Vor dem Sturm. Vierter Band. Siebchtes Kapitel. by Theodor Fontane
Vor dem Sturm. Vierter Band. Siebchtes Kapitel. by Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Vierter Band. Siebchtes Kapitel.

Theodor Fontane * Track #61 On Vor dem Sturm

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Vor dem Sturm. Vierter Band. Siebchtes Kapitel. by Theodor Fontane

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Theodor Fontane

Vor dem Sturm. Vierter Band. Siebchtes Kapitel. Annotated

Siebtes Kapitel
Frau Hulen schreibt

Am andern Morgen saßen die Geschwister allein am Frühstückstisch; Berndt war noch immer nicht zurück, die Schorlemmer in der Wirtschaft tätig. Lewin hatte sich sichtlich erholt, sprach aber wenig, so daß Renate froh war, Hoppenmarieken unter der Auffahrt erscheinen und wie gewöhnlich durch Erhebung ihres Hakenstockes andeuten zu sehen, daß sie Briefe bringe. Gleich darauf trat sie denn auch ein, von der Schorlemmer begleitet, und legte Briefe und Zeitungen auf den Tisch. »De een is von Faulstichen«, sagte sie, was sie, da sie nicht lesen konnte, dem Siegel oder irgendeinem andern äußerlichen Zeichen entnommen haben mußte. Und sie hatte recht. Faulstich schickte seine mehrerwähnte Kantate und benutzte die Gelegenheit, da sich nach Guse hin keine medisanten Briefe mehr richten ließen, den unter Handschuhmacher Pfeiffer erfochtenen Sieg der Kirch-Göritzer in einem ironisch pomphaften Bulletin zu verherrlichen. Einzelne Verse unter der Überschrift »Die Schlacht an der Krampe« waren eingestreut. In diesen hieß es:

»Und als sie sich den Mut geschärft
An dem Lebenswasser von Danzig,
Durchbrachen sie den roten Werft,
Alle neunundzwanzig.

Und Göritz und sein Vogel Greif
Kamen in Zorn und Eifer,
Da wurde König der Than von Feif',
Unser Handschuhmacher Pfeiffer.«

Hoppenmarieken hatte diese Reime noch mit angehört und dabei die Hände gefaltet, als ob es Gesangbuchverse wären. Zuletzt aber, als sie den Namen Pfeiffers hörte, fand sie sich zurecht und sagte: »Joa, diss' Pfeiffer, diss' lütt' Humpelbeen. In Schullen säät he ümmer; nu wahrens em wull övern Kopp tosammensloan.«

Und damit griff sie nach ihrer Kiepe und stapste wieder aus dem Zimmer hinaus.

Lewin schob den Brief zurück, der ihn wenig angenehm berührt hatte. »Ganz Faulstich; immer ein Auge für das Lächerliche und weiter nichts. Kein Einsetzen seiner selbst. Da bin ich doch schließlich mehr noch für Handschuhmacher Pfeiffer. Aber laß sehen, was der andere Brief bringt.«

Dieser »andere« war ein kleines, auf der Rückseite mit einem Glaube-Liebe-Hoffnung-Petschaft gesiegeltes Viereck, obenauf aber mit einer ziemlich langen hintereinander fortlaufenden Adresse versehen, die sich durch Rechtschreibung gerade nicht auszeichnete. »Seiner Edelgeboren Herrn Lewin von Vitzewitz, zur Zeit in Hohen-Vietz bei Küstrin; frei.« Lewin glaubte die Schriftzüge oft gesehen zu haben und wußte doch nicht wo. Neugierig erbrach er das Siegel, um nach der Unterschrift zu sehen. »Von meiner alten Hulen!«

»O lies«, sagte Renate, und die Schorlemmer setzte hinzu: »Das wird uns besser gefallen.«

»Wer weiß«, meinte Lewin. Aber man hörte seiner Stimme an, daß er desselben Glaubens und seiner Sache ziemlich sicher war. Und so las er:

»Lieber junger gnädiger Herr!

Es sind jetzt recht schwere Zeiten, wie mir Fräulein Renate von Bohlsdorf her geschrieben hat, damit ich doch wüßte, wo Sie wären. Und das war eine rechte Güte von dem lieben Fräulein.

Ja, schwere Zeiten sind es, und ich mag gar nicht davon sprechen. Aber das muß ich Ihnen als eine alte Frau doch sagen, es war nichts für Sie. Ich hab' es gleich gesehen; sie war wohl schlank wie eine Wespe, aber die stechen auch, und dann muß man Erde auflegen, daß der Schmerz vergeht. Und ist es das Herz, dann ist es schlimm. Ja, lieber junger Herr, so war es auch mit Ihnen, daß Ihnen Erde aufgelegt werden sollte. Aber der liebe Gott wollt' es nicht und hat anders geholfen, ohne Tod und Sterben, und hat Sie zu einem rechten Glücke aufgehoben.« Bis hierher hatte Lewin gelesen, aber jetzt flimmerte es ihm vor den Augen, und er ließ die Hand sinken, in der er das Blatt hielt.

Renate nahm es, um statt seiner zu lesen, und wiederholte leise: »Zu einem rechten Glücke aufgehoben.« Dann fuhr sie fort: »Das weiß ich ganz bestimmt. Das hab' ich Ihnen angesehen, denselben Tag, als Sie bei mir mieteten und gleich sagten: ›Das finde ich zu wenig, Frau Hulen‹, und mir aus freien Stücken zulegten. Ach, wer so ein Herz für die armen Leute hat, für den hat der liebe Gott auch ein Herz und läßt ihn nicht umkommen, und Sie haben es auch wohl erfahren, was wir letzten Sonntag wieder gesungen haben:

›Oft hast du mich gelabet,
Mit Himmels Brot gespeist,
Mit Trost mich reich begabet –‹

Ja, lieber junger Herr, das sind rechte Trostesworte, so recht für arme Leute geschrieben. Und am Ende sind wir alle arm, auch wenn wir reich sind. Sie wissen schon warum.

Und dieses alles hatt' ich Ihnen schreiben wollen, lieber Herr Lewin, wie ich Sie als alte Frau doch wohl nennen darf. Und wenn Sie wieder bei Wege sind, da werden Sie doch wohl wieder bei der alten Hulen wohnen wollen. Das meinte das gnädige Fräulein auch. Und Sie kriegen solche Wohnung auch gar nicht wieder, denn es paßt alles. Der ›Grüne Baum‹, und die Singuhr, und die Klosterkirche. Aber von der will ich weiter nicht reden, weil sie so katholisch aussieht.

Bitte, grüßen Sie das gnädige Fräulein, die so gut ist und an eine alte Frau gedacht hat, als welche ich hochgeneigtest bin und verbleibe Ihre Wilhelmine Hulen, geb. Petermann.«

Lewin wollte das Blatt zurücknehmen, aber Renate sagte: »Nein, noch nicht. Es gibt noch eine lange Nachschrift.« Und sie las weiter: »Ich muß Ihnen, junger Herr, doch auch noch vermelden, daß der Herr Rittmeister von Jürgaß fort ist. Er war hier und fragte nach Ihnen. Und der spaßige kleine Hauptmann auch. Sie gehen beide nach Breslau, wohin jetzt alles geht. Denn der alte Lehweß hat doch recht gehabt, und Preußen kommt wieder auf. Und morgen soll es in der Zeitung stehen. Aber die Menschen wollen ja nicht warten, und das ist ein Laufen und Trommeln, als hätten wir schon den Krieg. Und wer zu alt ist oder zu schwach, der gibt, was er hat, oder er sammelt. Die Potsdamer Kadetten haben vierzig Taler gesammelt.«

Renate lachte; denn dieser ersten Nachschrift, dicht an den Rand gekritzelt, folgte noch eine zweite: »Denken Sie sich, junger Herr, der lahme Kellerjunge von nebenan will auch mit. Er sagt, der König kann alles brauchen. Und vorgestern hab' ich mir im Bölkschen Saal den ›Brand von Moskau‹ angesehen. Gott, wie das so aufschlug! Ich dachte, wir müßten alle mitverbrennen. Ihre Obige.«

Die Schorlemmer hatte mit einer Art Andacht dem Geplauder dieses Briefes zugehört. »Das ist eine gute Frau«, sagte sie jetzt, und setzte dann hinzu: »Wir wollen ihr eine Kiste schicken! – Nicht wahr, Renatchen?« Und damit verließ sie das Zimmer, um die Geschwister allein zu lassen.

Sie traf damit den Wunsch beider, zumal Renatens, die nach einer Weile des Bruders Hand ergriff und leise fragte: »Darf ich mit dir sprechen, Lewin?« Dieser nickte.

»Die Hulen hat recht«, begann Renate, »sie hat es in ihrer Herzenseinfalt getroffen. Und nun höre mich an. Du bist jetzt zwei Tage hier, und wir können nicht so nebeneinander hergehen, immer nur in ängstlicher Vermeidung dessen, was uns das Herz bedrückt. Du bist verwundert, weil ich sage ›uns‹. Aber es ist so, denn ich bin bedrückt wie du.«

Sie schwieg und hatte vor, von Kathinka zu sprechen, aber der Name wollte ihr nicht über die Lippen, und so fuhr sie fort: »Ach, ich habe sie so geliebt, mehr als eine Schwester. Sie hatte das vornehme Wesen, das so gefällt, und sie hatte mir es angetan, mir und dir und jedem. Ich muß noch an den Morgen denken, als ihr nach Kirch-Göritz ginget, du und Tubal, und die Tauben an das Fenster kamen und sich liebkosend an sie drängten, als ich kaum erst den Riegel geöffnet hatte. Das verdroß mich damals. Aber ich hatte unrecht. Es flog ihr eben alles zu. Auch die Tauben. Und auch Marie ging in ihr auf und verzehrte sich in Bewunderung, ja, sie verzehrte sich, denn ihr blutete das Herz.«

Lewin, dem kein Wort entgangen war, lächelte und sagte: »Wir hören gern das Lob von dem, was uns verloren ging. Sonderbar, indem es uns das Gefühl des Verlustes steigert, tröstet es uns. Aber du darfst auch tadeln, Renate, tadeln, ohne Furcht, mir wehe zu tun. Denn ich wurde frei im Herzen, nicht durch eigene Kraft und kaum durch eigenen Willen, aber als ich vorgestern, in den hellen Wintertag hinein, hierherfuhr, da fühlt' ich, daß ein altes Leben von mir abfalle und ein neues Leben beginne. Es klingt alles noch in mir nach, leise-schmerzlich, aber ich bin doch ein Genesender.«

»Ach, daß ich sprechen könnte wie du«, sagte Renate. »Dir liegen die trüben Tage zurück, meiner aber harren sie noch. Und wenn sie mir erspart bleiben, so wird es doch immer ein Schweres sein, was mich vor einem noch Schwereren bewahrt. Ich weiß es, daß es so kommen wird; ich fühl' es vorahnend in meinem Gemüte.«

Lewin wollte antworten, aber Renate fuhr in wachsender Erregung fort: »Es ist ein dunkles Haus, und was sie selbst nicht haben, das können sie niemand geben: Licht und Glück. Es war immer ihr Schicksal, Liebe zu wecken, aber nicht Vertrauen. Vertrauen, ›die Mutter aller Liebe und ihr Kind‹. So las ich einmal, und es ergriff mich damals tief. Aber ich hab' es seitdem anders gefunden. Es gibt auch eine Liebe ohne Vertrauen, und ich heg' eine solche; du weißt zu wem, und ich kann sie nicht aus meinem Herzen reißen. Und deshalb werd' ich nicht glücklich sein.«

»Doch, Renate, du wirst es. Glücklicher als ich.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Tubal...«

»... ist seiner Schwester Bruder«, unterbrach ihn Renate in schmerzlicher Bewegung, »ist Kathinkas Bruder.«

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