Theodor Fontane
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Neunzehntes Kapitel
Der Überfall
Während in der Pfarre Seidentopf und die drei Frauen in dieser Weise plauderten, rückten die Kompanien auf Frankfurt zu. Einzelne Sterne, kaum hervorgekommen, hatten sich ebenso rasch wieder versteckt, und nur der Schnee, der lag, gab gerade Licht genug, um des Weges nicht zu fehlen. Schweigsam, in dunkler Kolonne ging der Marsch, und wer hundert Schritte seitwärts gestanden hätte, hätte nichts wahrgenommen als einen langen Schattenstrich und dann und wann ein paar Funken aus den kurzen Pfeifen der Landsturmmänner. Die Krähen sahen dem Zuge nach, verwundert, aber ohne sich zu rühren, und nur ein paar von ihnen flogen krächzend auf, um es am Wege hin den andern zu melden. Dabei senkte sich das Gewölk immer tiefer, und jeder empfand es wie Schwüle, trotzdem eine kalte Luft strich.
So kamen sie bis Reitwein, wo noch überall Licht war. Viele von den Dörflern, auch hier meistens Frauen, waren bis auf den Fahrweg hinausgetreten, um ihre in der Kolonne befindlichen Angehörigen zu begrüßen, andere blieben in den Türen stehen und wehten und winkten mit weißen Tüchern, was in dem Dunkel, das herrschte, einen unheimlichen Eindruck machte.
Hinter dem Dorfe teilte sich der Weg. Als die Kolonnenspitze den Gabelpunkt erreicht hatte, schwenkten die Barnimschen Bataillone, ganz wie es Seidentopf vermutet hatte, nach links hin in die Niederung ab, während die andere Hälfte des Zuges auf dem Plateau hin weitermarschierte. Bei dieser zweiten Hälfte befand sich, außer dem Kommandierenden und seinem Adjutanten, auch unser Landsturmbataillon Lebus.
An der Spitze desselben, den vordersten Rotten um fünfzig Schritte voraus, ritten Drosselstein und Vitzewitz. Sie kannten Weg und Steg und hatten auf Bammes ausdrücklichen Wunsch die Führung während des Marsches übernommen. Beiden war nicht plauderhaft zu Sinn; endlich aber, als die letzten Reitweinschen Häuser schon in Büchsenschußentfernung hinter ihnen lagen, begann Drosselstein: »Ein Glück, daß wir Hirschfeldt an der Seite des Generals haben. Er ist kaltblütig und kennt den Krieg.«
»Ja«, bestätigte Vitzewitz. »Und ein Glück um so mehr, als der Alte sich selber mißtraut. Er war eitel genug, das Kommando, das wir ihm anboten und in Anbetracht aller Umstände wohl oder übel anbieten mußten, auch wirklich anzunehmen; jetzt aber ist er unsicher, weil er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen fühlt. Am liebsten würd' er es jedem einzelnen sagen, und ich rechne es ihm hoch an, daß er darauf verzichtet und sich wenigstens den Leuten gegenüber zum Schweigen zwingt. Er ist kein Mann der ruhigen Überlegung und nur waghalsig für seine Person. Die Verantwortlichkeit drückt ihn. Diese Stunden sind übrigens die schlimmsten. Ist er erst in Aktion, wird er sich selber wiederfinden.«
»Und diese Aktion, wie wird sie ablaufen?« fragte der Graf.
»Ich hoffe, gut; es wäre denn...«
Drosselstein sah ihn fragend an.
»Es wäre denn«, wiederholte Vitzewitz, »daß uns die Russen im Stich ließen.«
»Ich habe nicht nur Tschernitscheffs Zusicherung, ich habe sie, wie Sie wissen, gestern zum zweiten Male empfangen. Er ist kein Mann der Eifersüchteleien.«
»Vielleicht nicht«, antwortete Vitzewitz. »Aber ich kenne die Russen, sie sind launenhaft und lassen es an sich kommen. Dabei haben sie jene glatten gesellschaftlichen Formen, die die Sache nur noch schlimmer machen. Sie versprechen alles und wissen im voraus, daß sie das Versprochene nicht halten werden, wenigstens fühlen sie sich nicht in ihrem Gewissen gebunden. Es fehlt ihnen zweierlei: Ehrgefühl und Mitgefühl. Und Tschernitscheff ist wie die anderen. Es ist möglich, daß er kommt, aber es ist andererseits nicht unmöglich, daß er nicht kommt. Und das ist es, was mir Furcht und Sorge macht.«
Drosselstein suchte zu widerlegen, aber seine Worte verrieten deutlich, daß er im Grunde seines Herzens Berndts Befürchtungen teilte.
In der nachrückenden Kolonne war nach wie vor alles still. Schulze Kniehase führte den ersten Zug, Lewin den zweiten, Tubal den dritten. Zwischen dem zweiten und dritten Zuge ging Hanne Bogun. Bamme, seiner hohen Fuchsstute mißtrauend, hatte auf ein Reservepferd bestanden, und der Scharwenkasche Hütejunge war ausersehen worden, den Shetländer am Zaume nachzuführen. In der ganzen Kolonne war er der einzige, dem es wirklich wohl ums Herze war. Eitel und seit dem Tage, wo die »Suche« stattgefunden hatte, von einem immer wachsenden Dünkel gequält, war er auch jetzt wieder begierig, sich hervorzutun, und zweifelte keinen Augenblick, daß sich die Gelegenheit dazu finden würde. Schon sein Aufzug deutete darauf hin; er trug eine Friesjacke und Leinwandhose wie gewöhnlich, aber über die Jacke war ein breiter Ledergurt geschnallt, in den er einen Schlitz gemacht und ein langes, in der Mitte ausgeschliffenes Messer hineingesteckt hatte. Der ganze Junge das Bild eines frechen Tunichtgut.
Tubal, den die Stille bedrückte, trat ein paar Schritte vor und sagte zu dem Einarm: »Hanne, wie heißt das nächste Dorf?«
»Podelzig.«
»Eine halbe Meile, nicht wahr?«
»Joa; awers de de Voß 'meten hett.«
»Wieso?«
»De giwt immer sien'n Swans noch to.«
»Und Podelzig ist halber Weg bis Frankfurt?«
Hanne Bogun nickte.
»Höre, Hanne«, fuhr Tubal fort, »wie war es doch damals, war nicht einer von den Rohrwerderschen aus Podelzig?«
»Joa, Rosentreter.«
»Richtig, Muschwitz und Rosentreter. Nun hab' ich sie wieder. Muschwitz, das war der mit der französischen Uniform und dem Tschako. Weißt du noch?! Was ist denn aus ihm geworden und aus dem andern?«
»De sitten beed' noch.«
»Und die hübsche Frau, die das Kind in dem Schlittenkasten nachfuhr?«
»De sitt ooch noch.«
»Arme Frau.« – Hanne grinste.
»Dat's all nich so schlimm, junge Herr. Rysselmann kachelt in, und upp'n Rohrwerder doa wihr et man küll. Bi Winterdag wüll'n se all insitten; awers wenn de Kalmus kümmt, denn is et wat anners, denn wüll'n se all wedder rut.«
Tubal fragte noch nach dem Spitzkrug und wie weit er vor der Stadt läge. Hanne Bogun wußte aber nichts davon; er war über Podelzig nicht hinausgekommen.
An der Queue der Kolonne ritten Bamme und Hirschfeldt.
»Nun, Hirschfeldt, wie ist Ihnen?«
»Gut, Herr General.«
»Freut mich. Ehrlich gestanden, mir will es nicht glücken; ich bin nicht recht in meinem esse, alles kommt mir zu hochbeinig vor, besonders meine Stute. Und solch Überfall ist doch ein eigen Ding, ein Pferd wiehert, ein Hund blafft, und alle Chancen sind hin. Spielen Sie, Hirschfeldt?«
»Ich habe gespielt.«
»Nun, dann wissen Sie, den einen Tag weiß man ganz genau, daß Treff sieben gewinnen wird, und den andern Tag weiß man es nicht.«
»Und solch ein Tag ist heute?«
»Hol' mich der Geier, ja. Sehen Sie die Krähen an, die hier oben sitzen, sie rühren sich nicht einmal. Sie wissen, daß wir ihnen vor Angst nichts tun werden. Kluge Tiere. Eben ritt ich die Kolonne herunter, Gott, wie das alles schleicht, so schwarz und still, als ob dieser Graben der Fluß in der Unterwelt wäre. Wie hieß er doch?«
»Styx.«
»Richtig, Styx. Der reine Leichenzug. Und ich wette, den Kerls ist auch so zumute. Jeder wäre lieber zu Haus.«
Hirschfeldt lächelte.
»Es ist immer so, General. Die beste Truppe macht ein schief Gesicht, eh' es losgeht. Und nun gar bei Nacht. Die Nacht ist keines Menschen Freund, sagt das Sprichwort, und der Soldat ist auch ein Mensch. Aber die Leute sind gut. Die Pikenkompanie unter dem hagern alten Herrn...«
»Rutze.«
»... Diese Pikenkompanie kann als Muster gelten, und die Kompanie Hohen-Vietz kommt ihr gleich. Sehen Sie solchen Mann wie diesen Kniehase, ein Herz wie ein Kind und ein paar Arme wie ein Athlet. Ich habe mir heute bei der Revue jeden einzelnen scharf angesehen. Es wird alles in allem gut ablaufen, immer vorausgesetzt...«
»Nun?«
»Immer vorausgesetzt, daß uns die Russen nicht im Stiche lassen.«
Bamme nickte und sagte dann zustimmend: »Ich traue dem Tettenborn nicht. Flausenmacher. Will sich in die Zeitungen bringen. Berlin, Berlin. Alles dies hier ist ihm zu wenig, macht nicht Aufsehen genug.«
Es war ganz ersichtlich, daß Bamme den ernsten und beinahe feierlichen Tschernitscheff mit dem etwas leichtfüßigen Tettenborn, der seit vollen drei Tagen auf dem Hohen-Barnim, zwischen Küstrin und Berlin, umherschwärmte, verwechselte. Hirschfeldt war auch willens, den Alten respektvollst darüber aufzuklären, dieser aber fuhr ohne Pause fort: »Sie glauben nicht, Hirschfeldt, was ich an solchen Eitelkeiten alles habe scheitern sehen! Und was noch schlimmer ist als die Eitelkeiten, das sind die Rivalitäten, doppelt und dreifach, wenn sie sich ein politisches oder nationales Mäntelchen umhängen können. Und nun gar diese Russen! Ich wette, daß uns jeder von ihnen eine Schlappe gönnt. Es liegt ihnen daran, der Welt und vielleicht auch sich selber weiszumachen, daß es ohne Kosaken nicht geht und daß überall, wo diese Hilfe fehlt, eine Niederlage sicher ist. Sie gefallen sich in ihrer Befreierrolle, und um so mehr, je neuer ihnen die Rolle ist.«
Unter solchen Gesprächen setzte sich der Marsch der Kolonne fort, und durch die Nacht hin hörte man nichts als den schweren Tritt der Landsturmmänner auf dem hartgefrorenen Schnee und von Zeit zu Zeit das Klappern ihrer Piken und Gewehre, wenn sie diese von der einen Schulter auf die andere legten. Um zehn Uhr passierten sie Podelzig, um elf die Lebuser Schäferei. Von hier aus war es noch anderthalb Stunde; immer schwankender wurde der lange schattenhafte Zug, bis man es von der Oberkirche her Mitternacht schlagen hörte; einige Minuten später hielten alle am Spitzkrug. Die beiden Barnimschen Bataillone waren schon da und standen zu beiden Seiten des Wegs. Eine kurze Rast war unerläßlich; Bamme ließ die Gewehre zusammenstellen, und gleich darauf saßen die Landsturmmänner auf Zaunplanken und Chausseesteinen und wickelten aus ihren Sacktüchern heraus, was ihnen Weib und Kind an Zehrung mit auf den Weg gegeben hatten. Kein Wort fiel; jeder fragte sich still, ob es wohl seine letzte Mahlzeit sei.
Bamme war während dieser Lagerszene in den Spitzkrug eingetreten, in dessen großem, aber niedrigem und spärlich erleuchtetem Gastzimmer er den erwarteten Vertrauensmann der Frankfurter Bürgerschaften bereits vorfand. Aus seinem Rapport ergab sich, daß alle Häuser am Nikolaikirchplatz mit Bürgerwehren besetzt, in der alten Kirche selbst aber die besten Mannschaften versteckt seien, mit denen Othegraven den General Girard gefangenzunehmen gedenke. All dies wurde mit Freude gehört; eine zweite Mitteilung indessen, dahingehend, daß unten am Eingang in die Vorstadt, keine hundert Schritt' vom »letzten Heller« entfernt, eine französische Schildwache stehe, war desto unerfreulicher und nur angetan, ernste Verlegenheiten zu bereiten. Was tun, wie sollte man an dieser Schildwache vorbei?
Der Spitzkrugwirt erbot sich, noch einmal nachzusehen. Bamme war es zufrieden und ließ inzwischen die Brigade wieder antreten. Er selbst hielt am rechten Flügel, in Front des Bataillons Lebus. Nicht lange, so war der Wirt zurück und bestätigte, daß ein französischer Wachtposten vor dem Sankt Georgshospitale schildere.
»Verdammt!« sagte Bamme, »dieser Kerl ist mir im Wege. Wir müssen ihn beschleichen und niederstoßen. Freiwillige vor!«
Aber keiner rührte sich. Nur Hanne Bogun trat aus Reih' und Glied und sah dem General entschlossen, aber frech und widerwärtig ins Gesicht. Er hatte das lange Messer, das ihm bis dahin zur Seite gehangen hatte, mehr nach vorn hin in den Ledergurt geschoben und hielt es mit seiner einen Hand umfaßt.
Bamme gab dem Jungen einen Jagdhieb und sagte: »Nichts für dich, Hanne«, worauf dieser grinsend zurücktrat, um wieder den Zaum des Shetländers zu nehmen, den er einen Augenblick abgegeben hatte.
Eine peinliche Pause folgte.
Endlich hörte man Kniehases Stimme vom rechten Flügel her: »Wenn es sein muß, Herr General...«
Und es lag etwas in dem Ton und Ausdruck dieser Worte, das eines tiefen Eindrucks nicht verfehlte. Bamme, der mit unter diesem Eindruck war, preßte seine Fuchsstute dicht an die Schulter des athletischen alten Mannes und sagte dann: »Nein, Kniehase, lassen wir's. Es muß nicht sein.« Und damit fiel ein Stein von aller Brust. Ein Vorschlag, der schon vorher gemacht worden war, wurde wieder aufgenommen und im Einklange damit beschlossen, die lange Vorstadt ganz zu vermeiden, vielmehr dicht neben derselben hin, im Schutze des sogenannten »Donischberges«, eines mit Werft und Strauchwerk bestandenen Hügelrückens, bis an die Altstadt vorzudringen. Erst hier, am Tore selbst, sollte dann coûte que coûte der Kampf aufgenommen werden.
Und sofort jetzt, unter Belassung eines den Rückzug sicherstellenden Bataillons am Spitzkruge, wurden alle nötigen Kommandos für den Vormarsch gegeben. Die beiden Barnimschen Bataillone setzten sich über das Plateau hin in Bewegung, um die weiter südlich gelegenen Tore zu gewinnen, während das Bataillon Lebus die mehrgenannte Hügelstraße hinunterrückte. Dicht vor dem »letzten Heller« bog es nach rechts hin ab und marschierte zunächst in aufgelöster Ordnung, immer zwischen den Windungen des Donischberges hin, auf die ringförmige Esplanade zu, die den Kranz der Vorstädte von der Altstadt trennte.
Kompanie Hohen-Vietz hatte die Tête. Als sie den Platz am Graben erreicht und mit der Raschheit alter Soldaten sich wieder rangiert hatte, setzte sich Vitzewitz an die Spitze der Seinen, zog den Degen und ritt im Galopp gegen die Dammbrücke vor, die, über den Graben weg, auf das alte Lebuser Tor zuführte. Dieses war geschlossen, und durch das obere Gatter fielen einzelne Schüsse. Kümmritz, der schon anno vierundneunzig als »Kugelfang« gegolten hatte, erhielt einen Streifschuß, gleich darauf einen zweiten, ohne daß seine gute Laune oder die der Zunächststehenden gestört worden wäre; jetzt aber stürzte der Sohn des alten Bauers Püschel zusammen, Kugel durch die Brust, und Vitzewitz, zurückprallend, murmelte vor sich hin: »Der erste Tote.«
Alles stockte; Schreck und Ratlosigkeit. Es ging nicht weiter.
In diesem Augenblicke jagte Bamme die lange Kolonne herauf, bis in die Front des Zuges, und mit seinem dicken Fischbein auf die zweiräderigen Karren zeigend, die nach rechts hin in der von ihm Tages zuvor schon wohlbemerkten Torausbuchtung standen, rief er Kniehase zu: »Vier Mann vor! Ich kenn' unsere Stadttore; wurmstichig wie Bierpfropfen. Ran! Und weg mit dem Bettel!«
Und krach, da lag es, und unter Hurra brachen jetzt unsere Vordersten in Alt-Frankfurt ein. Alles vom Feinde floh in die Wache; nur der Posten vorm Gewehr, ein Voltigeur mit einem Spitzbart, hielt noch aus, und Vitzewitz hob eben den Arm, um ihn in Revanche für den Toten, der draußen vor dem Gattertore lag, niederzuhauen, als Hanne Bogun aalglatt an ihm vorbeischoß und den Voltigeur von der Seite her niederstach.
»Petit crevé!« rief der tödlich Getroffene und sank zu Boden.
Der Rest des Bataillons rückte nach, und als sich in den nächstfolgenden Minuten alles auf dem Brückendamm und zum Teil auch schon unter dem tiefen Torgewölbe gesammelt hatte, gab Bamme Befehl, daß Kompanie Hohen-Vietz, und zwar unter Befehl Kniehases, als zunächst verfügbare Reserve bei der von ihr erstürmten Torwache verbleiben, Vitzewitz selbst aber (dessen Rats er nicht entbehren mochte) ihn auf dem weiteren Vormarsch in die Stadt hinein begleiten solle. Ebenso Hanne Bogun mit dem Shetländer.
Kaum daß diese Befehle gegeben waren, als sich auch schon die lange Kolonne nach vorn hin in Bewegung setzte: Kompanie Hohen-Ziesar vorauf, dann Lietzen-Dolgelin, dann Rutze mit seinen Pikenieren. Als der letzte Mann vorüber war, warf Bamme seine Fuchsstute herum, gab ihr die Sporen und setzte sich en ligne mit Drosselstein, der mittlerweile schon das Gassengewirr der Innenstadt erreicht hatte.
»Links schwenkt!« Die Führer wiederholten das Kommando, und ohne daß irgendeine Stockung oder Unordnung stattgefunden hätte, defilierten alle drei Kompanien auf den öden Kirchplatz, an dessen einer Ecke das Turganysche Haus gelegen war. Diesseits war noch alles in Halbdunkel; kaum aber daß unsere Landsturmmänner an beiden Seiten der Kirche vorbei den abwärts gelegenen Teil des Platzes erreicht hatten, als sich ihren Blicken ein völlig verändertes Bild entgegenstellte. Vor dem Gasthofe mit den verschnittenen Linden standen zahlreiche Bürgerwehren, in allen Etagen schimmerte Licht, und ehe Bamme noch Zeit zu Überblick und Orientierung gefunden hatte, meldete Othegraven, daß General Girard und sein Stab gefangengenommen und auf Ehrenwort in ihren Zimmern belassen worden seien. Nur eine schwache Abteilung unter Major Rudelius habe die Bewachung des Hauses und der Gefangenen übernommen.
Bamme nickte, lobte das Verhalten der Bürger und führte dann seine Kompanien in die breite, aber kurze Straße hinein, die, wie schon bei früherer Gelegenheit hervorgehoben, vom Kirchplatze her auf den Flußkai mündete. Und jetzt war dieser Kai erreicht, und ein Ausruf allgemeinen Erstaunens wurde laut. An der anderen Seite des Flusses standen der Holzhof und das Bohlenlager in Flammen, während nach rechts hin die Brücke brannte. Das Feuer drüben stieg hoch und hell in den Nachthimmel hinein, über der Brücke aber, die, des nassen Holzes halber, mehr schwelte als brannte, lagen Rauch und Qualm in dichten Wolken, aus denen nur dann und wann eine dunkle Glut auflohte.
Der alte General kommandierte: »Halt!« und ließ seinen rechten Flügel, die Drosselsteinschen, unmittelbar am Brückenaufgange Stellung nehmen. Hier hielt er auch in Person. Als er aber wahrnahm, daß er von dieser Position aus nicht Umblick genug habe, ritt er auf die Brücke selbst hinauf und postierte sich in Nähe des Feuers, das ihm zugleich eine Art Deckung gewährte. Und nun übersah er die langen Linien von Freund und Feind.
Nach links hin die Seinen, ein Bild, das ein altes Soldatenherz wohl erfreuen konnte. Erst die berittenen Mannschaften von Hohen-Ziesar, dann die Komtureifahne von Lietzen-Dolgelin (achtspitziges Kreuz im roten Feld), dann Rutze mit niedergesenktem Sponton und hinter diesem die schmucken Uniformen der Frankfurter Bürgerschützen, grün und goldbordiert – alles sichtbar im hellen Feuerschein des brennenden Holzhofes. In Front der langen Aufstellung aber Drosselstein und Vitzewitz, als Unterbefehlshaber an beiden Flügeln.
Und ebenso klar sah er drüben den Feind>/i>. In Trupps von zehn und zwanzig Mann standen die Voltigeurs am Ufer hin, ersichtlich ohne Führung. Aber diese sollte nicht lange mehr auf sich warten lassen; Offiziere zu Pferde jagten am Kai hin auf und ab, aus dem Gassengewirr der Dammvorstadt lärmten Trommeln und Hörner, und ehe zehn Minuten um waren, erschienen geschlossene Grenadierkompanien, an ihren hohen Bärenmützen deutlich erkennbar, und nahmen Stellung zwischen der Brücke und dem brennenden Holzhof, während die Voltigeurs allmählich die Böschung hinabzusteigen und einen Weg über das Eis hin zu gewinnen suchten. Mit vielem Geschick avancierten sie, je nach den Signalen sich sammelnd oder wieder trennend, und stutzten erst, als sie mitten auf dem Fluß der breiten Rinne gewahr wurden, die die Kietzer Fischer in das Eis gehauen hatten. An Überspringen war nicht zu denken, dazu war die Rinne zu breit; so mußten sie wieder zurück, um entweder Bretter herbeizuschaffen oder weiter flußabwärts, wo das Aufeisen mutmaßlich ein Ende hatte, den Übergang zu versuchen.
Bamme sah diese Rückwärtsbewegung und freute sich ihrer. Aber so viel sie für den Augenblick bedeutete, so bedeutungslos war sie, wenn die Hilfe ausblieb, auf die diesseitig gerechnet war. Waren die Russen in die Dammvorstadt eingedrungen? Hatten sich die Barnimschen Bataillone der beiden andern Stadttore bemächtigt? Bammes scharfes Ohr horchte nach rechts und links, aber kein Ton wurde laut, der ihm diese Frage bejaht hätte. Immer gewisser wurd' es ihm, daß er, wenn Tschernitscheff ausblieb, in diesem ungleichen Kampfe unterliegen müsse.
Das Bild, das sich ihm mittlerweile darstellte, konnte dieser trüben Erwartung nur als Bestätigung dienen. Die bis an die Rinne vorgedrungenen Voltigeurs waren kaum wieder am Ufer zurück, als sie mit der dem französischen Soldaten eigenen Raschheit sich in ihrer Lage zurechtzufinden und allerlei Hilfen auszukundschaften wußten. Ohne Kommandos abzuwarten, griffen sie nach dem, was der Moment erheischte, und während einige zupackten, um ein paar der am Ufer liegenden Flachboote die Böschung hinab und auf das Eis zu schieben, hatten sich andere der an den Pappelweiden hin aufgestellten Bootshaken bemächtigt, mit denen sie nun auf den brennenden Holzhof zuliefen und oben in die Bohlen- und Bretterlager einhakten, um diese niederzureißen. Es glückte. Viele dieser Bretter waren erst angeglimmt, und sie rasch durch den Schnee ziehend, bis die Flämmchen erloschen waren, schleppten sie sie jetzt über das Eis hin bis wieder in die Mitte des Flusses, wo denselben Augenblick auch ein paar eben eingetroffene Flachboote rasch und geschickt in die Wasserrinne hinabgelassen wurden. In weniger als einer Viertelstunde war die Pontonbrücke fertig, und über dieselbe weg avancierten jetzt die Vordersten, während sich vom Ufer her immer größere Voltigeurtrupps und zuletzt auch geschlossene Grenadierkompanien in Bewegung setzten. En avant! Und dazwischen am Kai hin und auf dem Eise das Schmettern der Clairons.
Diesseits aller örtlichen Vorteile beraubt, mußte sich's nun zeigen, wer der Stärkere sei. Der erste Ansturm, der sich gegen die Frankfurter richtete, mißlang; aber ohne durch dieses abermalige Scheitern in die geringste Verwirrung zu geraten, schoben sich die französischen Kolonnen einfach weiter links, wo mehrere nebeneinanderliegende Holz- und Torfkähne ihnen eine vorzügliche Deckung gewährten. Um so vorzüglicher, als die Schiffsrumpfe gerade mannshoch waren, so daß die Angreifer kaum getroffen werden konnten.
Über diese Schiffsrumpfe hinweg entspann sich nun ein Feuergefecht, dessen endlicher Ausgang um so weniger zweifelhaft sein konnte, als die hier stehenden Pikeniere den Kampf nicht nur ohne Deckung führen, sondern, schlimmer als das, auch das feindliche Feuer aushalten mußten, ohne es ihrerseits erwidern zu können. Der Mut der Rutzeschen sah sich hier auf eine harte Probe gestellt. Sie kamen zuletzt ins Schwanken, und da Vitzewitz Anstand nahm, sich an die neben ihm stehenden Drosselsteinschen um Hilfe zu wenden, die bei der immer wachsenden Ausdehnung des Gefechts jeden Augenblick selbst angegriffen werden konnten, entschloß er sich, auf eigene Verantwortung bis an die Torwache zurückzureiten und seine daselbst untätig haltenden Hohen-Vietzer heranzuholen.
Auch Bamme, von seiner Brückenstellung aus, hatte die Rückwärtsbewegung der Rutzeschen Pikenmänner wahrgenommen, und in voller Wut auf sie losjagend, rief er ihnen schon von weitem zu: »Stillgestanden! Gewehr zur Attacke rechts!« Und siehe da, sie gehorchten wirklich, legten die Piken ein und gingen wieder bis halb an die Böschung vor. Aber eben jetzt von links und rechts her einschlagende Kugeln erneuerten nicht bloß das Schwanken, sondern steigerten es noch, und Bamme sah im Nu, daß es unmöglich sein werde, die Rutzeschen en ligne mit den übrigen Kompanien zu halten. Nichtsdestoweniger warf er sein Pferd herum, um wenigstens einen Versuch zu machen, die Weichenden von hinten her wieder vorzutreiben. Und hierbei traf er auf den Protzhagenschen Hornisten, der ängstlicher noch als alle anderen nach Deckung suchte.
»Ins drei Deibels Namen, Horn von Uri, blas!« rief er und hieb mit dem Fischbein auf den verwirrten Hornbläser ein. Dieser, der Macht des Kommandoworts gehorchend, schob, ohne zu wissen, was er tat, sein altes Rutzenhorn zurecht und begann zu blasen, aber, in der Angst seines Herzens, statt des Angriffs- das Rückzugssignal. In diesem Augenblicke (ein Glück für den Protzhagenschen) erhielt die rote Fuchsstute Bammes eine Kugel, so daß diese mitsamt ihrem Reiter zusammenstürzte. Aber mit merkwürdiger Raschheit war der Alte wieder auf, bestieg den Shetländer, den Hanne Bogun in Bereitschaft gehalten hatte, und saß im nächsten Augenblicke wieder fest im Sattel.
»Ah!« sagte er, während er sich behaglich zurechtrückte, und alles Zwanges los, den ihm das »Generalspferd« von Anfang an auferlegt hatte, hatte er nun endlich sich selber wieder. Er schob das Fischbein unter den Sattel und zog den Husarensäbel, den er »Anno 95« geschworen hatte nicht wieder ziehen zu wollen.
Er hatte sich selber wieder, aber auch nichts mehr, denn die gesamte Lage war inzwischen nicht besser geworden. Die Voltigeurs, immer weiter nach rechts sich dehnend, hatten flußabwärts, an Stellen, wo das Aufeisen ein Ende nahm, ihren Übergang bewerkstelligt und schickten sich an, aus allen Nebengassen vorbrechend, unsere gesamte Aufstellung von Seite und Rücken her zu nehmen. Und schlimmer als alles, auch die wenigen, diesseits in Bürgerquartieren untergebrachten Franzosen, die sich bis dahin ruhig und versteckt gehalten hatten, gewannen jetzt wieder Mut und schossen aus den Fenstern ihrer Häuser. Es waren namentlich die Drosselsteinschen, die von diesem Fensterfeuer arg betroffen wurden, und als gleich darauf, »pour combler le malheur«, wie der Graf vor sich hinmurmelte, auch die drüben am »Goldenen Löwen« stehenden Grenadierabteilungen ein Salvenfeuer mitten durch den Qualm und Rauch der brennenden Brücke hin abgaben, kam ein Schwanken in die ganze Linie.
Es stand in Wahrheit hoffnungslos; nichtsdestoweniger flackerte die Hoffnung noch einmal auf, als in eben diesem bedrohtesten Augenblicke vom Kirchplatze her der feste Tritt der heranmarschierenden Hohen-Vietzer vernehmbar wurde.
»Hurra, Kinder!« rief Bamme, »das ist die Schwedentrommel«, und unter dem Jubel der Pikeniere, die momentan wieder zum Stehen gebracht worden waren, rückten jetzt unsere Freunde in die vorderste Linie ein.
Berndt erkannte vom Sattel aus sofort, daß sich, eben jetzt, um die bis dahin siegreich verbliebenen Frankfurter Bürgerschützen eine geschickt angelegte Schleife zusammenzuziehen begann, und in höchster Erregung seinen drei vordersten Sektionen zurufend: »Vorwärts!... Nicht schießen, Bajonett!« spornte er, bevor er noch wahrnehmen konnte, ob man ihm folge oder nicht, sein Pferd mitten in den Knäuel hinein, gerade auf die Stelle zu, wo er den mit einem alten Kavalleriesäbel sich nach links und rechts hin wie wahnsinnig verteidigenden Konrektor deutlich erkannt hatte. Aber freilich, eh' er noch an diesen herankonnte, wär' er sicherlich vom Pferde gerissen und ein Opfer seines Muts und seiner Hilfebereitschaft geworden, wenn ihm nicht seine Hohen-Vietzer dicht und mit Ungestüm gefolgt wären, so dicht, daß er inmitten aller Aufregung und Verwirrung dennoch jeden einzelnen zu erkennen glaubte. Er sah, daß Kniehases Stirn blutete, und daß Grell, der in dem wirren Durcheinander seine Kappe verloren hatte, von einem französischen Offizier niedergehauen wurde. Dann aber umschleierte sich alles vor seinen Augen, Schüsse fielen, französische und deutsche Fluchwörter, und als er eine Minute später aus dem Knäuel wieder heraus war, mußte er wahrnehmen, daß all ihre Anstrengungen nichts erreicht hatten und daß es mißglückt war, Othegraven zu befreien. Wer außer Grell noch gefallen oder gefangen war, ließ sich im Momente nicht mit Bestimmtheit übersehen. Lewin wurde vermißt; aber er konnte zu den Versprengten und Abgedrängten gehören, von denen sich in jedem Augenblick verschiedene wieder einfanden.
Nach diesem allem konnt es sich nur noch darum handeln, möglichst rasch und mit möglichst wenig Verlust aus der Frankfurter Falle wieder herauszukommen. Bamme gab Befehl erst zum Abbrechen des Gefechtes, dann zum Rückzuge. Die Pikeniere rückten über den inzwischen leer und lichtlos gewordenen Platz, dann folgte Hohen-Ziesar, dann Lietzen-Dolgelin. Die Hohen-Vietzer, die noch den meisten Halt hatten, deckten den Rückzug. Dieser ging in Ordnung, bis die Spitze der Kolonne das alte Lebuser Tor erreichte. Hier, von Flintenschüssen des wieder ins Gewehr getretenen französischen Wachkommandos empfangen, gerieten die Vordersten ins Schwanken und gleich darauf in eine Verwirrung, die sich bald dem ganzen Zuge mitteilte und während des Marsches durch die Vorstadt hin eher steigerte als minderte. Die lange Straße lag im Dunkel, hier Wagen, dort umgestülpte Fischerboote hemmten die Passage, und viele der ermüdeten Landsturmmänner glitten aus oder stürzten in die Gossen und Löcher, an denen kein Mangel war.
»Licht!« schrie Bamme. »Verdammte Sottmeiers, stecken Häuser an und wollen Lichter sparen. Licht sag' ich, oder den roten Hahn auf euer Dach.«
Und dabei schlug er mit seinem Fischbein, zu dem er wieder seine Zuflucht genommen hatte, an die Haustüren und Fensterläden. Das half; einzelne Lichter erschienen, und man sah jetzt wenigstens, wo man war. So ging es in schwankender Linie die nicht endenwollende Vorstadt entlang, am Sankt Georgshospitale vorbei, bis sie zuletzt am »letzten Heller« hielten. Die Rotten wurden abgezählt; Lewin fehlte noch immer.
Das am Spitzkrug zurückgelassene Bataillon war schon vorher aus freiem Entschluß bis an den Fuß des Berges hinabgestiegen.
Ein Trost, aber auch der einzige.
Das Lämpchen brannte noch immer in der vergitterten Nische und die beiden »Nonnen« hielten nach wie vor ihre welken Kränze dem Gekreuzigten entgegen.
Bamme sah eine Weile in die Nische hinein und sagte dann zu dem neben ihm stehenden Hirschfeldt: »Hier, Hirschfeldt, hier ist unser Platz, hier am ›letzten Heller‹. Hier wurd' es geplant, und hier geht es zu Ende. Ich hatt' eine Ahnung davon. Der letzte Heller. Da haben wir ihn!«