Vor dem Sturm. Dritter band. Fünftes Kapitel. by Theodor Fontane
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Vor dem Sturm. Dritter band. Fünftes Kapitel.

Theodor Fontane * Track #41 On Vor dem Sturm

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Vor dem Sturm. Dritter band. Fünftes Kapitel. by Theodor Fontane

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Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Dritter band. Fünftes Kapitel. Annotated

Fünftes Kapitel
Soiree und Ball

Um die vierte Stunde des andern Tages, die Sonne war eben unter, hielten die seit einer Woche kaum noch aus dem Geschirr gekommenen Hohen-Vietzer Ponies vor dem uns aus dem Beginn unserer Erzählung bekannten Haus in der Klosterstraße. Lewin hatte die Leinen genommen und wartete geduldig auf die Rückkehr des Kutschers, der abgestiegen war, um den altmodischen, mit vielen Riemen zugeschnallten Mantelsack in die Frau Hulensche Wohnung hinaufzutragen. Das Gefährt war nicht mehr der nur für eine Nachtfahrt geeignete Sack- und Planschlitten, sondern der leichte, zweisitzige Kaleschwagen, mit dem Berndt seine hier- und dorthingehenden Ausflüge zu machen pflegte. Es wurd' unserm Freunde nicht schwer zu warten, denn der ganze nordwestliche Himmel glühte noch, und die kleine, fast unmittelbar zu seiner Linken gelegene, ringsumher von Efeu umwachsene Klosterkirche stand wie ein Schattenbild in dieser abendlichen Glut und nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Von allen Seiten kamen Krähen heran, setzten sich auf die Zacken des Giebelfeldes und berieten sich, wie sie zu tun pflegen, für die Nacht. In der Straße war nur wenig Leben; die Laternen wurden an ihren langen Drahtketten herabgelassen, langsam angezündet und langsam und knarrend wieder in die Höhe gezogen. Endlich kam Krist zurück, und während dieser, ohne wieder aufzusteigen, das Fuhrwerk nach dem »Grünen Baum« hinüberdirigierte, öffnete Lewin die schwere, mittelst eines innen angebrachten Steingewichts sich von selbst schließende Haustür und stieg die Treppen hinan.

Auf der dritten und letzten schimmerte schon das Licht, mit dem Frau Hulen auf den Flur getreten war, teils um ihrem jungen Herrn Lewin ihren Respekt zu bezeigen, aber noch mehr, um die dicke Efeugirlande über der Tür sichtbar zu machen, die sie zu seinem Empfange geflochten.

»Guten Abend, Frau Hulen.« Damit trat er erst in den Alkoven und von diesem aus in das große Vorderzimmer, das die Liebe und Sorgfalt der Alten in ähnlicher Weise festlich hergerichtet hatte. Auf dem runden Sofatische standen zwei kleine brennende Lichter, Kaffeegeschirr und ein Napfkuchen, während eine zweite Girlande, auch von Efeu, aber schmal und zierlich und aus einzelnen Blättern zusammengenäht, die damastne Kaffeeserviette einfaßte.

»Aber das ist ja, als ob ein Bräutigam einzöge, Frau Hulen; wo kommt nur all der Efeu her?«

»Kirchenefeu, junger Herr.«

»Also von drüben?«

»Ja, drüben von der Klosterkirche; ich hab' ihn an dem linken Chorpfeiler gepflückt, wo Küster Susemihls Johanna mit dem kleinen Würmchen begraben liegt. All in eins, Mutter und Kind. Es sind nun drei Jahr. Können sich der junge Herr nicht mehr entsinnen?«

»Nein. Was war es denn damit?«

»Es soll ein Marschall gewesen sein; aber Herr Kaufmann Ziebold hat mich ausgelacht; es sei freilich ein Marschall gewesen, aber bloß ein französischer Logiermarschall, was sie bei uns einen Wachtmeister nennen. Na, lieber Gott, ich kann es nicht wissen, ich bin eine alte Frau, aber das weiß ich, Marschall oder nicht, daß er einen schweren Stand haben wird, denn es war ein gutes Kind, die Johanna, und sie hielt auf sich, und selbst die alte Zunzen, die von jedem was weiß, wußte ihr nichts nachzusagen. Es war noch ein Glück, daß das Kind gleich tot war. Einige sagen freilich, es wäre nicht tot gewesen, aber ich glaub' es nicht, und man soll nicht sagen, was man nicht beweisen kann. Und nun langen Sie zu, junger Herr, und schenken sich ein, ehe der Kaffee kalt wird.«

»Ja, Frau Hulen, das ist leichter gesagt als getan. Wo denken Sie hin? So bei Gräberefeu...«

»Ach, junger Herr, da kenn' ich Sie besser. Wenn die Dienstagsherren hier sind, der dicke Herr Hauptmann, der immer so spaßig ist, und der Herr von Jürgaß und der Herr Himmerlich, der solche dünne Stimme hat, und ich höre dann von nebenan zu, da weiß ich schon, je lauter sie lesen und je rührender es ist, desto mehr Tassen und Gläser muß ich bringen. Und wer dann am meisten dabei ist, das ist mein junger Herr.«

»Nun, Frau Hulen, wenn die Sachen so liegen, da muß ich es schon versuchen«, und dabei schenkte er sich ein und machte sich's bequem, während die Alte, um ihn nicht länger zu stören, aus dem Zimmer ging.

Auf dem Tische, zu einem kleinen Fächer geordnet, lagen auch die vier, fünf Briefe, die während seiner Abwesenheit eingegangen waren. Einer von Jürgaß enthielt eine kurze Anfrage, wann und wo die nächste Kastaliasitzung stattfinden solle, ein anderer, erst vor wenig Stunden geschrieben, war von Tubal. Nur wenige Zeilen. Lewin las:

»4. Januar. Seit vorgestern abend sind wir wieder hier. Papa, der uns schon früher von Guse zurückerwartet hatte, hat auf heute (Montag) eine Soiree angesetzt. So du rechtzeitig eintriffst, laß uns nicht im Stich. Wir haben Überfluß an Herren, aber nicht an Tänzern. Die Mazurka, die vor dem Feste bei Wylichs aufgeführt wurde und in der Kathinka, wie Du gehört haben wirst, einen ihrer Triumphe feierte, soll wiederholt werden. Du fehltest damals; sei heute da. Dein T.«

Lewin legte das Blatt aus der Hand, das ihn verstimmt hatte. Während der Fahrt war er geschäftig gewesen, sich diesen ersten Abend als ein häusliches Idyll auszumalen, alles hell und licht, in dem Frau Hulens weiße Haube, die weiße Teekanne und viele quadratisch gefaltete weiße Blätter (von denen er jedes zu beschreiben hoffte) die seinem Auge sich einschmeichelndsten Punkte waren, und nun zerrann dieser Traum in demselben Augenblicke, in dem er ihn zu verwirklichen dachte. Er hatte weder Lust zu tanzen noch tanzen zu sehen, am wenigsten Kathinka, deren Mazurkapartner, wie er sich aus begeisterten Schilderungen der Freunde sehr wohl entsann, Graf Bninski gewesen war. Und doch war die Einladung nicht zu umgehen. Er hatte noch zwei Stunden, und müde von der Fahrt, überwand er mit Hilfe seiner Ermattung seine Mißstimmung, drückte sich in das seegrasharte Sofakissen und schlief ein.

Als er erwachte, war alles dunkel im Zimmer, die kurzen Lichter niedergebrannt. Er wickelte sich aus einer Decke heraus, mit der ihn Frau Hulen, während er schlief, zugedeckt hatte; aber es kostete ihn Mühe, sich zurechtzufinden. Wo war er? Er tappte sich auf das Fenster zu und sah auf die Straße hinunter. Da waren die Laternen, die in trübem Lichte brannten; drüben der Schatten mit den zwei kleinen Türmen, das war die Klosterkirche. Was war es doch damit? Wer hatte doch davon erzählt? Richtig, die Hulen. Da war ja die Girlande; und Johanna Susemihl und das Würmchen; und er fühlte nun, daß eine stickige Luft in dem Zimmer war und daß der betäubende Geruch des Efeus und der Lichterblak ihm einen dumpfen Kopfschmerz zugezogen hatten. Was tun? Er öffnete den Fensterflügel, an dessen einem Riegel er sich mechanisch gehalten hatte, und atmete erst wieder freier, als die kalte Nachtluft in sein Zimmer zog. Dann klopfte er, und Frau Hulen kam.

»Wie spät ist es?«

»Acht Uhr.«

»Ei, da hab' ich mich verschlafen. Und dies Kopfweh. Ein Glas Wasser, Frau Hulen, und Licht. Ich muß mich eilen.«

Die Alte lief hin und her; die Kommodenkästen flogen auf und zu, und eine Stunde später stieg Lewin die breite Steintreppe hinauf, die an Nischen mit drei, vier Perückenkurfürsten vorüber in das erste Stockwerk des Ladalinskischen Hauses führte. Er warf den Mantel ab, hörte, während er in dem Garderobezimmer seine Toilette ordnete, den gedämpften Strich der Geigen und schritt dann über den mit Orangerie besetzten Vorflur in das offenstehende Entree, das, zwischen den beiden großen Gesellschaftssälen gelegen, gerade die Mitte der ganzen Zimmerflucht bildete. Es war im übrigen ein Entree wie andere mehr, schmucklos, mit einem einzigen hohen, zugleich als Balkontür dienenden Fenster, und zeichnete sich durch nichts aus als durch sein Deckenbild: Venus bei dem Untergange Trojas ohnmächtig in die Arme des Zeus sinkend. Es war das beste der alten Plafondgemälde und zugleich das wohlerhaltenste.

Unser Freund, wenig heimisch in der Welt der bildenden Künste, würde zu keiner Zeit ein begeistertes Auge für die Linien dieser Komposition gehabt haben, am wenigsten hatte er es heute, wo Kopfweh, Mißstimmung und ein gerade an dieser Stelle stattfindendes Gedränge ohnehin an einer eingehenden Beobachtung hinderten. Nach links hin lag der Tanzsaal. Lewin sah hinein und bemerkte, daß zwölf oder vierzehn Paare zu einer Anglaise angetreten waren; aber Kathinka fehlte. Wo war sie? Und bei dieser Frage stürmten Bilder und Gedanken auf ihn ein, die dem Versuche, sie als töricht zu verbannen, nur zögernd und widerstrebend nachgaben. Er ließ nun sein Auge die Sitzreihe niedergleiten, auf der an der Längswand des Saales hin die älteren Damen Platz genommen hatten; aber auch hier vergebens.

In der Mitte dieser Reihe saß die alte Gräfin Reale, Oberhofmeisterin der Prinzessin Ferdinand, eine Dame von Siebzig oder darüber, mit einer gebogenen und doch spitz auslaufenden Nase. Alles an ihr war grau: die Robe, der Schal, das hochaufgetürmte Haar, und sie glich einem bösen Kakadu, besonders, als sie jetzt ein schwarzes Lorgnon mit zwei großen Kristallgläsern aufsetzte und Lewin, dessen hastiges Suchen ihr aufgefallen sein mochte, verwundert und beinahe strafend ansah. Dieser schlug die Augen nieder und richtete sie ziemlich verwirrt auf die Nachbarin der alten Gräfin. Dies war ein Fräulein von Bischofswerder, Tochter des ehemaligen Ministers und Dame d'atour der Königinwitwe. Sie trug das wenige blonde Haar, das sie hatte, in zwei Locken gelegt, die jetzt aber von der Hitze des Saales ihre ohnehin spärliche Federkraft verloren hatten und in dünner, ungebührlicher Länge bis an den Gürtel hinunterhingen. Überhaupt war alles lang an ihr, der Hals und die dänischen Handschuhe, die bis zum Ellbogen hinaufreichten, und inmitten all seiner Mißstimmung überkam ihn ein Lächeln. »Mamsell Laacke!« sagte er vor sich hin.

Er gab endlich alles weitere Suchen und Forschen auf und schritt in den nach rechts hin gelegenen Saal hinüber, in dem Erfrischungen gereicht und in dicht umherstehenden Gruppen die Neuigkeiten des Tages ausgetauscht wurden. Es waren meist ältere Herren: Adjutanten und Kammerherren der verschiedenen prinzlichen, damals sehr zahlreichen Hofstaaten, Gesandte kleinerer Höfe, Exzellenzen aus dem auswärtigen Departement und Abteilungschefs des Oberfinanzdirektoriums wie der Kriegs- und Domänenkammer. Einige davon spezielle Freunde des Hauses, so der Intendant der königlichen Schlösser und Gärten, Herr Valentin von Massow, Schloßhauptmann von Wartensleben, Generaldirektor der königlichen Schauspiele, Freiherr von der Reck und Staatsrat und Polizeipräsident Le Coq. Auch Universitätsprofessoren, Ärzte, Geistliche und Berliner Stadtzelebritäten waren erschienen; in der ersten Fensternische standen Hofprediger Eylert und der Oberkonsistorialrat Sack in eifrigem Gespräch, während in unmittelbarer Nähe von Lewin Professor Dr. Mursinna, der damalige berühmteste Chirurg der Stadt, und der Schauspieler Fleck ein lebhaftes Gespräch führten. Lewin verstand jedes Wort und hörte deutlich, daß Mursinna das Hinken Richards III. nicht korrekt finden wollte. Es hätte ihn unter andern Umständen auf das lebhafteste interessiert, dem Gange dieser Unterhaltung folgen zu können, aber in der Unruhe seines Gemüts fühlte er sich nur bedrückt, auch in diesem Saale keinem näher befreundeten Gesicht zu begegnen. Von jüngeren Männern war niemand da, den er kannte. Auch Bninski nicht, und bei dieser Wahrnehmung stieg ihm plötzlich wieder das Blut in die Stirn, und er wechselte die Farbe, freilich nur, um sich schon im nächsten Augenblicke wieder der Vorstellungen zu schämen, womit ihn seine Eifersucht in immer neuen Anfällen verfolgte.

Endlich wurd' er eines holsteinischen Baron Geertz, Hofkavaliers bei der Königinwitwe, ansichtig, der, mit Jürgaß intim und im Ladalinskischen Hause aus- und eingehend, im Laufe des Winters einigen Kastaliasitzungen beigewohnt hatte. Unser Freund näherte sich ihm und fragte nach Jürgaß und Tubal. »Ich bin eben auf dem Wege zu ihnen«, damit schritt der Baron auf eine an der entgegengesetzten Schmalseite des Saales befindliche Tür zu, schlug die Portiere zurück und ließ Lewin eintreten, während er selber folgte.

Es war das uns wohlbekannte Arbeitszimmer des Geheimrats, das aber heute, um es als Gesellschaftsraum mitverwenden zu können, eine vollständige Umgestaltung erfahren hatte. Wo sonst das Windspiel und die Goldfischchen ihre bevorzugten Plätze hatten, standen Blumenkübel mit eben damals in die Mode gekommenen Hortensien, während vor den hohen, jeder Wegschaffung spottenden Aktenregalen dunkelrote, mit einer schwarzen, griechischen Borte besetzte Gardinen ausgespannt worden waren. Nur das Bild der Frau von Ladalinski war geblieben. Der große Schreibtisch hatte einem vielfarbigen Diwan und einer Anzahl zierlich vergoldeter Ebenholzstühle Platz gemacht, die sich um einen chinesisch übermalten Tisch gruppierten. Hier saßen die Freunde vor einer unverhältnismäßig großen Zahl leerer Gläser der verschiedensten Form und Farbe und empfingen Lewin mit einem so freudelauten Zuruf, wie die gesellschaftliche gute Sitte nur irgendwie gestattete. Hauptmann Bummcke und Rittmeister von Jürgaß, die sich's auf dem Diwan selbst bequem gemacht hatten, nahmen ihn in die Mitte; Tubal, auf einem der Ebenholzstühle, saß gegenüber; Baron Geertz und ein Kammerherr Graf Brühl rückten ein und schlossen den Kreis. Bummcke, der vor einer Viertelstunde schon, ehe die Anglaise begann, mit Kathinka gewalzt und, dem beständigen Fächeln mit seinem Batisttuch nach zu schließen, die gehabten Anstrengungen noch immer nicht überwunden hatte, hatte das Wort.

»Es will nicht mehr gehen, Tubal, und doch tanzt es sich mit Ihrer Schwester wie mit einer Fee.«

»Wo sie nur sein mag«, warf Graf Brühl ein, »ich suche sie seit zehn Minuten. Aber umsonst.«

»Sie kleidet sich um für die Mazurka«, erwiderte Tubal.

»Und wie sie mich abgeführt hat«, fuhr Bummcke fort, einen Diener heranwinkend, der mit einem Sherrytablett eben in der Türe erschien. »Ich wollte ihr etwas Verbindliches sagen – deliziöser Sherry, Baron Geertz, lassen Sie die Gelegenheit nicht vorübergehen –, und so sagt' ich ihr, mein gnädigstes Fräulein, sagt' ich, wenn ich so Ihren vollen Namen höre: Kathinka von Ladalinska, da ist es mir immer wie Janitscharenmusik, ja auf Ehre, es tingelt und klingelt wie das Glockenspiel vom Regiment Alt-Larisch.«

»Und was antwortete sie?« fragte Jürgaß, während Lewin und Tubal Blicke wechselten.

»Nun, sie antwortete kurz: ›Da passen wir ja zusammen‹, und als ich, nichts Gutes ahnend, etwas verlegen anklopfte: ›Darf ich fragen: wie, mein gnädigstes Fräulein?‹ Da sagte sie: ›Aber, Hauptmann Bummcke, es überrascht mich einigermaßen, Ihr feines Ohr auf die musikalische Bedeutung von anderer Leute Namen beschränkt zu sehen. Muß ich Ihnen wirklich das Instrument erst nennen, das sozusagen von Ihrer ersten Namenssilbe lebt?‹ Und dabei nahm sie meinen Arm, und ich mußte ihr schließlich noch dankbar sein, in dem eben wieder beginnenden Tanze meine Verlegenheit verbergen zu können.«

Die ganze Tafelrunde stimmte lachend in die Heiterkeit des sich selbst persiflierenden Erzählers ein, und nur Jürgaß, während er sorgfältig ein Korkbröckelchen aus seinem Sherryglase herausfischte, gefiel sich in einer Haltung erkünstelten Ernstes.

»Ihnen ist nicht zu helfen, Bummcke. Warum tanzen Sie noch? Wer sich in Gefahr begibt, kommt drin um. Aber ich kenne euch, ihr Herren von der Infanterie! Das ist die Eitelkeit aller dicken Kapitäns, durch einen raschen Walzer ihre Schlankheit beweisen oder gar wiederherstellen zu wollen. Nein, Bummcke, Sie tanzen entweder zu viel oder zu wenig. Zu viel für das Vergnügen, zu wenig für die Kur. Tanzen ist Lieutenantssache. Mit neununddreißig ist man ein Mann der Dejeuners, der kurzen und langen Sitzungen, und wenn es eine Kastaliasitzung wäre. Apropos, Lewin, wann haben wir die nächste?«

»Wenn wir den Dienstag festhalten, morgen.«

»Mir recht, und ich werd' es Hansen-Grell und die andern wissen lassen. Himmerlichs und Rabatzkis sind wir sicher. Aber wie steht es mit Ihnen, Tubal? Unseres Freundes Bummcke, der, wie ich wahrzunehmen glaube, wegen indiskreter Enthüllung seines Lebensalters mit mir zürnt, werd' ich mich persönlich zu bemächtigen wissen. Es darf niemand fehlen; denn nach wie vor beflissen, dem ermattenden Springquell der Kastalia einen neuen Sprudel zu geben, hab' ich abermals für frische Kräfte Sorge getragen. Ich sage Kräfte; beachten Sie den Plural. Es sind eben ihrer zwei, mit denen ich komme, zwei verwundete Kameraden. Weiteres morgen, wenn ich die Ehre haben werde, Ihnen die beiden Herren vorzustellen. Heute nur noch das. Es waren ihrerzeit Poeten, wie wir deren wohl oder übel jetzt so viele unter unseren jungen Leutnants haben; aber die Kampagnen, die spanische und die russische – denn in der Tat, beide Herren treffen hier von Nord und Süd her in unserer guten Stadt Berlin zusammen – haben ihnen nach der Seite der Dichtung hin nichts abgeworfen. Smolensk und Borodino lagen nicht günstig für die Lyrik. Was sie mitgebracht haben, sind Wunden und Tagebuchblätter. Aber auch das muß willkommen sein.«

»Und ist es«, bestätigte Lewin, der sich jetzt erhob, um in den Tanzsaal zurückzukehren. Dies gab das Zeichen für alle; selbst Bummcke, der eben gehörten Ermahnungen uneingedenk, schob das erst halbgeleerte Glas beiseite und folgte.

Sie hätten den Moment nicht glücklicher wählen können; die vier Mazurkapaare, Bninski und Kathinka, dazu die schlesischen Grafen Matuschka, Seherr-Thoß und Zierotin mit ihren jungen und schönen Frauen waren eben zum Tanze angetreten, Herren und Damen in einem Kostüm, das, ohne streng national zu sein, das polnische Element wenigstens in quadratischen Mützen und kurzen Pelzröcken andeutete. Es waren jene vier Paare, deren Tubal in seinem Billett erwähnt und die schon auf der Wylichschen Soiree geglänzt hatten. Und nun begann der Tanz, der, damals in den Gesellschaften unserer Hauptstadt Mode werdend, dennoch, wenn Polen oder Schlesier von jenseits der Oder zugegen waren, in begründeter Furcht vor ihrer Überlegenheit immer nur von diesen getanzt zu werden pflegte.

Alles hatte sich des graziösen Schauspiels halber herzugedrängt, so daß es schwer hielt, in Nähe der Tür noch einen Platz zu gewinnen. Bummcke, dessen Embonpoint die Schwierigkeiten verdoppelte, gab es auf, sich neben dem riesengroßen Major von Haacke und der Doppelkonsistorialratsfigur des Oberhofpredigers Sack siegreich zu behaupten, und kehrte in das Sanktuarium zurück, wo er zu seiner nicht geringen Überraschung Jürgaß und Baron Geertz in den zwei Diwanecken bereits wieder vorfand.

»Tres faciunt collegium. Ich verzeichne diesen Tag als den Tag Ihrer Bekehrung«, empfing ihn Jürgaß. »Besser spät als nie. Neben dem Tanzen ist das Tanzensehen das Schlimmste, schon um der Verführung willen, die notorisch in allem conspectus liegt.«

Ein Livreediener, augenscheinlich für diesen Abend nur eingekleidet, ging vorüber.

»Alle Teufel, Grützmacher, wo kommen Sie hierher? Aber das trifft sich gut; ein Cliquot, gute Seele.« Dann zu Baron Geertz sich wendend, den die Vertraulichkeit überrascht haben mochte, sagte er: »Unser ehemaliger Regimentsfriseur von Goecking-Husaren.«

Der Diener kam zurück und setzte zwinkernd eine Flasche mit blankem Kork auf den Tisch.

Lewin hatte sich mittlerweile bis in die vorderste Reihe der Zuschauer geschoben und überblickte wieder den Saal wie eine halbe Stunde vorher. Von den vier Paaren, die sich in zierlicher Bewegung drehten, sah er nur eins, und während er hingerissen war von der Schönheit der Erscheinung, beschlich ihn doch zugleich das schmerzlichste der Gefühle, das Gefühl des Zurückstehenmüssens und des Besiegtseins, nicht durch Laune oder Zufall, sondern durch die wirkliche Überlegenheit seines Nebenbuhlers. Er empfand es selbst. Alles, was er sah, war Kraft, Grazie, Leidenschaft; was bedeutete daneben sein gutes Herz? Ein Lächeln zuckte um seine Lippen, er kam sich matt, nüchtern, langweilig vor. Die alte Gräfin Reale, seiner ansichtig werdend, setzte wieder die großen Kristallgläser auf und ließ nach kurzer Musterung das Lorgnon fallen mit einer Miene, die das Urteil, das er sich selber eben ausgestellt hatte, untersiegeln zu wollen schien. Die beiden Locken des Fräuleins von Bischofswerder hingen noch länger und trübseliger herab. Es schien ihm alles ein Zeichen.

Der Tanz war vorüber; alles drängte in den Saal, um den vier reizenden Damen Dank und Bewunderung auszusprechen; auch Bummcke und Jürgaß zeigten sich und schienen durch ihr plötzliches Wiedererscheinen ihre halbstündige Abwesenheit verleugnen zu wollen.

Unter den Beglückwünschenden war auch der alte Ladalinski selbst; er plauderte eben mit der schönen Gräfin Matuschka, die, soweit Teint und Taille mitsprachen, sich siegreich selbst neben Kathinka behauptet hatte, als einer der Lakaien an ihn herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Der Geheimrat setzte noch einen Augenblick die Unterhaltung fort, verbeugte sich dann gegen die junge Gräfin und folgte dem Diener. Auf dem Vorflur fand er einen Boten aus dem Auswärtigen Departement, der ihm ein kuvertiertes Schreiben überreichte. Der Geheimrat, in Verlegenheit, wo er von dem Inhalt desselben Kenntnis nehmen sollte, trat in das Garderobezimmer und erbrach das Schreiben. Es waren nur wenige Worte.

» York hat kapituliert. Ein Adjutant Macdonalds brachte dem französischen Gesandten die Nachricht. Der Staatskanzler fährt eben zum König.«

»Wer gab Ihnen den Brief?« fragte Ladalinski.

Der Bote nannte den Namen einer dem Ladalinskischen Hause befreundeten Exzellenz, die zugleich die rechte Hand Hardenbergs war.

»Ich lasse Seiner Exzellenz meinen Dank und meinen Respekt vermelden.« Damit steckte der Geheimrat das Schreiben zu sich und kehrte in die Gesellschaft zurück.

Er war entschlossen, zu schweigen; als er aber an dem Mittelfenster des Saals Kathinka und Bninski und gleich darauf auch Tubal in eifrigem Gespräche sah, ließ es ihm keine Ruhe, und er schritt auf die Plaudernden zu.

»Ich hab euch eine Mitteilung zu machen, auch Ihnen, Graf; aber nicht hier.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich nach dem zunächstgelegenen Seitenzimmer, das, für gewöhnlich von

Kathinka bewohnt, heute, wie sein eigenes Arbeitskabinett, mit in die Reihe der Empfangsräume hineingezogen worden war. Einige Paare, deren Herzensbeziehungen vielleicht nicht älter waren als dieser Abend, hatten in der Stille dieses ohnehin nur durch wenige Lichter und eine rubinrote Ampel erleuchteten Boudoirs eine Zuflucht gesucht; jetzt aufgescheucht, verließen sie, je nach ihrem Temperamente, heiter oder mit einem Anfluge von Verstimmung ihre Plätze.
Kathinka wies auf die Stühle, die frei geworden waren; aber Ladalinski sagte: »Nehmen wir nicht Platz, wir können uns ohnehin der Gesellschaft nicht entziehen. Was ich zu sagen habe, ist kurz: York hat kapituliert.«

»Eh bien!« bemerkte Kathinka, offenbar enttäuscht, nach all dem Ernst, den ihr Vater zur Schau getragen hatte, nichts weiter zu hören als das. Sie war durchaus unpolitisch und kannte nur Persönliches und Persönlichkeiten.

»Kathinka!« rief der Graf, in der Erregung des Moments sich einen Augenblick vergessend, verbesserte sich aber schnell und setzte mit Förmlichkeit hinzu: »Mein gnädigstes Fräulein!« In seiner Stimme lag ein leiser Vorwurf. Dann, zu dem Geheimrat sich wendend, dem der Wechsel in der Anrede, erst vertraulich, dann förmlich, nicht entgangen war, sagte er: »Kapitulation! Das heißt, er ist zu den Russen übergegangen.«

»Ich vermute es.«

Bninski stampfte mit dem Fuße: »Und das nennen sie Treue hierlandes!«

Dann und wann erschien ein Kopf an der Portiere, um ebenso schnell wieder zu verschwinden; der Graf aber, in seiner Erregung weder das eine noch das andere wahrnehmend, fuhr mit Bitterkeit fort:

»O dies ewige Lied von der deutschen Treue! Jeder lernt es, jeder singt es, und sie singen es so lange, bis sie es selber glauben. Die Stare müssen es hierzulande pfeifen. Ich bin ganz sicher, daß dieser General York alles verachtet, was nicht einen preußischen Rock trägt, und das Ende davon heißt ›Kapitulation‹!«

Eine peinliche Pause folgte; keiner vermochte das rechte Wort zu finden, und während in dem alten Ladalinski sich polnisches Blut und preußische Doktrin wie Feuer und Wasser befehdeten, fühlte Kathinka, daß sie durch ihr unbedachtes »Eh bien« diesen Sturm zur Hälfte heraufbeschworen hatte.

Tubal faßte sich zuerst: »Ich glaube, Graf, Ihr Eifer verwirrt Ihr Urteil. Sie wissen, wie ich stehe; überdies sichert mich meine Geburt gegen den Verdacht eines engherzigen Preußentums.«

Der Geheimrat wurde befangen; Tubal aber, der es nicht sah oder nicht sehen wollte, sprach in ruhigem Tone weiter:

»Nehmen wir den Fall, wie er liegt. Was geschehen ist, ist ein politischer Akt. Solange es eine Geschichte gibt, haben sich Umwälzungen, auch die segensreichsten, durch einen Wort- oder Treuebruch eingeleitet. Ich erspare Ihnen und mir die Aufzählung. Wenn es Ausnahmen gibt, so sind es ihrer nicht viele, oder kluge Vorsorglichkeiten haben das Odium zu eskamotieren gewußt.«

Der alte Ladalinski atmete auf, während Tubal fortfuhr: »Wer vor große, jenseits des Alltäglichen liegende Aufgaben gestellt wird, der soll sich ihnen nicht entziehen, am wenigsten sich zum Knecht landläufiger Begriffe von Ruf und gutem Namen machen. Er soll nicht kleinmütig vor Verantwortung zurückschrecken, denn darauf läuft diese ganze Ehrensorge hinaus. Mit Gott und sich selber hat er sich zu vernehmen. Er soll sich zum Opfer bringen können, sich, Leben, Ehre. Geschieht es in rechtem Geiste, so wird er die Ehre, die er einsetzt, doppelt wiedergewinnen. Das ist der ewige Widerstreit der Pflichten, zwischen deren Wert es abzuwägen gilt. Eine Treue kann die andere ausschließen. Wo die Bewährung der einen durch die Verletzung der anderen erkauft werden muß, da wird freilich immer ein bitterer Beigeschmack bleiben; aber gerade der, der diesen Beigeschmack am bittersten empfindet, wird aus den reinsten Beweggründen heraus gehandelt haben.«

»Und es ist General York, an den Sie dabei denken?« fragte Bninski mit einem Anfluge von Spott.

»Gerade an ihn dacht' ich. Kurz, Graf, Sie dürfen ihn verurteilen, nicht verdächtigen. Was seine Tat gilt, wird sich zeigen; seine Ehre aber, wie sie meines Schutzes nicht bedarf, sollte gegen jeden Zweifel oder Angriff gesichert sein.«

Es schien, daß Bninski antworten wollte, aber die Musik begann wieder, und die jetzt halb zurückgeschlagene Portiere ließ erkennen, daß die Paare zu einem Contre zusammentraten. Kathinka, mit dem jungen Grafen Brühl engagiert, mahnte zum Abbruch des Gesprächs, das ohnehin andere Wege gegangen und von längerer Dauer gewesen war, als der Geheimrat bei Beginn desselben vorausgesehen hatte. Manches war ihm peinlich gewesen; nur Tubals gute Haltung hatte ihn mit diesem Peinlichen wieder versöhnt.

Ehe der Contre zu Ende war, wußte die ganze Gesellschaft von dem großen Ereignis. Die Wirkung war um vieles geringer, als erwartet werden durfte. Die Herren versicherten, »daß sie nicht überrascht seien, daß sich vielmehr nur ein Unausbleibliches vollzogen habe«. Die Damen dachten der Mehrzahl nach wie Kathinka und waren nur klug genug, mit einem gleichmütigen »Eh bien« zurückzuhalten. Aber wie gering die Wirkung sein mochte, sie war doch groß genug, eine gewisse Zerstreutheit hervorzurufen und dadurch die Gesellschaft zu stören. Schon um zwölf fuhren die ersten Wagen vor, und ehe eine halbe Stunde um war, hatten sich die Säle geleert.

Bummcke, Jürgaß, Lewin, zu denen sich auch Baron Geertz und der alle andern beinahe um eine Haupteslänge überragende Major von Haacke gesellt hatten, gingen zusammen die Treppe hinunter. Unten trennte sich Lewin von ihnen; die vier andern Herren aber hatten denselben Weg und schritten auf die Lange Brücke zu. Als sie die Mitte derselben erreicht hatten, sahen sie zu dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf, das in seiner oberen Hälfte vom Marstall und alten Postgebäude her, in deren Fenstern noch Licht war, beleuchtet wurde. Der prächtige Kopf schien zu lächeln.

»Seht«, sagte Jürgaß, »er sieht nicht aus, als ob es mit uns zu Ende ginge.«

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