Vor dem Sturm. Dritter band. Achtzehntes Kapitel. by Theodor Fontane
Vor dem Sturm. Dritter band. Achtzehntes Kapitel. by Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Dritter band. Achtzehntes Kapitel.

Theodor Fontane * Track #54 On Vor dem Sturm

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Vor dem Sturm. Dritter band. Achtzehntes Kapitel. by Theodor Fontane

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Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Dritter band. Achtzehntes Kapitel. Annotated

Achtzehntes Kapitel
Fort!

Um die sechste Stunde war Lewin wieder in seiner Wohnung; das Gespräch, das er mit Hansen-Grell geführt, klang noch in seiner Seele nach. Die schöne Macht des Idealen, durch einfache Verhältnisse mehr unterstützt als beeinträchtigt, war ihm nie reiner entgegengetreten. Er hatte während seines Besuches mehr als einmal an Faulstich denken müssen; und doch, bei manchem Verwandten, welcher Unterschied! In der Beschäftigung mit den Künsten, auch in der Freude daran, waren sich beide gleich; aber während der eine das Schöne nur feinsinnig kostete, strebte ihm der andere mit ganzer Seele nach. Was den einen verweichlichte, stählte den andern, und so war Grell ein Vorbild, während Faulstich eine Warnung war.
Es fehlte heute das Abendrot, das sonst wohl um diese Stunde drüben über den Dächern hing, und so kam es, daß in Lewins Zimmer bereits ein völliges Dunkel herrschte. Er klopfte bei Frau Hulen; sie war nicht zu Hause. Ebenso fehlte die grüne Schirmlampe und war auch in dem Nebenzimmer nicht zu finden.

»Was nur der Alten ist?« sagte Lewin und war einen Augenblick verdrießlich über die »Unordnung«, lachte aber bald wieder und setzte hinzu: »Freilich die erste in anderthalb Jahren.«

Er tappte bis in die Küche, schürte in der Herdasche, bis die Glut zutage kam, und zündete seinen Wachsstock an. Und nun vorsichtig, um die Mühe des Anzündens nicht noch einmal zu haben, ging er in sein Zimmer zurück.

Jetzt erst sah er, daß ein Brief auf dem Tisch lag, die Aufschrift sehr flüchtig, allem Anscheine nach von Tubals Hand. Was ihm am meisten auffiel, war das unverhältnismäßig große Siegel. Es war ersichtlich, daß der Inhalt gegen unbefugte Neugier hatte sichergestellt werden sollen. Wenn Frau Hulen einen schwachen Punkt hatte, so lag er nach dieser Seite hin.

Lewin wußte davon. Er lächelte deshalb, als er das Siegel erbrach und den auseinandergefalteten Bogen bequemeren Lesens halber neben die kleine Wachsstockflamme hielt. Aber sein Lächeln währte nur einen Augenblick. Es waren nicht mehr als drei Zeilen.

»Komm heute abend nicht; Kathinka ist fort. In einem Zettel, den wir auf ihrem Schreibtisch fanden, hat sie Abschied von uns genommen. Alles andere errätst Du. Dein Tubal.«

Das Blatt entfiel seiner Hand, während er selber auf das Sofa zurücksank. Er war eine Minute lang wie betäubt. Dann richtete er sich auf und legte seinen Kopf erst in seine zusammengefalteten Hände, dann auf Tisch und Sofalehne; aber alles war ihm zu heiß. Er sprang auf und trat an das Fenster. Die fahle Mondessichel, eben aus dem Gewölk heraus, sah ihm ins Gesicht; ein paar Krähen drüben flogen auf; unten knarrten die Laternen. Die Kühle der Scheiben tat ihm wohl, aber die Angst blieb und stieg ihm höher ans Herz. Ihn verlangte nach Luft; so nahm er eine Filzkappe vom Riegel und schritt auf Flur und Treppe zu. Er war schon auf den ersten Stufen, als er, plötzlich durch kleine Sorglichkeiten bestimmt, wieder umkehrte, um die Zeilen zu zerreißen, die auf dem Tische liegengeblieben waren, und den noch brennenden Wachsstock auszulöschen. Nun erst verließ er das Haus.

Unten bog er in die Königsstraße ein; aber die Steinmassen bedrückten ihn, wie ihn das Zimmer bedrückt hatte, und er empfand deutlich, daß er aus der Stadt heraus müsse. So hielt er sich rechts und nahm dann über den Alexanderplatz hin seine Richtung auf das Frankfurter Tor zu.

Es war derselbe Weg, den er am Tage, wo das Dachsgraben in der Dahlwitzer Forst sein sollte, gemacht hatte. Als er wieder in die Nähe des Gasthauses zur »Neuen Welt« kam, das damals in rechter Vormittagsstille dagelegen hatte, sah er, daß alle Fenster erleuchtet waren; Klarinetten spielten auf, und junge Paare, denen es drinnen zu heiß geworden war, standen draußen unter den beschneiten Lindenbäumen. Was kümmerte sie der Wind, der ging, oder der Schnee, der lag? Der nächste Tanz brachte die Verkühlung wieder heraus.

Lewin hatte sich an einen der zwei Pfosten gelehnt, die mittelst eines darübergelegten Querbalkens den ziemlich primitiven Eingang zur »Neuen Welt« bildeten. Die Musik drinnen ging immer frischer. Er schlug den Takt mit dem rechten Fuße mit und fand den Tanz allerliebst. »Wer doch auch mit dabei wäre! Wer tanzen will, dem ist leicht gespielt, sagt das Sprichwort. Warum heißt es nicht: Wem gespielt wird, der tanze!«

In diesem Augenblick legte sich von hinten her ein Arm um seine Hüfte, und ein junges Ding, das sich am Heckenzaune hin, ohne daß er es merkte, herangeschlichen haben mußte, sagte vertraulich: »Komm, sie stimmen schon. Es gibt noch einen Schottschen. Du kannst mich und Malchen auch nach Hause bringen.«

Es klang mehr schelmisch als zudringlich, und Lewin, der dies fühlte, wandte sich um und ergriff ihre Hand. Das Mädchen aber, das ihn verwechselt haben mochte und jetzt erst in sein verstörtes Gesicht sah, erschrak und lief quer über den Vorgarten in den Saal zurück. Drinnen mußte sie von der Begegnung erzählt haben, denn zwei, drei Köpfe erschienen gleich darauf am Fenster und blickten neugierig nach dem Fremden hinaus.

Freilich nicht auf lange, denn der Schottische begann nun wirklich, und Lewin, während er weiterging, versuchte sich die Takte für seinen Marsch zurechtzulegen. Es gelang auch eine Weile; aber der Tanzrhythmus war doch stärker als alles andere, und aus seinem gezwungenen Marschtempo immer wieder herausfallend, marschierte er in einem wunderlichen Wechsel von Tanz und Schritt die gradlinige Pappelchaussee hinunter. Er kam an der Stelle vorbei, wo ihm an dem Schnatermanntage das Elend des Rückzuges zuerst entgegengetreten war; indessen er gedachte der erschütternden Begegnung nicht mehr und zählte nur noch die Takte der Musik, trotzdem er diese selbst schon längst nicht mehr hörte.

»So hintanzen«, sagte er, »das heißt Leben. Nur nichts schwer nehmen. Ich habe das Beste versäumt. Und am Ende auch heute wieder. Sie war hübsch und nicht zimperlich. ›Du kannst mich und Malchen nach Hause bringen... Sei nicht töricht, Lewin.‹ Nein, nein, das sagte sie nicht; das war schon früher.«

Er schwieg eine Weile, seine Gedanken im stillen weiterspinnend. »Und mit der Johanna Susemihl, was war es denn am Ende? Und was liegt daran, ob ihr die alte Zunzen das Kleine gegönnt hat oder nicht! Nun sind sie tot, und nur der Maréchal de logis, so denk' ich mir, lebt noch. Er hatte Tressen an dem Hut und einen Klunker dran. Und fremde Tressen; ja, das macht es; das Neue, das Fremde. Etwas anderes muß es sein. Neugier wie zu Mutter Evas Tagen.«

Er war jetzt über Friedrichsfelde hinaus; nur wenn er sich wandte, sah er noch die Lichter des Dorfes. Am Himmel kein Stern; über die Mondessichel hin zogen die Wolken, immer dichter, immer rascher. Aber rascher noch gingen die Bilder über seine Seele.

»Wie die Hulen sich wundern wird! Ich sehe sie, wie sie mit der kleinen Lampe nach mir sucht, als ob ich ein versteckter Liebhaber wäre. Und der bin ich eigentlich auch; nur zu sehr versteckt; ich werde nie gefunden. Die Hulen wird so verdutzt aussehen wie damals, als ich ihr das französische Kinderlied vorlas. ›Klippklapp‹, sagte sie; es war gar nicht so dumm. Wie ging es doch?

An meiner Enk'lin Namenstag
Ihr jeder etwas schenken mag:
Der Bäcker schickt ein Zuckerbrot,
Der Schneider einen Mantel rot...

Ja, so ging es. ›Le boulanger fait un gâteau, la couturière un p'tit manteau‹, das schien die leichteste Stelle und war dann hinterher die schwerste. Ich entsinne mich noch... Was es doch für wunderliche Sachen gibt; ein französischer Kinderreim zwischen Friedrichsfelde und Dahlwitz. Aber warum nicht? Es gibt noch viel Wunderlicheres.«

Er passierte jetzt das Dorf, dessen Namen er eben genannt hatte. Der mit alten Rüstern besetzte Fahrweg lag im Dunkeln, und die Fensterläden der meist einzeln stehenden Häuser waren geschlossen; aber aus den herzförmigen Öffnungen fiel ein Lichtschein auf die Straße.

»Brennende Kerzen«, sagte er, »morgen früh sind sie wieder an die Wand geklappt und so schwarz wie vorher. Es ist auch lange genug, vier Stunden zu brennen. Hier wohnt der Pastor; der brennt sechs.«

Hundert Schritte hinter dem Pastorhause schloß das Dorf, und Lewin trat ins Freie. Ihn fröstelte. War es die Nachtluft, oder war es das Fieber? Er schlug den Rockkragen in die Höhe und die Mützenklappen nach unten; aber das Frösteln blieb.

»Wohin geh' ich nur? Ich weiß es nicht. Oder ob ich umkehre? Nein. Ich kann nicht wieder in die Häusermasse hinein; sie nimmt mir den Atem, sie bringt mich um. Also weiter. Ich werde wohl irgendwo hinkommen.«

So schritt er abermals vorwärts; eine Viertelmeile, eine halbe. Nach rechts hin, an einer Biegung der Chaussee, stand der Schattenriß eines Kirchturms.

»Ich bin müde, und ich glaube fast, ich habe Hunger.«

Er setzte sich auf einen neben der Straße zusammengefahrenen Steinhaufen und sah dem dürren Laube zu, das über den glattgefahrenen Schnee hin an ihm vorübertanzte. Denn der Wind, der seit Stunden schon dichte Wolkenmassen voraufgeschickt hatte, kam jetzt selber und fegte zwischen den Pappeln hin. Es war ein Südwest, feucht und voll kleiner Regentropfen, aber einzelne dieser Tropfen gefroren wieder und schlugen ihm wie Nadeln ins Gesicht. »Tauwind«, sagte Lewin, »wie heißt es doch? Der Tauwind kam vom Mittagsmeer... ja, ich glaube, so fängt es an; aber das andere hab' ich vergessen. Ich finde nur noch die Figuren heraus, den Grafen und den Zöllner und den braven Mann. Wer ich wohl sein mag? Der Graf? Nein. Aber der brave Mann; ja, der bin ich, das ist mein Fach.«

Er blickte die Chaussee hinauf, hinunter und sagte dann: »Es sieht aus wie die Pappelallee, die durch das Bruch führt, und der Schatten, der dort unten steht, könnte die Guser Kirche sein... Das sind nur vier Wochen, und mir ist, als wär' es ein Jahr.« Er stützte die Stirn in seine Hand und träumte, und in seinem Traume klang es immer vernehmlicher wie leises, fernes Glockenläuten. Er horchte danach, voll wachsender Sehnsucht, und endlich war es ihm, als fühle er das Labsal einer Träne und als käm' es wie Befreiung über sein schwerbedrücktes Herz.

Aber es sollte nicht sein; es war anders beschlossen. Das Läuten, das er nur traumhaft gehört zu haben glaubte, kam wirklich näher, und ehe er sich noch zurechtgefunden hatte, sah er von der Dahlwitzer Seite her ein Fuhrwerk zwischen den Pappeln herankommen. Sonderbar, es war kein Schlitten, wie das Geläute hatte vermuten lassen, sondern ein leichter, offener Wagen, dessen zwei kleinen Pferden, sei es aus Laune oder übertriebener Vorsicht, ein Schellengurt aufgelegt worden war. Und jetzt war der Wagen heran; die Pferde scheuten und bogen nach rechts hin aus. Auf dem Vordersitze saß ein junges Paar, er mit verschränkten Armen in einen Mantel gewickelt, sie groß und schlank, in einem enganschließenden Rock und einer mit Pelz besetzten Mütze. Die Form ließ sich nicht erkennen, aber sie führte die Zügel und erschrak heftig, als sie des am Wege Sitzenden ansichtig wurde. Erst an der nächsten Pappel wandte sie sich noch einmal um und sprach dann, allem Anscheine nach, lebhaft zu ihrem Begleiter.

Lewin sah das alles, und ohne zu wissen, was er tat, sprang er auf und suchte dem ihm rasch entschwindenden Fuhrwerk zu folgen. Er wollte rufen, schreien, aber er brachte keinen Ton hervor. Und so lief er, bis ihm die letzten Kräfte versagten und er lautlos inmitten des Weges niederstürzte.

Eine Stunde später hielt ein Schlitten vor dem Bohlsdorfer Krug; es schlug eben vom Turm. Der Knecht, der von seinem Häckselsack gestiegen war, um die Pferde abzusträngen, zählte die Schläge und brummte verdrießlich vor sich hin: »All elwen; för Mitternacht bin ick nich to Huus; awers ick kunn em doch nich liggen laten.« Damit ging er auf den Heckenzaun zu, neben dem ein paar verschneite Krippen standen, während von der Hof- und Gartenseite her die Glut eines hochaufgemauerten Backofens, in dem das Reisigholz eben niedergebrannt war, über den Zaun weg auf die Straße sah. Der Knecht starrte hinein, freute sich des warmen Hauchs und schleppte dann eine der Krippen, aus der er den Schnee durch bloßes Umstülpen entfernt hatte, bis vor sein Gespann und öffnete den Häckselsack. Die Pferde, denen es zu lange dauern mochte, fuhren mit ihren Mäulern suchend und schnopernd durch den leeren Trog. Er gab ihnen einen Schlag: »Künn jih nicht töwen«, und stappste dann, als er ihnen endlich ihr Futter eingeschüttet hatte, unter dem Vorbau weg in die Krugstube, wo auf zwei großen Brettern die zum Einschieben in den Ofen eben fertig gewordenen Brote lagen.

»'n Abend, Krügersch.«

»'n Abend, Damerow. Noch so spät bi Weeg?«

»Ja, man möt ja wull. Dat oll Schlackerwetter geiht ei'm bis up de Knaken.«

»Dat deit et. Wat wullen S', Kirsch o'er Kümmel?«

»Geben S' en Kirsch. Awer töwen S' noch en beten. Ick hebb do een'n upp'n Schlitten. He läg as för dood bi de Chausseesteen. Upp'n Hoar, un ick hedd em överfoahren.«

»Kennen S' em nich?«

»Nee. He süht ut as en Stadtminsch, as en Berlinscher. Koamen S' man mit rut.«

Die Krügersfrau, die noch beim Abtrocknen war, nahm eine kleine Laterne vom Brett, steckte den Lichtstumpf an, hakte wieder ein und folgte dem Knecht auf die Straße. So traten sie an die Rückseite des Schlittens, der nur zwei Korbwände hatte, nach hinten zu aber offen war. Der Knecht schob ein Strohbündel, das als Decke gedient haben mochte, zurück, und die Krügersfrau leuchtete nun in den Schlitten hinein. Aber die Laterne fiel ihr aus der Hand, und sie tat einen Schrei. Dann lief sie wieder in das Haus, rüttelte den Mann, der in dem Alkoven nebenan eingeschlafen war, und rief: »Steih up, Drews. Kumm, mach flink. Ick gloob, he is all dood.«

»Wihr, wihr?« fragte der Krüger, aus dem Schlaf auffahrend.

Aber die Frau war schon wieder an der Tür. »Jott, Jott, wihr sall et sinn?... De jungsche Herr von Hohen-Vietz.«

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