Theodor Fontane
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Sechstes Kapitel
Am Kamin
Punkt fünf Uhr war Krist vorgefahren; Berndt liebte nicht zu warten. Von den Kindern hatte er kurzen Abschied genommen, um seiner Schwester auf Schloß Guse oder der »Tante Amelie«, wie sie im Hohen-Vietzer Hause hieß, einen nachbarlichen Besuch zu machen. Daß er noch am selben Abend zurückkehren werde, war nicht anzunehmen; er hatte vielmehr angedeutet, daß aus der kurzen Ausfahrt eine Reise nach der Hauptstadt werden könne. Die Unruhe seiner Empfindung trieb ihn hinaus. Den Weihnachtsaufbau, wie seit Jahren, hatte er sich auch heute nicht nehmen lassen wollen, aber kaum frei, im Gefühl erfüllter Pflicht, schlugen seine Gedanken die alte Richtung ein. Es drängte ihn nach Aktion oder doch nach Einblick in die Welthändel; ein Bedürfnis, das ihm die Enge seines Hauses nicht befriedigen konnte. In der Unterhaltung, das hatte Lewin bei Tisch empfunden, tat er sich Zwang an, und das Gefühl davon nahm auch dem Gespräch der Kinder jede freie Bewegung. Eine gewisse Befangenheit griff Platz. So kam es, daß man die Abwesenheit des Vaters, bei aufrichtigster Liebe zu ihm, fast wie eine Befreiung empfand; Herz und Zunge konnten ihren Weg gehen, wie sie wollten. Unsere Hohen-Vietzer Geschwister empfanden übrigens, wie kaum erst versichert zu werden braucht, nicht kleiner oder selbstsüchtiger als andere im Lande; sie wollten nur nicht gezwungen sein, über den »Bösesten der Menschen« immer wieder und wieder zu sprechen, als wäre nichts Sprechenswertes in der Welt als dieser eine.
Sie hatten sich samt Tante Schorlemmer im Wohnzimmer eingefunden und saßen jetzt, es mochte die siebente Stunde sein, um den hohen altmodischen Kamin. Mit ihnen war Marie, die Freundin Renatens, des reichen Kniehase dunkeläugige Tochter, deren Besuch für diesen Abend angekündigt war. Jede der drei Damen war nach ihrer Weise beschäftigt. Renate, dem Kamin zunächst sitzend, hielt einen Palmfächer in der Rechten, mit dem sie die Flamme bald anzufachen, bald sich gegen dieselbe zu schützen suchte; Tante Schorlemmer strickte mit vier großen Holznadeln an einem Schal, der wie ein Vlies neben ihrem Lehnstuhl niederfiel; Marie blätterte neugierig in einer grönländischen Reisebeschreibung, die ihr Tante Schorlemmer zum Heiligen Christ beschert und mit einem Widmungsverse aus Zinzendorf ausgestattet hatte. Zwischen Marie und Lewin, aber keineswegs als eine Scheidewand, stand der Weihnachtsbaum, den Jeetze von der Halle her hereingetragen hatte. Das Plündern, das Sache Lewins war, nahm eben seinen Anfang. Jede goldene Nuß, die er pflückte, warf er in hohem Bogen über die Spitze des Baumes fort, an dessen entgegengesetzter Seite Marie mit glücklicher Handbewegung danach haschte. Im Werfen und Fangen jedes gleich geschickt.
Lewin freute sich dieses Spieles; zudem war er von alters her nie besserer Laune, als wenn er sich den Süßigkeiten des Weihnachtsbaumes gegenüber sah. Das Naschen war sonst nicht seine Sache, aber die Pfennigreiter, die Nonnen, die Fische machten ihn kritiklos und ließen ihn einmal über das andere versichern, »daß in dem plattgedrücktesten Pfefferkuchenbild immer noch ein Tropfen vom himmlischen Manna sei«.
Die gute Laune Lewins steigerte sich bald bis zu Neckerei, unter der niemand mehr zu leiden hatte als Tante Schorlemmer. »Du sollst den Feiertag heiligen«, rief er ihr zu und wies auf die vier hölzernen Stricknadeln, die, wie sich von selbst versteht, nach dieser scherzhaften Reprimande nur um so eifriger zu klappern begannen. Endlich wurde es ihr zuviel. Sie verfärbte sich und resolvierte kurz: »Meine Grönländer können nicht warten.«
Da wir nun im langen Verlauf unserer Erzählung nirgends einen Punkt entdecken können, der Raum böte für eine biographische Skizze unter dem Titel »Tante Schorlemmer«, so halten wir hier den Augenblick für gekommen, uns unserer Pflicht gegen diese treffliche Dame zu entledigen. Denn Tante Schorlemmer ist keine Nebenfigur in diesem Buche, und da wir ihr, nach flüchtiger Bekanntschaft in Flur und Kirche, an dieser Stelle bereits zum dritten Male begegnen, so hat der Leser ein gutes Recht, Aufschluß darüber zu verlangen, wer Tante Schorlemmer denn eigentlich ist.
Tante Schorlemmer war eine Herrnhuterin. Eines Tages, das lag nun dreißig Jahre zurück, war ihr, der damaligen Schwester Brigitte, Mitteilung gemacht worden, daß Bruder Jonathan Schorlemmer, zur Zeit in Grönland, eine eheliche Gefährtin wünsche, bereit, ihm in seinem schweren Werke zur Seite zu stehen. Sie hatte diesem Rufe gehorsamt, ihre Wäsche gezeichnet und war mit dem nächsten dänischen Schiff von Hamburg aus gen Norden gefahren. An einem Tage, der keine Nacht hatte, war sie in Grönland gelandet, Bruder Schorlemmer hatte sie empfangen und ihren Bund persönlich eingesegnet. Die Ehe blieb kinderlos, dessen sich jedoch beide in christlicher Ergebung getrösteten. So vergingen ihnen zehn glückliche Jahre. Zu Beginn des elften starb Jonathan Schorlemmer an einem Lungenkatarrh und wurde in einem mit Seehundsfell beschlagenen Sarge begraben. Seine Witwe aber, nachdem sie die Bevölkerung mit allem, was sie hatte, beschenkt und jedem einzelnen versichert hatte, ihn nie vergessen zu wollen, kehrte mit dem Grönlandschiff zunächst nach Kopenhagen und von dort aus in die deutsche Heimat zurück.
In die deutsche Heimat, aber nicht nach Herrnhut. Auf der weiten Rückreise Berlin berührend, wo ihr einige Anverwandte lebten, beschloß sie, im Kreise derselben zu verbleiben, und bezog in jenem Stadtteile, der fünfzig Jahre früher den einwandernden böhmischen Brüdern und Herrnhutern als Wohnplatz angewiesen worden war, ein bescheidenes Quartier. In diesen kleinen Häusern der Wilhelmsstraße würde sie ihr stilles und treues Leben sehr wahrscheinlich beschlossen haben, wenn ihr nicht eines Tages ein Blatt ins Haus geflogen wäre, auf dem sie das Folgende las: »Eine ältere Frau, am liebsten Witwe, wird zur Führung eines Haushaltes auf dem Lande gesucht. Eine Tochter von zwölf Jahren soll ihrer besonderen Obhut anvertraut werden. Bedingungen: Verträglichkeit und Christlichkeit. Anfragen sind zu richten an: B. v. V., poste restante Küstrin.« Tante Schorlemmer schrieb; alles Geschäftliche erledigte sich schnell. Um Weihnachten 1806 traf sie in Hohen-Vietz ein, in dessen Herrenhause gerade damals ein trübes Christfest gefeiert wurde. Man trat sich gegenseitig erwartungsvoll entgegen, und nach wenigen Wochen schon begann der Einfluß unserer Freundin sich geltend zu machen. Nicht das Glück, aber Ruhe und Frieden waren in ihrem Geleit. Renate hing ihr an, Lewin verehrte ihre Fürsorge, Berndt von Vitzewitz hatte einen tiefen Respekt vor ihrem Herrnhutertume.
Und darin unterschied er sich freilich von seinen Kindern. Diese beugten sich wohl vor der Aufrichtigkeit, aber nicht vor der Tiefe von Tante Schorlemmers christlichem Gefühl. Ihre Leidenschaftslosigkeit, die dem Vater so wohl tat, erschien den Geschwistern einfach als Schwäche. Nach Ansicht beider gebrauchte sie ihr Christentum wie eine Hausapotheke, und darin lag etwas Wahres. Für alle mehr gewöhnlichen Fälle hatte sie das Sal sedativum einer frommen Alltagsbetrachtung, wie »Rechte Treu kennt keine Scheu« oder »So dunkel ist keine Nacht, daß Gottes Auge nicht drüber wacht«; für ernstere Fälle jedoch griff sie nach dem starken und nervenerfrischenden Sal volatile irgendeines Kraftspruches: »Was will Satan und seine List, wenn mein Herr Jesus mit mir ist.« Das unterscheidende Merkmal zwischen den schwachen und starken Mitteln bestand im wesentlichen darin, daß in den letzteren jedesmal der Böse herausgefordert und ihm die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen entgegengehalten wurde. Alle diese Sprüche aber, ob schwach oder stark, wurden ebenso sehr im festen Glauben an ihre innewohnende Kraft wie mit der äußersten Seelenruhe vorgetragen. Und da steckte die Schuld oder doch das, was den Geschwistern als Schuld erschien. Diese Seelenruhe, die sich neben dem Maß geforderter Teilnahme oft wie Teilnahmlosigkeit ausnahm, reizte die jungen Gemüter und stellte ihre Geduld auf manche harte Probe. Berndt verstand dies stille Christentum besser und hatte an sich selbst erfahren, daß der Trost aus dem Worte Gottes mehr war als der Wortetrost der Menschen.
So war Tante Schorlemmer. – Das Scherzen über ihre vorgeblich freie Stellung zum dritten Gebot hatte sie einen Augenblick ernstlich verdrossen; Lewin aber, ohne dessen zu achten, fuhr in seinen Neckereien fort: »Unsere Freundin scheint übrigens keine Ahnung zu haben, welch hoher Besuch inzwischen vor dem Herrnhuter Gemeindehause gehalten hat.«
»Wer?« riefen die beiden Mädchen.
»Niemand Geringeres als Napoleon selbst. In der Nacht vom elften zum zwölften. Und die Herrnhuter haben wieder versäumt, sich heroisch in die Weltgeschichte einzuführen. Sie haben den Kaiser angegafft, soweit es bei Nacht und Schneetreiben möglich war, und haben ihn weiterfahren lassen. Das macht, weil der herrnhutische Mut im Auslande lebt, in China, in Grönland, in Hohen-Vietz. Überall ist er, nur nicht daheim. Tante Schorlemmer, dessen bin ich gewiß, hätte ihn verhaften und als Weltfriedensbrecher vor Gericht stellen lassen.«
Die Angeredete drohte mit einer ihrer großen Nadeln zu Lewin hinüber, dem es übrigens nahe bevorstand, sich aus dem Angriff in die Verteidigung gedrängt zu sehen. Der »Empereur« war nicht umsonst zitiert worden; einmal in das Gespräch hineingezogen, gleichviel ob im Ernst oder Scherz, begann er seine Macht zu üben, und Lewin, wenigstens momentan des neckischen Tones vergessend, begann ein Bild jener fluchtartigen Reise zu geben, die den zum erstenmal von seinem Glück verlassenen Kaiser in vierzehntägiger Fahrt von Smolensk bis in seine Hauptstadt zurückgeführt hatte. Er gab Altes und Neues, bei einzelnen Punkten länger verweilend, als vielleicht nötig gewesen wäre.
Tante Schorlemmer und Marie waren der Erzählung aufmerksam gefolgt; Renate aber warf hin: »Vorzüglich, und wie belehrend! Ein wahrer Generalbericht über russisch-deutsche Poststationen. Oh, ihr großstädtischen Herren, wie seid ihr doch so schlechte Erzähler, und je schlechter, je klüger ihr seid. Immer Vortrag, nie Geplauder!«
»Sei's drum, Renate; ich will nicht widersprechen. Aber wenn wir schlechte Erzähler sind, so seid ihr Frauen noch schlechtere Hörer. Ihr habt keine Geduld, und die Wahrnehmung davon verwirrt uns, läßt uns den Faden verlieren und führt uns, links und rechts tappend, in die Breite. Ihr wollt Guckkastenbilder: Brand von Moskau, Rostopschin, Kreml, Übergang über die Beresina, alles in drei Minuten. Die Erzählung, die euch und euer Interesse tragen soll, soll bequem wie eine gepolsterte Staatsbarke, aber doch auch handlich wie eine Nußschale sein. Ich weiß wohl, wo die Wurzel des Übels steckt: der Zusammenhang ist euch gleichgültig; ihr seid Springer.«
Renate lachte. »Ja, das sind wir; aber wenn wir zu viel springen, so springt ihr zu wenig. Eure Gründlichkeit ist beleidigend. Immer glaubt ihr, daß wir in der Weltgeschichte weit zurück seien, und wir wissen doch auch, daß der Kaiser in Paris angekommen ist. Oh, ich könnte Bulletins von Hohen-Vietz aus datieren. Aber lassen wir unsere Fehde, Lewin. Was ist es mit den roten Scheiben im Schloßhof von Berlin? In der Zeitung war eine Andeutung; Kathinka schrieb ausführlicher davon.«
»Was schrieb sie?«
»Wie du nur bist. Nun kümmert dich wieder, was Kathinka schrieb. Daß ich so töricht war, den Namen zu nennen.«
Lewin suchte eine flüchtige Verlegenheit zu verbergen. »Du irrst, ich schweife nicht ab; mich hat das Phänomen lebhaft beschäftigt. Es kam dreimal; am dritten Tage habe ich es gesehen.«
»Und was war es?«
»An allen drei Tagen, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, erglühten plötzlich die oberen Fenster des alten Schloßhofes. Die Wachen meldeten es. Da die Sonne längst unter war, so dachte man an Feuer. Aber es fand sich nichts. Auf dem neuen Schloßhof blieben die Fenster dunkel. Die Leute sagen, es bedeute Krieg.«
»Ein leichtes Prophezeien«, bemerkte Tante Schorlemmer ruhig. »Wir hatten Krieg in diesem Jahre und werden ihn mit in das neue hinübernehmen.«
»Ich glaube«, fuhr Lewin fort, »der ganze Vorgang wäre schnell vergessen worden, wenn nicht eines unserer Blätter, das euch nicht zu Händen kommt, am zweitfolgenden Tage schon eine Geschichte gebracht hätte, die bei allem Dunklen ersichtlich darauf berechnet war, der Erscheinung im Schloß eine tiefere Bedeutung zu geben, so etwas wie Zeichen und Wunder.«
»O erzähle!«
»Ja. Aber du darfst nicht ungeduldig werden.«
»Bist du empfindlich?«
»Wohlan denn. Es ist eine Geschichte aus dem Schwedischen. Die Überschrift, die das Blatt ihr gab, war: ›Karl XI. und die Erscheinung im Reichssaale zu Stockholm‹. Ich bürge nicht dafür, daß ich alles genauso wiedergebe, wie's in dem Blatte stand, aber in den Hauptstücken bin ich meiner Sache gewiß. Was man gern hat, behält man. ›Gedächtnis ist Liebe‹, sagte Tubal noch gestern, und selbst Kathinka stimmte bei.«
Bei dem Namen Tubal kam das Erröten an Renate. Lewin aber, als ob er es nicht bemerkt habe, fuhr fort: »Karl XI. war krank. Er lag schlaflos zu später Stunde in seinem Zimmer und sah nach der anderen Seite des Schloßhofes hinüber, auf die Fenster des Reichssaales. Bei ihm war niemand als der Reichsdrost Bjelke. Da schien es dem König, daß die Fenster des Reichssaales zu glühen anfingen, und darauf hindeutend, fragte er den Reichsdrosten: ›Was ist das für ein Schein?‹ Der Reichsdrost antwortete: ›Es ist der Schein des Mondes, der gegen die Fenster glitzert.‹ In demselben Augenblick trat der Reichsrat Oxenstierna herein, um sich nach dem Befinden des Königs zu erkundigen, und der König, wieder auf die glühenden Scheiben deutend, fragte den Reichsrat: ›Was ist das für ein Schein? Ich glaube, das ist Feuer.‹ Auch der Reichsrat antwortete: ›Nein, gottlob, das ist es nicht; es ist der Schein des Mondes, der gegen die Fenster glitzert.‹ Die Unruhe des Königs wuchs aber, und er sagte zuletzt: ›Gute Herren, da geht es nicht richtig zu; ich will hingehen und erfahren, was es sein kann.‹ Sie gingen darauf einen Korridor entlang, der an den Zimmern Gustav Erichsons vorüberführte, bis daß sie vor der großen Türe des Reichssaales standen. Der König forderte den Reichsdrosten auf, die Tür zu öffnen, und als dieser bat, in dieser Nacht die Tür geschlossen zu lassen, nahm der König selbst den Schlüssel und öffnete. Als er den Fuß auf die Schwelle setzte, trat er hastig zurück und sagte: ›Gute Herren, wollt ihr mir folgen, so werden wir sehen, wie es sich hier verhält; vielleicht, daß der gnädige Gott uns etwas offenbaren will.‹ Sie antworteten: ›Ja.‹«
Hier wurde Lewin unterbrochen. Jeetze trat ein, um eine Schale mit Obst auf den Tisch zu stellen, Erdbeeräpfel und Gravensteiner, die in Hohen-Vietz vorzüglich gediehen. Tante Schorlemmer benutzte die Unterbrechung, um einige wirtschaftliche Ordres zu geben, Renate aber bemerkte: »Ich vermisse die Beziehungen; aber freilich, je geheimnisvoller, desto anregender für die Phantasie.«
Lewin nickte zustimmend. »Dieser Eindruck wird sich bei dir steigern.« Dann fuhr er fort: »Als König Karl und die beiden Räte eingetreten waren, wurden sie eines langen Tisches gewahr, an dem eine Anzahl ehrwürdiger Männer saßen, in ihrer Mitte ein junger Fürst; als solchen bezeichnete ihn der Thron, der, mit Wappenschildern und roten Teppichen behangen, unmittelbar in seinem Rücken aufgerichtet war. Es war ersichtlich, man saß zu Gericht. Am unteren Ende des Tisches stand ein Richtblock, und um den Block her, in weitem Halbkreis, standen Angeklagte, reich gekleidet, aber nicht in der Tracht, die damals in Schweden getragen wurde. Die zu Gericht sitzenden Männer zeigten auf die Bücher, die sie in Händen hielten; sie wollten dem jungen Fürsten nicht zu Willen sein, der aber schüttelte hochmütig den Kopf und wies an das untere Ende des Tisches, wo jetzt Haupt um Haupt fiel, bis das Blut längs dem Fußboden fortzuströmen begann. König Karl und seine Begleiter wandten sich voll Entsetzen von dieser Szene ab; als sie wieder hinblickten, war der Thron zusammengebrochen. Der König aber, indem er des Reichsdrosten Bjelke Hand ergriff, rief laut und bittend: ›Welche ist des Herren Stimme, die ich hören soll? Gott, wann soll das alles geschehen?‹
Und als er Gott zum dritten Male angerufen hatte, klang ihm die Antwort: ›Nicht soll dies geschehen in deiner Zeit, wohl aber in der Zeit des sechsten Herrschers nach dir. Es wird ein Blutbad sein, wie nie dergleichen im schwedischen Lande gewesen. Dann aber wird ein großer König kommen und mit ihm Frieden und eine neue Zeit.‹ Und als dies gesprochen war, schwand die Erscheinung. König Karl hielt sich mühsam. Dann, über denselben Korridor, kehrte er in sein Schlafgemach zurück. Die beiden Räte folgten.«
Lewin schwieg. Im Wohnzimmer war es still geworden; der Fächer ruhte, selbst die Stricknadeln ruhten; jeder blickte vor sich hin. Nach einer Pause fragte Renate: »Wer war der sechste Herrscher in Schweden?«
»Gustav IV.; sein Thron ist zusammengebrochen.«
»So hältst du das Ganze für echt und ehrlich, für eine wirkliche Vision?«
»Ich sage nicht ja und nicht nein. Das Schriftstück, das über diesen Hergang berichtet, liegt im Stockholmer Archiv. Es ist von des Königs Hand in selbiger Nacht geschrieben; seine beiden Begleiter haben es mit unterzeichnet. Die Handschriften sind beglaubigt. Ich habe weder das Recht noch den Mut, solchen Erscheinungen die Möglichkeit abzusprechen. Laß mich sagen, Renate, wir haben nicht das Recht.«
Lewin betonte das »wir«. Dann aber wandte er sich, einen scherzhaften Ton wieder aufnehmend, an Tante Schorlemmer und Marie und drang in sie, ihren Glauben oder Unglauben solchen Erscheinungen gegenüber auszusprechen.
Marie stand auf. Jeder sah erst jetzt, welchen tiefen Eindruck die Erzählung auf sie gemacht. Sie drückte die Tannenzweige, die sie mittlerweile, ohne zu wissen warum, zerpflückt hatte, zu einem Knäuel zusammen und warf alles in die halb niedergebrannte Glut. Der rasch aufflackernden Flamme folgte eine Rauchwolke, in der sie nun, einen Augenblick lang, selbst wie eine Erscheinung stand, nur die Umrisse sichtbar und die roten Bänder, die ihr über Haar und Nacken fielen. Es bedurfte ihrerseits keines weiteren Bekenntnisses; sie selber war die Antwort auf die Frage Lewins.
Tante Schorlemmer aber, die Stricknadeln wieder aufnehmend, schüttelte unmutig den Kopf und zitierte dann, als ob sie ein Gespenster beschwörendes Vaterunser vor sich hinbete, mit rascher und deutlicher Stimme:
»Unter Gottes Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Alles Bösen frei.
Laß den Satan wittern,
Laß den Feind erbittern,
Mir steht Jesus bei.«