Theodor Fontane
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Fünfzehntes Kapitel
Die Rekognoszierungsfahrt
Um eben diese Zeit trabten die Ponies über Hohen-Ziesar auf Frankfurt zu.
Hohen-Ziesar lag ein Beträchtliches abseits der Straße; Berndt aber hatte den halbstündigen Umweg nicht gescheut, um – was am Tage vorher versäumt worden war – Drosselstein zur Teilnahme an ihrer Frankfurter Rekognoszierungsfahrt aufzufordern. Freilich eine vergebliche Mühe, da der Graf, wie man erfuhr, Hohen-Ziesar schon in früher Stunde verlassen hatte. Und zwar sehr wahrscheinlich, um jenseits der Oder einen zweiten Besuch im russischen Hauptquartier zu machen. Sicheres verlautete nicht; nur die Tatsache seiner Nichtanwesenheit blieb und wurde von Berndt und Bamme mit ziemlich gleicher Befriedigung aufgenommen, da beide au fond du coeur wenig Lust hatten, sich in Sachen, die sie besser verstanden, von bloß »höheren Gesichtspunkten« aus dreinreden zu lassen.
Und so ging es, unter Empfehlungen an den Grafen, weiter in die klare Winterlandschaft hinein. Die Ponies schienen das Versäumnis einholen zu wollen und ließen in ihrem Eifer erst nach, als sie dicht vor Podelzig wieder an die große Straße kamen. Im Dorfe selbst erfuhren unsere Freunde, daß vor kaum einer halben Stunde die vordersten Staffeln der am Tage vorher heranbeorderten Bataillone eingetroffen seien, und gleich darauf wurden sie verschiedener Gruppen von Landsturmmännern gewahr, die, von alt und jung umstanden, allerhand Fragen stellten und beantworteten. Einen Augenblick erwog Berndt, ob er absteigen und zu den Leuten sprechen solle; er unterließ es aber, um nicht abermals die wenigen noch bleibenden Tagesstunden gekürzt zu sehen.
Das nächste Dorf war Clessin. Auch hier ließen sich Unruhe und Erregung – der Aufruf war eben verlesen worden – deutlich erkennen, und nur in Cliestow, in dem eben zu Mittag geläutet wurde, war alles still. Hier saßen die Sperlinge zu Hunderten auf dem Fahrdamm, unschlüssig, ob sie auffliegen sollten oder nicht, und nichts als der sonnenbeschienene Rauch, der hell und gradlinig aus den Essen stieg, deutete auf Leben.
Und nun lag auch Cliestow zurück. Der Weg stieg in leiser Schrägung an, und eine reizende Szenerie begann sich mehr und mehr dem Auge darzustellen.
Über das weit nach rechts hin gebreitete Plateau waren zahlreiche Gehöfte ausgestreut, während nach links hin das ganz in der Tiefe liegende, nur von Kropfweiden eingefaßte Odertal sich schlängelte. Und in eben dieser Tiefe, keine halbe Stunde mehr von unseren Reisenden entfernt, stieg jetzt auch das Ziel ihrer Fahrt, die Stadt selber herauf, deutlich erkennbar an dem gekupferten Hut der Oberkirche und den vielen goldenen Kugeln, die wie Butterblumenknospen das grüne Spitzdach umstanden.
»Ich zähle sieben Kirchen«, sagte Bamme, der aus einer Art Eigensinn nie zuvor in Frankfurt gewesen war. »Es scheint eine große Stadt, größer, als ich dachte.«
»Der eigentliche Kern ist klein«, antwortete Berndt. »Aber die Vorstädte strecken sich weit hinaus. Sehen Sie drüben die Dammvorstadt, fast eine Stadt für sich. Und dahinter Kunersdorf, blutigen Schlachtenangedenkens. Hier auf unserer Seite des Flusses sind wir friedlicher. Die lange Häuserlinie dort unten ist die Lebuser Vorstadt; aber ich will Sie nicht vor der Zeit mit solchen Einzelheiten behelligen. Vom Spitzkrug aus haben wir das alles viel deutlicher und sehen den Sottmeiers in die Schornsteine hinein.«
»Den Sottmeiers?« fragte Bamme.
»Ja, hier dürfen wir sie noch so nennen.«
»Was ist es damit?«
»Eine von den Neckereien und Fehden, wie sie zwischen ›Altstadt‹ und ›Neustadt‹ überall zu Hause sind. Ob es paßt, ist gleichgültig, wenn es nur reizt und böses Blut macht. Und das tut es. Ein altes Weib, nicht viel besser als eine Hexe, steckte vor hundert Jahren die ganze Vorstadt hier unten in Brand. Sie hieß Witwe Sottmeier und wurde mit sechs oder sieben ihrer Komplizen auf den Scheiterhaufen gestellt. Feuer für Feuer; das war damals noch die Regel. Seitdem werden alle Kietzer nach dem übelberufenen alten Weibe genannt und heißen ›Sottmeiers‹. Eine sonderbare Logik, erst den Schaden und dann den Schimpf. Aber ob logisch oder nicht, es gefällt den Altstädtern, und so bleibt's beim alten.«
Unter diesen Gesprächen waren sie bis an ein weißgetünchtes Wirtshaus mit hohem Strohdach gekommen, das, an der Spitze dreier hier zusammentreffender Straßen gelegen, den Namen »Spitzkrug« führte. Es war dies der vorerwähnte Aussichtspunkt, weshalb denn auch Vitzewitz halten ließ. Ein dreieckiger, durch die drei Straßen gebildeter Garten lag vor dem Hause; hier stellten sich unsere Freunde auf und sahen, über einen Heckzaun hinweg, auf das reliefartig vor ihnen liegende Bild. Bamme hatte den Blick überall und erkannte gleich, daß dies der Punkt sei, der für alle Fälle gehalten werden müsse.
»Hier stellen wir unsere Soutiens«, sagte er. »Über den Spitzkrug geht unser Rückzug. Die drei Wege hier lassen uns die Wahl und verwirren den Feind.«
»Warum Rückzug?«
Bamme lachte. »Ein gesicherter Rückzug ist der halbe Sieg. Wer vorwärts will, muß mit dem Gedanken an ein mögliches Rückwärts beginnen. Weiß ich, daß ich wieder heraus kann, so geh' ich dem Beelzebub in seinem Allerheiligsten zu Leibe. Fragen Sie Hirschfeldt, der kennt den Krieg.«
Während dieser Worte hatte Bamme sein Notizbuch genommen und begann die verschiedenen Straßen einzuzeichnen. Als er damit fertig war und nach dem Namen einer zu Füßen gelegenen kleinen Vorstadtkirche gefragt hatte, sagte er zu Vitzewitz: »Und diese Bergnase hier, die nach der Stadt zu vorspringt?«
»Das ist der Galgenberg.«
»So, so. Und die Straße, die von hier aus daran vorüberläuft?«
»Die Richtstraße. Mutmaßlich, weil sie von der Stadt her zur Richtstätte führte. Ein Rest von den drei Pfeilern ist noch zwischen den Kirschbäumen sichtbar.«
»Lassen wir die Pfeiler, Vitzewitz«, sagte Bamme. »Ich bin für eine gesicherte Rückzugslinie, aber wenn es sein kann, an anderen Örtlichkeiten vorüber. Erst die Sottmeiers und nun der Galgenberg und die Richtstraße, das hat freilich alles seinen Zusammenhang; aber ich bekenn' Ihnen offen, weniger Folgerichtigkeit und mehr Heiterkeit wäre mir lieber. Nomen et omen. Ich bin abhängig von solchen Sachen und geh' ihnen gern aus dem Wege. Brechen wir ab; ich habe mich orientiert.«
Sie stiegen nun wieder auf und fuhren bergab in die Vorstadt hinein, erst an der kleinen Sankt Georgskirche und dann an dem gleichnamigen Spitale vorüber. Eine einzige, lange Straße. So kamen sie nach zehn Minuten bis an den Brückendamm, der, wo die Alt- oder Innenstadt beginnt, wenigstens damals noch, über einen breiten, wenn auch ausgetrockneten Wallgraben hin auf das alte Lebuser Tor zuführte. Unmittelbar vor diesem Tore buchtete sich der Brückendamm zu einem kleinen winkligen Platze aus, auf dem, in die Ecke geschoben, ein paar zweirädrige, aber starkgebaute Karren standen. Daneben lagen eiserne Kanonenrohre, alle rostig, ein paar zerbrochen, als ob sie, von der Kunersdorfer Schlacht her, hier liegengeblieben wären. Bamme merkte sich alles. Dann passierten sie das gewölbte, noch aus den Zeiten der Stadtbefestigung herstammende Tor, hinter dem sich die große Torwache befand. Der Posten vorm Gewehr schritt auf und ab, sah die Vorüberfahrenden neugierig freundlich an und grüßte mit leichter Handbewegung.
»Ein Glück für ihn«, sagte Bamme, »daß er morgen abend abgelöst ist und nicht mehr an dieser Stelle schildert. Ein hübscher Junge und grüßt uns so freundlich. Es wäre mir leid um ihn.«
Hundert Schritte hinter der Torwacht zweigt nach links hin eine schmale Straße ab. Sie führt auf den Fluß zu, aber ehe sie denselben erreicht, erweitert sie sich zu einem Kirchplatze, auf dem sich grau und turmlos die älteste Stadtkirche erhebt. Ist man an dieser vorbei, so gewahrt man sogleich, wie der Platz sich wieder verengt und abermals Straße wird. Aber nur zwei, drei Häuser zu jeder Seite. Und dann ist man am Kai. In einem dieser Häuser wohnte Turgany. Berndt hatte die Zügel genommen und fuhr vor. Es war ein großes, altes Eckhaus, mit vorspringendem Erker und einem prächtigen Blick auf Platz und Bollwerk. Ein rechtes Aussichtshaus. Berndt, als er angeordnet, daß Krist ausspannen und entweder bis an den Spitzkrug oder doch wenigstens bis an einen alten, schon vorher am Ausgange der Lebuser Vorstadt gelegenen Gasthofe zurückfahren solle, stieg mit Bamme die breite Steintreppe hinauf, während Grell und Hirschfeldt folgten.
Der Justizrat empfing sie herzlich und stellte Othegraven vor, der unruhiger noch als Turgany der Ankunft der Hohen-Vietzer Gäste entgegengesehen hatte. In der Nähe des Fensters war ein Frühstückstisch serviert, an dem man Platz nahm und artigkeitshalber einstimmte, als seitens des Wirts das Ausbleiben Drosselsteins bedauert wurde. Grell, seiner Gewohnheit nach, musterte das Zimmer, das aus der Zeit stammte, wo Gotik und Renaissance sich um die Herrschaft gestritten hatten. Der Erker war noch gotisch, während die großen Wandflächen und insonderheit die Stuckornamente schon auf Etablierung der Renaissance deuteten. Ebenso der Ofen, der auf seinen grünglasierten Kacheln die Geschichte des Tobias darstellte.
»Ein delikater Rauenthaler«, sagte Bamme, »werde mir seinerzeit die Adresse der Handlung ausbitten. Hoffentlich kein Geheimnis. Aber nun zu den Geschäften, meine Herren. Carpe diem. Staunen Sie nicht, Vitzewitz, mich schon wieder auf den Schleichwegen der Klassizität zu betreffen. Umgang bildet, und man ist seiner Gesellschaft etwas schuldig. Aber nun Ihren Plan, Othegraven.«
Othegraven verbeugte sich etwas steif und sagte dann: »Es wird sich, nachdem unser Freund Turgany bereits die Ehre gehabt hat, Ihnen unseren Überfallsplan vorlegen zu dürfen, im wesentlichen nur noch um Kenntnisnahme der Lokalität wie um Festsetzungen hinsichtlich der Zeit handeln, immer vorausgesetzt, daß nicht Ihrerseits, Herr General, Änderungen oder neue Vorschläge beliebt werden. Unterbleiben diese« – Bamme nickte – »so werd' ich Altes mehr zu rekapitulieren als dem Ihnen schon Bekannten erheblich Neues hinzuzufügen haben.«
»Desto besser. Viele Strähnen verwirren nur. Also repetieren wir unser Exerzitium.«
»So bitte ich Sie denn, Herr General, an dies Erkerfenster herantreten zu wollen. Auch die anderen Herren. Wir haben dann unser Aktionsfeld vor uns, und das wenige, was überhaupt noch zu sagen bleibt, läßt sich wie auf einer aufgeschlagenen Karte demonstrieren.«
Alle hatten sich erhoben und waren in den Erker eingetreten. Othegraven zeigte nach links hin. »Herr General wollen das dritte Haus am Platz bemerken, das größte, scharf an der Kirche vorbei.«
»Ich sehe; das mit den verschnittenen Linden, und das Schilderhaus davor. Es sieht aus wie ein Gasthof.«
»Sehr richtig. In diesem Gasthofe wohnen General Girard und sein Stab. Auch drei oder vier Ordonnanzen. In demselben Augenblick, in dem der erste Schuß fällt, brechen wir, von der Kirche her, vor. Es sind keine zwanzig Schritt. Ehe der General noch den Schlaf abgeschüttelt hat, ist er gefangen. Stab und Ordonnanzen mit ihm.«
»Und dann?«
»Fünf Minuten später müssen auch die Mannschaften in unseren Händen sein, die hier in der Altstadt herum einzeln oder zu zweien und dreien in Bürgerquartier liegen. Wir kennen die Häuser und werden sie vorher umstellen. Für die prompte Durchführung dieser Dinge hoff' ich mich verbürgen und Ihnen unmittelbar nach Ihrem Eintreffen auf diesem Platze Meldung von dem Vollzogenen machen zu können. Das ist der erste Akt.«
»Und dann?« wiederholte Bamme seine Frage.
»Und dann«, antwortete der Konrektor etwas spitz, »beginnt eben der zweite, Ihr Akt, Herr General. Denn unsere Bürgerschaften sind gewillt, sich Ihrem Kommando, von dem Augenblick Ihres Eintreffens an, in allen Punkten zu unterstellen. Der Ruf eines entschlossenen Mannes geht Ihnen voraus, und Entschlossenheit ist alles.«
Bamme verbeugte sich. Er war nicht unempfindlich gegen solche Huldigungen, am wenigsten, wenn sie von Gesellschaftskreisen ausgingen, denen gegenüber er das Gefühl hatte, sich aus diesem oder jenem Grunde wiederherstellen zu müssen. Denn er wußte sehr wohl, was ihm fehlte.
Othegraven fuhr fort: »Es wird sich in diesem zweiten Akte darum handeln, ob wir, will sagen, Ihre Landsturmmänner und unsere Bürgerschaften, in gemeinschaftlicher Aktion imstande sind, uns der zweitausend Mann Voltigeurs und Grenadiers zu erwehren, die samt ihren Regiments- und Bataillonschefs drüben in der Dammvorstadt liegen und unzweifelhaft von Beginn des Kampfes an eifrig bemüht sein werden, den Übergang in die Altstadt zu forcieren. Ein leichtes soll es ihnen nicht werden. Die Brücke opfern wir, und für Aufeisung des Stromes ist gesorgt. Unsere Kietzer Fischer haben es an gutem Willen nicht fehlen lassen; Tag und Nacht in den Kleidern; Seine Majestät der König soll davon erfahren. Nichtsdestoweniger, ohne besserem Urteil vorgreifen zu wollen, scheint mir der Ausgang dessen, was wir vorhaben, von dem Eintreffen oder Nichteintreffen der Russen abzuhängen. Halten sie Wort, so haben wir übermorgen früh eine französische Brigade gefangengenommen, fünfzig Kanonen erbeutet und, was die Hauptsache ist, der ganzen Provinz ein Zeichen, ein Beispiel gegeben. Lassen uns umgekehrt die Russen im Stich, so können wir uns gegen zweitausend Mann nicht auf die Dauer halten. Denn es sind ausgeruhte Soldaten, Reserven, die nicht mit in Rußland waren. Ich bedaure noch einmal das Nichtzugegensein des Herrn Grafen, getröste mich indessen, daß er uns nur fehlt, um sich durch einen zweiten Besuch im Hauptquartiere Tschernitscheffs der russischen Mitwirkung abermals zu versichern.«
»Sehr gut, Othegraven«, sagte Bamme. »Das nenn' ich den geborenen Generalquartiermeister, Schule Prinz Eugen oder doch wenigstens Montecuculi. Nicht wahr, Hirschfeldt? Und alles knapp und kurz. Also bestens akzeptiert. Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit: die Ausführung. Aber Tschernitscheff oder nicht, es muß glücken; zum mindesten dürfen wir keinen andern Gedanken mehr aufkommen lassen. Wir haben A gesagt und müssen B sagen. Alles Kriegsspiel ist Würfelspiel. Und wir knöcheln für eine gute Sache. Alea jacta est. Ich habe mein Latein wieder und meine gute Laune.«
Dabei waren sie vom Fenster an den Tisch zurückgetreten und nahmen wieder Platz. Aber keiner war in der Stimmung, das Frühstück fortzusetzen. Turgany traf es deshalb, als er sagte: »Brechen wir auf, werte Herren und Freunde. Mein Programm lautet: erst Inspizierung des diesseitigen Oderkai, dann Brückenpassage, Dammvorstadt, Herzog-Leopold-Denkmal und französischer Geschützpark. Soweit gediehen, betracht' ich unsere fußgängerischen Aufgaben als gelöst und stelle meinen Wagen für alles weitere zur Verfügung. Er wird uns am Geschützpark oder doch in der Nähe desselben erwarten. Dann Repassierung der Brücke, Kleist-Denkmal und Rückkehr in meine Wohnung oder aber in die Lebuser Vorstadt, wohin Sie, wenn ich recht gehört, Ihren eigenen Wagen dirigiert haben.«
Und damit brachen alle auf, um ihre Rekognoszierung zu Fuß zu beginnen.
Von Turganys Wohnung bis an den Fluß waren kaum hundert Schritt. Eine sonntägliche Stille herrschte den Kai entlang, der in großen Abständen mit uralten Pappelweiden besetzt war. Eingefroren im Eise lagen Oderkähne und größere Kielboote, die nach Stettin hin gehörten und hier vor der Zeit vom Winter überrascht worden waren. Nach rechts hin lief die Brücke über den Fluß, zwanzig Joche oder mehr, zwischen denen unsere Freunde des großen, zum Brückenschutz errichteten Eisbrechers ansichtig wurden. Alle Arbeit ruhte; die Glocken der Oberkirche gingen, und einzelne geputzte Frauen, die zur Nachmittagspredigt wollten, eilten an ihnen vorüber.
Bamme musterte den Kai und die Pappelweiden bis rechts an die Brückenjoche hinauf und sagte dann zu Berndt: »Voilà, Vitzewitz, unser mutmaßliches champ de bataille.« Dieser nickte zustimmend in guter, beinahe heiterer Laune. Denn er war viel ruhiger als der Alte, weil er das, was sie vorhatten, nicht als Abenteuer, sondern als Pflicht und Aufgabe nahm.
So kamen sie bis an die Brücke und gingen in die Dammvorstadt hinüber. Die Welt hier schien nur noch aus Franzosen zu bestehen; einige, als ob draußen die Junisonne schiene, balancierten auf den Querhölzern der offenstehenden Fenster, während sich andere mit Bockspringen vergnügten oder sich auf Flur und Diele mit Kindern und jungen Mädchen unterhielten. So namentlich auch vor dem großen Gasthofe »Zum goldenen Löwen«, hart an der Brücke, der in eine Kaserne umgewandelt war. An der Ecke dieses Gasthofes vorbei bogen jetzt unsere Freunde nach links hin ein und wandten sich dem großen Herzog-Leopold-Denkmale zu, das sie schon vorher, als sie von Turganys Wohnung aus auf den Fluß zugeschritten waren, in aller Deutlichkeit gesehen hatten. Es lag jener Stelle gerade gegenüber; nur der breite Fluß dazwischen.
Nun standen sie vor diesem Denkmal, zu dessen beiden Seiten – und zwar zwischen dem hochaufgestapelten Klafter- und Bretterholz eines hier befindlichen Holzhofes – vierzig bronzene Geschütze zusammengefahren waren. Der Anblick, der sich ihnen bot, weckte sehr verschiedene Gedanken. Othegraven sah mißtrauisch auf die Bretter und Bohlen und sann nach, wie sie wegzuschaffen wären, während Berndt und Bamme mit Befriedigung wahrnahmen, daß die Munitionskarren fehlten. So war man wenigstens vor einem Mitspielen der Artillerie gesichert.
Grell hatte sich inzwischen mit seinem Interesse dem Denkmale selber zugewandt. Drei Frauengestalten trugen eine sternenbekränzte Urne; am Sockel des Ganzen aber standen folgende Worte: »Menschenliebe, Standhaftigkeit, Bescheidenheit – drei himmlische Geschwister – tragen Deinen Aschenkrug, verewigter Leopold, und klagen mit der Göttin der Stadt, deren Bürger Du zu retten eiltest, und klagen mit dem Odergott, in dessen Wellen Du untergingst, daß die Erde ihr Kleinod verloren hat.«
Bamme war ebenfalls herzugetreten und sagte jetzt, während er auf die Urne zeigte: »Aschenkrug. Wer's glaubt! Sieht es nicht aus wie eine Riesenbowle? Und das soll es am Ende auch sein. Ich wette, der Bildhauer – Ehre seinem Andenken – war ein Schalk und schrieb auf seine Art Geschichte. Sie wissen doch, Vitzewitz?«
»Ich weiß«, sagte dieser. »Aber es ist widerlegt.«
»Schade«, fuhr Bamme fort. »Die hübschesten Sachen in der Weltgeschichte werden immer widerrufen oder widerlegt. Pitt starb an einer Flasche Burgunder; aber das war nicht groß genug für einen Rednerhelden oder meinetwegen auch Heldenredner, und so heißt es jetzt, er sei an der Schlacht von Trafalgar gestorben. Hätt' ich die Notiz von Rutze, so würd' ich an eine Verwechslung mit Nelson glauben. Aber es steht in allen Büchern und Blättern. Apropos Rutze. Seine Kompanie ist brillant, vielleicht die beste. Nichts für ungut, Vitzewitz.«
Während diese Worte gewechselt wurden, war der französische Posten mit einem »Pas permis, monsieur« an den emsig zeichnenden Grell herangetreten, hatte sich jedoch jedes weiteren Einspruchs begeben, als ihm unser Hölderlinfreund seine mit komischem Ungeschick abkonterfeiten drei Gottheiten gezeigt und dadurch die Lachlust des kleinen Südfranzosen erregt hatte.
Von der Brücke her kam ihnen jetzt das Turganysche Fuhrwerk entgegen. Sie stiegen ein, behalfen sich, so gut es ging, und erledigten ihr Programm – auch bei dem Ewald von Kleist-Denkmal einige Minuten verweilend – in der vorher festgesetzten Reihenfolge. Darnach trennte man sich, um Krist und die Ponies in der Lebuser Vorstadt aufzusuchen. Ihre letzte Abmachung war dahin gegangen, daß die Landsturmbrigade nicht später als ein Uhr nachts von Montag auf Dienstag am Spitzkrug eintreffen solle. Ein Vertrauensmann Othegravens werde sie daselbst erwarten.
Die kleine Sankt-Georgskirche schlug eben fünf, als unsere Freunde am Ausgange der Lebuser Vorstadt eintrafen und vor einem hier befindlichen alten Wirtshause den Hohen-Vietzer Kaleschwagen erkannten. Aber noch nicht angespannt.
Beinahe die Hälfte der »Wirtschaft« wurde von einem ungewöhnlich großen Torweg eingenommen, der durch die ganze Tiefe des Hauses lief. Es dunkelte schon, und so hätte sich von der gewölbten Einfahrt sehr wahrscheinlich nichts weiter als ein schwarzes Loch erkennen lassen, wenn nicht in Höhe des Gewölbes eine Stallaterne geschaukelt hätte. Mit Hilfe dieser gewahrte man drei Stufen, die nach links hin aus dem Torweg in eine, so schien es, den ganzen Rest des Gebäudes einnehmende Gaststube führten. Alles andere lag im Quergebäude. In Front der Ausspannung aber war anscheinend noch ein zweiter Torweg sichtbar, ebenfalls mit einer Laterne. Sah man indessen schärfer zu, so gewahrte man, daß dieser Torweg gar kein Torweg sei, sondern eine große Kapellennische, in deren Hintergrund ein bemaltes Kruzifix hing. Neben diesem Kruzifix zwei weißgetünchte Heilige, die auf ihren bittend vorgestreckten Armen wohl ein halbes Dutzend vertrockneter Kränze trugen. Vitzewitz war in den Hof gegangen, um nach Krist und den Ponies zu sehen; Bamme, von Grell und Hirschfeldt begleitet, patrouillierte draußen auf und ab und wollte durchaus Näheres über die zwei »Torwege« hören. Er sah sich deshalb um und gewahrte schließlich einen Menschen, der, auf einem der niedrigen Fenstersimse hockend, wie ein Schatten in der matterleuchteten Öffnung saß.
»He, Sottmeier!«
Der Angerufene erhob sich und kam auf Bamme zu. Es ließ sich jetzt erkennen, daß er Hausknecht, Küfer und Marqueur, alles in einer Person war. Er trug eine grüne Friesschürze. Sein eines Auge, das viel größer aussah als das andere, hatte einen weißen Fleck, und dieser weiße Fleck bohrte sich immer auf den, mit dem er sprach. Dazu storres schwarzes Haar; alles häßlich und unheimlich.
»He, Freund«, sagte Bamme, dem die Lust vergangen war, das Wort »Sottmeier« zu wiederholen, »he, Freund, wie heißt eure Ausspannung?«
»Der letzte Heller.«
»Das ist gut. Gefällt mir. Man hört ordentlich, wie er springt. Und hier nebenan der Torweg mit dem Kruzifix und den zwei Nonnen, wie heißt der?«
»Auch der letzte Heller.«
»Wetter, das gefällt mir nicht; dieser ewige ›letzte Heller‹, als ob es sonst nichts in der Welt gäbe. Das schmeckt ja wie Miserere. Grell, wo will das hinaus? Mit dem Galgenberg haben wir angefangen, und mit dem letzten Heller hören wir auf. Zweimal der letzte Heller, auf Ehre, das ist zuviel.«
Grell lachte. »Wir müssen es uns auf das Beste hin ansehen, Herr General. Es ist eigentlich eine Feinheit, diese zwei ›letzten Heller‹ so dicht nebeneinander wie Himmel und Hölle. War es doch immer so. Der eine ließ sein Letztes bei der Kirche, der andere bei der Kneipe. Es stammt alles noch aus den katholischen Zeiten her. Aber ich glaube nicht, daß es viel besser geworden ist.«
»Ich auch nicht«, sagte Bamme, und damit schritt er auf die drei Stufen zu, die vom Torweg aus nach der Gaststube hinaufführten. Grell und Hirschfeldt folgten. Einen Augenblick später trat auch Berndt ein, der, nach längerem Umhertappen in dem dunklen Stall, Krist auf einer Futterkiste total verschlafen vorgefunden und nicht ohne Mühe zum Anspannen seiner Ponies veranlaßt hatte.
In der Gaststube saßen einige Sottmeiers beim Dreikart. Bamme war nicht in der Laune, sich populär zu machen; er suchte deshalb ein anderes, dahintergelegenes Zimmer auf, in welchem er ein großes Billard vorfand, halb zerrissen, aber die Fetzen mit einer Stopfnadel notdürftig wieder zusammengenäht. Darüber hing eine blakende Lampe. »Sieht sie nicht aus, als wäre sie draußen den Nonnen fortgenommen«, sagte er zu Grell und setzte dann, zu dem Hausknecht sich wendend, hinzu: »Noch ein Licht.«
Dieser brachte zwei und wollte, da kein Tisch da war, das eine auf den Queueständer, das andere auf das Brettchen eines neben dem Ofen stehenden hochbeinigen Kinderstuhles setzen, Bamme befahl aber: »Nicht da; hierher, rechts und links neben die Karoline!« und ließ die Lichter mitten auf das Billard stellen.
Als dies geschehen und die »grüne Friesschürze« wieder verschwunden war, sagte der Alte: »Ich wette, er hat nicht eingeklinkt; riegeln wir zu; besser ist besser. Wer die Menschen kennt, mißtraut ihnen. Es riecht hier überhaupt nach Spelunke, und wo es nach Spelunke riecht, da riecht es auch nach Verrat.«
Grell schob den Riegel vor und stellte sich dann wieder neben Bamme, der mit immer komischer werdender Feierlichkeit fortfuhr:
»Eh wir in den Wagen steigen, meine Herren, will ich die Dispositionen für morgen auf den Tisch zeichnen. Ein Stück Kreide, Hirschfeldt. Alle großen Schlachten sind mit drei Linien gewonnen worden. Und diese drei Linien hab' ich auch für morgen in petto.«
Hirschfeldt hatte mittlerweile den alten Queueständer durchsucht und ein Stück Kreide gefunden. Er gab es an Bamme, der sofort einen Kreis auf das Billardtuch malte und diesen Kreis durch einen dicken Flußstrich in links und rechts halbierte.
»Hier rechts«, hob er an, »die Dammvorstadt ist Tschernitscheffs Sache; hol' ihn der Teufel, wenn er uns im Stiche läßt. Was wir zu tun haben, liegt links, hier an den drei Toren.«
Und nun begann er jedes der drei Tore durch einen kurzen Doppelstrich zu bezeichnen, den er quer durch die Peripherie des Kreises zog.
Dann fuhr er mit steigendem Eifer fort: »Um ein Uhr halten wir am Spitzkrug und marschieren auf drei Straßen gegen die drei Tore. Das ist das Vorspiel. Und nun das Stück selber. Wir nehmen die drei Tore, gleichviel, mit List oder Gewalt, und dringen in drei Strahlen auf den Kirchplatz vor. Da haben wir die drei strategischen Linien. Kirchplatz ist Rendezvous. Dort entscheiden sich die Dinge, so oder so. Hoffen wir alles, und fürchten wir nichts. Und damit basta. Parole ›Zieten‹. Und wolle der alte Husarenvater in Gnaden mit uns sein.«
Ein Lächeln ging über aller Züge, als sie so den alten »Husarenvater« wie Gott und seine Heiligen angerufen sahen. Aber Bamme bemerkte nichts. Er öffnete nur das Fenster, nahm eine Handvoll Schnee und wusch damit seinen dreilinigen Angriffsplan wieder weg.
Draußen hielten jetzt die Ponies. Krist knipste mit der Peitsche, und der storrige Hausknecht, der mittlerweile seine Friesschürze zu einem Dreieck zusammengesteckt hatte, drängte sich an Bamme, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.
»Verkehren Franzosen hier?« fragte dieser.
»Nicht viel.«
»Nette Leute?«
»Na, soso. Wer sie gerade leiden kann. Nicht schlimmer als unsere.«
Während dieses Gespräches hatte sich alles zurechtgerückt, und der Wagen fuhr langsam hügelan und auf den Spitzkrug zu.
»Galgengesicht, dieser Kerl«, sagte Bamme. »Vergessener Rest von der Familie Sottmeier; irgendein Wende, der nach hinten und vorne zugleich sieht. Ein Schielkönig comme il faut. Hol ihn der Teufel. Ich wette, daß er gehorcht hat.«
»Nicht doch«, sagte Vitzewitz und lachte. »Es ist ein Dolgeliner. Sein Vater ist Schmied. Es flog ihm ein Funken ins Auge.«
Und damit ging es in raschem Trab ins Bruch hinein und auf Hohen-Vietz zu, das sie bei guter Zeit erreichten.