»Morgen um diese Zeit sind wir auf dem Marsch«, sagte Lewin. »Ist Ihnen leicht ums Herz?«

»Nein«, antwortete Grell. »Ich war nie im Feuer und bin deshalb in Furcht, vielleicht Furcht zu zeigen. Auch ist es ein eigen Ding mit den Vorahnungen.«

»Glauben Sie daran?«

»Ja«, bemerkte Grell. »Nicht jeder hat sie; aber wir haben es von der Mutter her. Im Schleswigschen ist es häufig.«

Eine kurze Pause folgte. Dann sagte Lewin: »Ich mag nicht in Sie dringen, Grell, über Dinge zu sprechen, von denen Sie vielleicht lieber schweigen. Aber eines möcht' ich doch sagen dürfen: ich habe den Eindruck, als ob Sie das, was wir vorhaben, um einen Grad ernsthafter nehmen, als es genommen sein will. Es ist ein Coup, der entweder glückt oder nicht glückt; das ist alles. Überraschen wir den Feind, so gibt er sich gefangen, überraschen wir ihn nicht, oder lassen uns die Russen im Stich, so ziehen wir uns zurück; aber im einen wie im anderen Falle, nennenswerte Verluste werden schwerlich zu verzeichnen sein. Der Feind ist eben eingeschüchtert und wird sich, selbst wenn er unsern Angriff siegreich abschlägt, auf bloße Defensive beschränken müssen.«

Grell lächelte. »Möglich, daß Sie recht haben, Vitzewitz. Jedenfalls wünsch' ich es. Aber Sie kennen die Frühjahrsgewitter: ein Blitz aus heiterem Himmel, und dann ist es wieder vorbei. Ein Schlag nur, aber er fordert jedesmal sein Opfer. Und wer will sagen, wer gefordert wird oder wen es trifft.«

Beide schwiegen und hingen ernsten Gedanken nach. Dann sagte Lewin, der dem Gespräch eine andere Wendung zu geben trachtete: »Haben Sie Kleists Grabmal besucht? Es wirkt etwas zopfig mit seinem Schmetterling und seiner Inschrift in drei Sprachen, und doch hab' ich immer einen tiefen Eindruck davon empfangen.«

»Ja«, bestätigte Grell. »Aber der Eindruck, den ich vorher von dem Herzog-Leopold-Denkmal empfing, war tiefer.«

»Und weshalb?«

»Weil es mir noch deutlicher und entschiedener meinen Lieblingssatz predigt, daß es erst der Tod ist, der uns unser eigentliches Leben gibt. Auch hienieden schon. Wer würde von dem armen Herzoge noch wissen, wenn er sein Leben einfach ausgelebt hätte bis auf den letzten Tag. Er unterbrach aber den Gang seiner Stunden und opferte sich; und nun lebt er fort, weil er zu sterben verstand.«

»Es ist unser Tun, nicht unser Tod, was uns ein schöneres Leben sichert.«

»Aber doppelt gesichert ist es uns, wenn es ein Tun im Tode ist.«

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