Theodor Fontane
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Siebzehntes Kapitel
Tubal an Lewin
Der dritte Feiertag fiel auf einen Sonntag. Es war ein klarer Morgen. Die Scheiben, nach der Parkseite hinaus, standen im goldenen Schein der eben über den Kirchhügel steigenden Sonne, überall aber, selbst wo sonst Schatten lag, leuchtete der am Abend vorher frisch gefallene Schnee.
Es mochte neun Uhr sein. In dem großen Wohnzimmer, in das wir unsere Leser schon in einem früheren Kapitel führten, saßen Lewin und Renate, aber nicht um den Kamin herum, wie am Abend des ersten Weihnachtstages, sondern in der Nähe des eine tiefe Nische bildenden Eckfensters. Sie hatten hier nicht nur das beste Licht, sondern vermochten auch mit Hilfe der mehrgenannten breiten Auffahrt auf die Dorfstraße zu blicken, deren Treiben in der Einsamkeit des ländlichen Lebens immer eine Zerstreuung und oft den einzigen Stoff der Unterhaltung bietet.
Das Frühstück schien beendet; die Tassen waren zurückgeschoben, und Lewin legte eben ein elegantgebundenes Buch aus der Hand. »Ich fürchte, Renate, wir haben ihm doch unrecht getan. Aber diese unglückliche Begeisterung des Dolgeliner Pastors! Da reißt einem die Geduld. Und doch ist viel Sinniges darin. Nun hinke ich mit meiner Ehrenerklärung nach; amende honorable retardée oder ›moutarde après le diner‹, wie Tante Amelie mit Vorliebe sagen würde.«
Renate nickte.
»Apropos die Tante«, fuhr Lewin fort, »ich habe den kleinen Schlitten bestellt, zwei Uhr; in einer Stunde sind wir drüben, ich fahre selbst. – Und Marie war noch immer nicht in Guse?« fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Nein«, erwiderte Renate.
»Du schriebst aber doch, sie habe einen guten Eindruck auf die Tante gemacht. Wenn die ›Gräfin Pudagla‹ nicht Anstand nahm, unserem Liebling in diesem Zimmer zu begegnen, so sollte ich meinen, das Eis müßte gebrochen sein.«
»Die Begegnung war unabsichtlich; Marie, die mir ein Buch unseres Seidentopf brachte, trat unerwartet ein. Im übrigen solltest du nicht immer wieder vergessen, daß die Tante alt ist und einer anderen Zeit als der unserigen angehört. Warum willst du Standesvorurteile nicht gelten lassen?«
»Die lasse ich gelten, vielleicht mehr als recht ist. Aber, was ich nicht gelten lasse, das sind die Halbheiten. Tante Amelie – die Vitzewitze mögen mir diese Bemerkung verzeihen – ist durch ihr Hineinheiraten in die Pudaglafamilie in gewissem Sinne über uns selbst hinausgewachsen, sie ist eine vornehme Dame, und wenn es ihre gräfliche Gewohnheit wäre, fächernd und ein Bologneserhündchen im Arm, über das Zweimenschensystem geheimnisvolle Unterhaltungen zu führen, so würde ich ihr respektvollst die Hand küssen und am allerwenigsten eine Widerlegung versuchen. Ich wiederhole dir, ich kann all das würdigen, wenn meine eigenen Empfindungen auch andere Wege gehen. Aber Tante Amelie gehört nicht zu diesen Gräfinnen aus der alten Schule. Sie hält sich für aufgeklärt, für freisinnig. Da vergeht kein Tag, keine Stunde, wo nicht aus Montesquieu, aus Rousseau zitiert, wo nicht freiheitlich-erhaben von der ›vaine fumée‹ gesprochen wird, ›que le vulgaire appelle gloire et grandeur, mais dont le sage connaît le néant‹, und wenn nun nach all dieser Philosophenherrlichkeit die Probe auf das Exempel gemacht werden soll, so erweist sich alles als leere, pomphafte Redewendung, als bloße Maske, hinter der sich der alte Dünkel birgt.«
Die Schwester wollte antworten, Lewin aber fuhr fort: »Nein, nein, Renate, suche davon nichts abzudingen; ich kenne sie, so sind sie samt und sonders, diese Rheinsberger Komtessen, denen die französischen Bücher und Prince Henri die Köpfe verdreht haben. Humanitätstiraden und dahinter die alte, eingeborene Natur. Es ist mit ihnen, wenn du das prätentiöse Bild verzeihen willst, wie mit den Palimpsesten in unseren Bibliotheken, alte Pergamente, darauf ursprünglich heidnische Verse standen, bis die frommen Mönche ihre Sprüche darüber schrieben. Aber die Liebesseufzer an Chloe und Lalage kommen immer wieder zum Vorschein. Rund heraus: das Vorurteilsvolle lasse ich gelten; nur das Unwahre verdrießt mich.«
»Daß ich dir's nur bekenne«, nahm jetzt Renate das Wort, »ich hatte ein Gespräch mit der Tante über ebendiesen Gegenstand. Sie hat sich zu dem Widerspruchsvollen, das in ihrer Haltung liegt, bekannt, und dies Bekenntnis, das sie sehr liebenswürdig gab, wird dich schließlich auch entwaffnen müssen. Ich müßte dich nicht kennen.«
Lewin lächelte. »Wo war es, hier oder in Guse drüben?«
»Hier. Es war bei Gelegenheit derselben Begegnung, von der du aus meinem Briefe weißt; nur über das Gespräch, das folgte, ging ich kurz hinweg. Wir waren zu dreien, Papa, die Tante und ich. Unsere gute Schorlemmer fehlte wie gewöhnlich; die ›beiden Tanten‹, wie du weißt, stimmen nicht gut zusammen. Marie trat ein und stutzte einen Augenblick. Sie ist zu klug, als daß sie nicht lange schon empfunden hätte, wie die Tante zu ihr steht. Rasch faßte sie sich aber, verneigte sich, richtete des Pastors Auftrag an mich aus und entfernte sich wieder unter einer freimütigen Entschuldigung, unser Beisammensein gestört zu haben.«
»Und die Tante?«
»Sie schwieg, wiewohl ihre scharfen Augen jede Bewegung gemustert hatten. Erst als Papa fort war, sagte sie, ohne daß ich es gewagt hätte, eine Frage an sie zu richten: ›Die Kleine ist charmante, eine beauté aus dem Märchen, welche Wimpern!‹ – ›Wir lieben sie sehr‹, wagte ich schüchtern zu bemerken, worauf die Tante nicht ohne Herzlichkeit, zugleich in ihrem allerfranzösischsten Stil, den ich dir erspare, fortfuhr: ›Ich weiß, ich weiß, und jetzt, wo ich sie gesehen habe, begreife ich, was ich bisher für eine Laune hielt. Bei Lewin hielt ich es für mehr. Kann sein, daß ich mich irre‹, setzte sie hinzu, als sie bemerkte, daß ich den Kopf schüttelte. Eine kurze Pause folgte, in der die Tabatière ein paarmal auf- und zugemacht wurde; dann sagte sie lebhaft: ›Ich habe mir's diese Minuten überlegt, ob ich euch auffordern sollte, die Kleine mit nach Guse hinüberzubringen; es fehlt uns dergleichen, und sosehr ich alte Damen hasse, so sehr liebe ich junges Volk. Aber Renate, ma chère, es geht nicht. Ich nehme wahr, daß gewisse Vorstellungen und Geschmacksrichtungen in mir stärker sind als meine Grundsätze. Es bestätigt sich: On renonce plus aisément à ses principes qu'à son goût. Wohl entsinne ich mich des Tages, wo uns Prince Henri durch ein ähnliches Geständnis überraschte. Der Prinz und der Philosoph lagen immer in Fehde. Nun sieh, dieses Kind hat einen Zauber; aber ich fühle doch, daß, wenn sie selbst im längsten Kleide käme, ich mich des Gedankens nicht erwehren könnte, jetzt verkürzt sich die Robe, und sie beginnt den Schaltanz zu tanzen. Ich will dem Kinde durch solche Gedanken nicht wehe tun, ich denke also, wir lassen's beim alten.‹«
Lewin, der aufmerksam gefolgt war, war eben im Begriff, im allerversöhnlichsten Sinne zu antworten, als das Erscheinen Hoppenmariekens, die von der Dorfstraße her in den Hof einbog, die Unterredung unterbrach. In ihrer herkömmlichen Ausrüstung: kurzen Friesrock und hohe Stiefel, Kiepe und Hakenstock, kam sie geradenweges auf das Herrenhaus zu, salutierte die jungen Herrschaften, die sie gleich hinter dem Eckfenster erkannte, und in der nächsten Minute lagen Briefe und Zeitungen ausgebreitet auf dem Tisch.
Die Zeitungen, so wichtig ihr Inhalt war, enthielten nichts, was Lewin nicht schon gewußt hätte; von den Briefen war einer vom Papa, der in aller Kürze anzeigte, daß er am Abend in Schloß Guse zu sein hoffe, der andere vom Vetter Ladalinski, dem Studiengenossen und Herzensfreunde Lewins. Dieser strahlte, als sein Auge auf die engbeschriebenen zwei Bogen fiel; Renate errötete leise und sagte: »Nun lies.«
Und Lewin las.
» Lieber Lewin! Vielverwöhnter, der Du bist, werden diese Zeilen, die in sich selber schon eine Huldigung bedeuten, Deiner Eitelkeit keinen unerheblichen Vorschub leisten. Aber ich habe eine rechte Plauderlust und empfinde stündlich, daß Du mir fehlst. Bist Du doch der wenigen einer, die das Talent des Zuhörens haben, doppelt selten bei denen, die selber zu sprechen verstehen.
Wir haben einen prächtigen Weihnachtsheiligabend gehabt, und um dieses Abends willen schreibe ich. Du wirst nun zunächst denken, daß der Christbaum, wie es ja auch sein sollte, uns so recht hell ins Herz hineingeschienen hätte; aber so war es nicht. In einem Hause, in dem die Kinder fehlen, wird das Christkind immer einen schweren Stand haben, so nicht etwa der Kindersinn den Erwachsenen verblieben ist. Und Kathinka, die so vieles hat (vielleicht weil sie so vieles hat), hat diesen Sinn nicht. Was mich angeht, so bin ich von der Segenshand, die diese Gabe leiht, wenigstens leise berührt worden. Gerade genug, um eine Sehnsucht darnach zu fühlen.
Wir waren allerengster Kreis: Papa, Kathinka, eine neue Freundin von ihr, die Du noch nicht kennst, und ich. Als die Türen eben geöffnet wurden, kam Graf Bninski. Er hatte Aufmerksamkeiten für uns alle, zuweitgehende für mein Gefühl; aber Kathinka schien es nicht zu empfinden. Der erleuchtete Saal, der flimmernde Baum lachten mir ins Auge, aber wie ich Dir wiederholen muß, es drang nicht weiter. Es hatte alles den Charakter einer reichen Dekoration. Selbst der Spitzenüberwurf à la Reine Hortense (Notiz für Renate), den Papa von Paris her bezogen hatte, konnte an diesem Eindruck nichts ändern. Die Unterhaltung, nach den ersten Auswechslungen gegenseitigen Dankes, war nicht frei. Der Graf kannte den Inhalt des Bulletins; wir vermieden ein Gespräch darüber, um ihn nicht zu verletzen.
Unter diesen Umständen war es fast wie Erlösung, als ein lose zusammengeschürzter Zettel an mich abgegeben wurde, der in der lapidaren Schreibweise unseres Jürgaß lautete:
›Heute, Donnerstag, den 24., Weihnachtsbowle. Mundts Weinkeller, Königsbrücke 3. Neun Uhr; besser spät als gar nicht. Gäste willkommen. v. J.‹ Ich reichte dem Grafen, der erst tags vorher den Wunsch geäußert hatte, unseren Klub kennenzulernen, den Zettel hin, wies auf die beiden Schlußworte und fragte ihn, ob es ihm genehm sein würde, mich zu begleiten. Er sagte zu, fast zu meiner Überraschung, da seine Stimmung wenig gesellig schien. Übrigens hatte ich später keine Ursache, seine Zusage zu bedauern.
Bald nach neun Uhr waren wir am Rendezvous, das nicht glücklicher gewählt sein konnte. In solchen Sachen kann man sich auf Jürgaß verlassen. Du entsinnst Dich, daß die Flußufer der Königsbrücke zu beiden Seiten einen hohen Quai bilden, auf dem die Giebel und Seitenflügel einzelner alter Gebäude stehen. So auch das Mundtsche Haus. Wir stiegen, von der Straße her, in den Weinkeller hinunter, tappten uns in einem dunklen Gange vorwärts und traten endlich in einen großen, aber niedrigen und holzgetäfelten Salon, der, alte Bilder in mir weckend, mich lebhaft an die Kajüten englischer Kriegsschiffe erinnerte. Einige Freunde waren schon versammelt: v. Schach, Bummcke, Dr. Saßnitz und Buchhändler Rabatzki. Jürgaß fehlte noch. Ich stellte Bninski vor; dann nahmen wir Platz. Ich hatte nun erst den vollen Eindruck von dem Anheimelnden des Lokales, eine gute Beleuchtung, ein Feuer im Ofen, ein langer, weißgedeckter Tisch, dessen Plätze so gelegt waren, daß sie den Gästen einen freien Blick auf die Spree gönnten.
An den Fenstern vorbei, die fast die ganze Höhe des Zimmers hatten und bis auf den Fußboden niedergingen, bewegte sich ein bunter Weihnachtsverkehr, eine Art Newa-Messe. Schlittschuhläufer mit Stocklaternen, Waldteufeljungen, kleine Mädchen mit Wachsengeln, alles zog wie eine Erscheinung, mal hell, mal dunkel, an unseren Fenstern vorüber, und von der Königsbrücke her klang das Schellengeläute der Schlitten und der gedämpfte Lärm der Stadt.
Endlich kam Jürgaß; in der Hand hielt er eine große blaue Tüte. ›Hier bring' ich Weihnachten; die Hauptsache aber, die ich meinen Gästen bringe – denn ich bitte, Sie heut' als solche betrachten zu dürfen –, ist selber ein Gast. Versteht sich, ein Poet.‹ Damit wies er auf einen Herrn, der mit ihm zugleich eingetreten war. Ehe ich noch Zeit hatte, Bninski und Jürgaß miteinander bekanntzumachen, fuhr dieser fort: ›Ich habe die Ehre, Ihnen hier Herrn Grell oder mit seinem vollen Rang und Namen den Theologiekandidaten Herrn Detleff Hansen-Grell vorzustellen, eine Art Hintersassen von mir, einen Hörigen derer von Jürgaß auf Gantzer. Genealogisches über die Grells, beziehungsweise über die Hansen-Grells behalte ich mir vor.‹ Alles sah lachend, wenn auch einigermaßen überrascht, auf Jürgaß, der, ohne eine Antwort abzuwarten, in demselben Tone fortfuhr: ›Unsere Kastalia vertrocknet; es fehlt ihr frisches Blut. Man könnte die Herren Poeten unseres Kreises in Verdacht haben, sie scheuten die Rivalität neuauftretender Kräfte. Wenn ich nicht wäre und Bummcke und hier unser Freund Rabatzki, der, um die letzte Spalte seines ›Sonntagsblatts‹ zu füllen, dann und wann einen jungen Lyriker einfängt, so wär' es mit dem Sprudeln unseres Musenquells, trotz seines hochtönenden Namens, bald vorbei. Ist es nicht unerhört, daß ich, um die drohendste Gefahr abzuwenden, von meines Vaters Gütern einen lyrischen Sukkurs verschreiben muß?‹
Das Eintreten eines Küfers, in vorschriftsmäßiger Lederschürze, unterbrach die Rede. Er trug eine Bowle auf, und die große Weihnachtstüte begann zu kursieren, die, neben rheinischen Walnüssen, einige Pakete französischer Pfefferkuchen enthielt. Jürgaß hatte den Vorsitz. ›Ich heiße Sie willkommen‹, nahm er abermals das Wort. ›Hinsichtlich der Tüte empfehl' ich weise Sparsamkeit; ihr Inhalt ist momentan unersetzlich. Aber die Bowle hat einen Zuschuß zu gewärtigen, eventuell mehrere.‹
Die Gläser klangen zur Begrüßung zusammen. Ich hatte gleich bei unserem Eintritt an einer der Schmalseiten des Tisches Platz genommen; Bninski mir gegenüber. Dieser Platz gestattete mir, den ›lyrischen Sukkurs‹, der unserer ›Kastalia‹ wieder aufhelfen sollte, ohne Auffälligkeit zu beobachten. Er war, trotz eines guten Profils, eher häßlich als hübsch. Das Haar strohern, die blassen Augen vorstehend und wenig Wimpern. Dabei die Lider leicht gerötet und etwas Stoppelbart. Sein Schlimmstes war der Teint. Gesamteindruck: alltäglich.
Mein Auge glitt zu Bninski hinüber, der ihn auch gemustert haben mochte. Ich erriet seine Gedanken.
Wir hatten leichte Konversation. Bummcke beklagte lebhaft, daß Du fehltest; außerdem wurde Kandidat Himmerlich am meisten vermißt; aus welchem Grunde, konnt' ich nicht erraten. Vielleicht glaubte man, daß einem Kandidaten der Theologie wie Grell nichts Besseres vorgesetzt werden könne als seinesgleichen. Ich bezweifle aber, daß dieser Satz richtig ist.
Es war wohl elf Uhr, und das Schellengeläute von Brücke und Straße her schwieg bereits ganz, als Jürgaß anhob: ›Ich denke, wir improvisieren eine Kastalia-Sitzung. Herr Hansen-Grell wird die Güte haben, uns einiges vorzulesen.‹
Diese Mitteilung wurde mit bemerkenswerter, aber freilich auch verzeihlicher Kühle aufgenommen. Der Gast sah so unpoetisch wie möglich aus, und die Empfehlung unseres Jürgaß, wie Du nachempfinden wirst, war nicht eben dazu angetan, ihm Vorschub zu leisten. Er zog nun ein Manuskript von bedenklichem Umfang aus der Tasche; ich glaube, daß ein Bangen durch alle Herzen ging.
Aber wir sollten bald anderen Sinnes werden. Er bat unbefangen um die Erlaubnis, uns eine Ballade, die einen norwegischen Sagen- oder Märchenstoff behandle, vorlesen zu dürfen: ›Hakon Borkenbart‹. Du mußt nämlich wissen, er hat eine Zeitlang in Kopenhagen gelebt. Wie das so gekommen, das erfährst Du, neben manchem anderen, zu anderer Zeit. Er hob nun an und las ausdrucksvoll, fest, mit wohltönender Stimme und wachsendem Feuer. Es waren wohl an zwanzig Strophen. Gleich die erste, die bei der Debatte wiederholt wurde, ist mir im Gedächtnis geblieben:
Der König Hakon Borkenbart,
Hat Roß und Ruhm, hat Waff' und Wehr,
Und hat allzeit zu Krieg und Fahrt
Viel hohe Schiff' auf hohem Meer,
Es prangt sein Feld in Garben,
Er aber prangt in Narben,
In Narben von den Dänen her.
In der zweiten Strophe zieht Hakon aus, um, trotz seiner fünfzig Jahre, um Schön-Ingeborg zu freien. Ich mühe mich vergeblich, die Reime zusammenzufinden, aber mit der dritten Strophe, die mir besonders zusagte, wird es mir wieder gelingen. Wenigstens ungefähr.
Schon grüßt ihn fern so Turm wie Schloß,
Und stolz und lächelnd blickt er drein;
Er spricht herab von seinem Roß:
›Und bin ich alt, so mag ich's sein!
Und wär' ich alt zum Sterben,
Auch Ruhm und Narben werben
Und werben gut wie Jugendschein.‹
An dieser Stelle, wie Du Dir denken kannst, brach unser alter Bummcke in lautes Entzücken aus. Ich bin ganz sicher, daß er sich in dem Augenblicke als Hakon Borkenbart fühlte. Das Gedicht verläuft nun so, daß die schöne Ingeborg ihn abweist, wofür er Rache gelobt. Er verkleidet sich als Bettler und setzt sich mit einer goldenen Spindel vor Ingeborgs Schloß. Sie begehrt die Spindel; er verweigert sie ihr. Ihre Begierde entbrennt so heftig, daß sie sich dem Bettler hingibt, um die Spindel zu besitzen. Nun kommen die bekannten Konflikte: der Vater in Zorn; Verstoßung. Zuletzt entpuppt sich der Bettler als Hakon Borkenbart, und alles gelangt zu einem glücklichen Schluß.
Es war mir ein Genuß gewesen, dem Gedicht zu folgen, und ich darf sagen: uns allen. Neben dem Dichter selbst interessierte mich Bninski am meisten. Er wurde immer ernster. ›Seltsam‹, so las ich auf seiner Stirn, ›welche Prosa der Erscheinung und dahinter welch heiliges Feuer!‹
Dies Feuer war nun in der Tat der Zauber des Gedichts und des Vortrags. Sonst bot es angreifbare Punkte die Menge. Dr. Saßnitz, auch an diesem Abend der Avantgardenführer unserer Kritik, nahm zuerst das Wort. Er hob mit Recht hervor, daß unser verehrter Gast sein großes Darstellungsvermögen an einen Gegenstand gesetzt habe, dem mit einem geringeren Kraftaufwand mehr gedient gewesen wäre. Das Ganze sei, wie er selber bemerkt habe, ein Märchenstoff. Ein solcher aber müsse in der Schlichtheit, die seinen Reiz bilde, nicht durch Pracht des Ausdrucks gestört werden. Das Gedicht, bei unbestreitbaren Vorzügen, sei zu lang und namentlich zu schwer.
Hätte unser Gast in unser aller Augen noch gewinnen können, so wär' es durch die Art gewesen, wie er den Tadel aufnahm. Er nickte zustimmend und sagte dann zu Saßnitz: ›Ich danke Ihnen sehr; Ihre Ausstellungen haben es getroffen. Ich wußte nicht, woran es lag, daß mich die eigene Arbeit nicht befriedigte; nun weiß ich es.‹
Das Gespräch setzte sich fort. Bald danach war die Bowle geleert, und Jürgaß, der wenigstens des Ausharrens von Bummcke sicher war, befahl eine zweite. Bninski und ich aber warteten ihr Erscheinen nicht ab; Mitternacht war ohnehin bald heran. Als wir auf den stillen Platz hinaustraten, lag der Sternenschein fast wie Tageslicht auf den Straßen. Ich sah hinauf; mir war zu Sinn, als stiege das Christkind aus diesem Sternenglanz in mein armes Herz hernieder. Bninski begleitete mich; wir sprachen kein Wort. Beim Abschied sagte er mit einem Ton, den ich bis dahin nicht an ihm gekannt hatte: ›Ich danke Ihnen, Tubal, für diesen Abend; es würde mich freuen, Ihre Freunde öfter zu sehen.‹
Da hast Du die jüngste Sitzung der Kastalia, noch dazu eine improvisierte.
Und nun lebe wohl. Renate sei mit Dir. Die Form dieses Glückwunsches wiegt hoffentlich tausend Grüße an meine schöne Cousine auf. Dein
Tubal.
Nachschrift. Eben ist Dein Papa bei dem meinigen. Sie politisieren viel, vielleicht zu viel. Er grüßt und hofft, wie er Dir schon geschrieben habe, morgen abend auf Schloß Guse zu sein. Einen Platz in seinem Wagen, den er mir angeboten, habe ich abgelehnt. Es ist mir zuviel ›Freundschaft‹ um Tante Amelie versammelt. Aber ich sehne mich nach Hohen-Vietz und seiner Stille. Kann ich Kathinka bestimmen, mich zu begleiten, so dürft Ihr uns ehestens erwarten.
Dein T.«