Theodor Fontane
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Zwanzigstes Kapitel
Der andere Morgen
In die Nacht und dann allmählich in den dämmernden Tag hinein war der Rückzug gegangen, die Kolonne während des Marsches immer kleiner werdend. Schon am Spitzkrug waren die Barnimschen Bataillone, bei Reitwein die Kompanien Hohen-Ziesar und Lietzen-Dolgelin abgeschwenkt, und nur der verbleibende Rest, darunter die Rutzeschen Pikeniere, rückte bis Hohen-Vietz.
Es schlug sieben, als sie bis dicht an Miekleys Mühle heran waren. Ein schwerer, graugelber Nebel senkte sich, und nur die Vordersten konnten das Gehöft erkennen. Dazu herrschte peinliche Stille; die dicke Luft dämpfte den Ton, und es war, als schlichen sie heran. Bamme fühlte das und wollte damit ein Ende machen. »Vorwärts, Hirschfeldt«, rief er, »vorwärts mit der ganzen Janitscharenmusik! Wir wollen nicht ohne Sang und Klang einrücken, als kämen wir recte von der Armensünderbank. Zeigen wir unser gutes Gewissen, oder tuen wir wenigstens so.« Und durch den Nebel hin wirbelte die Hohen-Vietzer Trommel, und einzelne Töne des Rutzeschen Hornes fielen ein. Alles dumpf und trübe, und jedem, der es hörte, ging es durch Mark und Bein. Endlich hielten sie. »Gewehr ab!« Es war der Platz zwischen dem Krug und dem Schulzenhof; in den Häusern war Licht, aber niemand zeigte sich auf der Straße. Berndt und Bamme hatten noch eine kurze Beratung wegen Unterbringung der Pikeniere; dann gab die Trommel das Signal, und alles rückte in die Quartiere ab. Ehe fünf Minuten um waren, waren nur noch unsere Freunde da, schweigsam und unschlüssig, was zu tun. Keinen drängte es, die Schwelle des Herrenhauses wieder zu betreten, wußte doch jeder: Unglücksboten kommen immer zu früh. Endlich sagte Berndt, indem er auf den Schulzenhof hinwies: »Ich habe noch ein Wort mit Kniehase zu sprechen. Bitte, General, melden Sie mich bei meiner Tochter. Oder Tubal, du.«
Bamme nahm Hirschfeldts Arm, und Tubal folgte. So schritten sie die Dorfgasse hinauf bis an das Herrenhaus. Jeetze stand in der Glastür und schien mit seinem verwunderten Blick nach dem alten und jungen Herrn zu fragen. »Noch im Dorf«, sagte Bamme und setzte dann in halblautem Tone hinzu: »Kommen Sie, Hirschfeldt, ich liebe keine Familienszenen. Am wenigsten solche.« Und damit ging er nach dem Korridor, der in sein Zimmer führte. Nur Tubal blieb zurück. Was war zu tun? Sollte er bei Renaten eintreten? Er konnt' es nicht; so warf er sich in einen alten neben dem Kamin stehenden Lehnstuhl, in dem Jeetze die Nacht zugebracht hatte.
Berndt war nicht auf den Schulzenhof zugeschritten; er hatte nur allein sein wollen und folgte jetzt den Voraufgegangenen in kurzer Entfernung. Ihm schlug das Herz, und langsam, als ob er eine zu schwere Last trüge, schwankte er erst an der Pfarre und dann an Bauer Püschels großem Gehöft vorüber. Da drinnen war auch Trauer: der einzige Sohn gefallen.
Das nächste Gehöft war das von Kallies. Zwischen beiden lief ein Ligusterzaun, und einige der dürren Zweige streiften ihm das Gesicht, als er daran vorüberging. Er blieb stehen und sann und horchte und griff dann in die Zweige hinein, um sich zu halten, denn er fühlte, daß er dem Umfallen nahe sei.
»Alles gescheitert«, sagte er. »Und ich hab' es so gewollt. Gescheitert, ganz und gar. Soll es mir ein Zeichen sein? Ja. Aber ein Zeichen, daß wir unser Liebstes an ein Höchstes setzen müssen. Nichts anderes. Dies ist keine Welt der Glattheiten. Alles hat seinen Preis, und wir müssen ihn freudig zahlen, wenn er für die rechte Sache gefordert wird.«
So sprach er zu sich selbst. Aber inmitten dieses Zuspruchs, an dem er sich aufzurichten gedachte, ergriff es ihn mit neuer und immer tieferer Herzensangst, und sich vor die Stirn schlagend, rief er jetzt: »Berndt, täusche dich nicht, belüge dich nicht selbst. Was war es? War es Vaterland und heilige Rache, oder war es Ehrgeiz und Eitelkeit? Lag bei dir die Entscheidung? Oder wolltest du glänzen? Wolltest du der erste sein? Stehe mir Rede, ich will es wissen; ich will die Wahrheit wissen.«
Er schwieg eine Weile; dann ließ er den Zweig los, an dem er sich gehalten hatte, und sagte: »Ich weiß es nicht. Bah, es wird gewesen sein, wie es immer war und immer ist, ein bißchen gut, ein bißchen böse. Arme kleine Menschennatur! Und ich dachte mich doch größer und besser. Ja, sich besser dünken, da liegt es; Hochmut kommt vor dem Fall. Und nun welch ein Fall! Aber ich bin gestraft, und diese Stunde bereitet mir meinen Lohn.«
So war er bis auf den Hof seines Hauses gekommen. In der Halle fand er Tubal, der, erschöpft von der Anstrengung, in Jeetzes Lehnstuhl eingeschlafen war. Neben ihm lag Hektor. Als dieser seines Herrn ansichtig wurde, sprang er auf und drängte sich an ihn, aber ohne sonst ein Zeichen der Freude zu geben. Berndt streichelte das kluge Tier, warf einen Blick voll stillen Neides auf den schlafenden Tubal und schritt dann auf die Tür zu, die nach dem Eckzimmer führte. Er legte die Hand auf den Griff und zögerte noch einmal. Aber es mußte sein. Nur die beiden Mädchen waren da. Renate flog ihm entgegen. »Mein einzig lieber Papa«, rief sie und hing an seinem Halse. Dann ließ sie von ihm ab und fragte wie sein Gewissen: »Wo ist Lewin?«
Der alte Vitzewitz rang, ein Wort zu finden. Endlich in einem Tone, in dem sich der ganze Jammer seines eigenen Herzens aussprach, sagte er: »Ich weiß es nicht.«
»Also gefangen, tot?«
»Nein, nicht tot, noch nicht.«
Angst und Zittern ergriffen Renaten, aber in demselben Momente sah sie, daß Marie schwankte und wie leblos zu Boden stürzte. Berndt war von dem Anblick wie mitgetroffen. Ihm schwindelte unter dem Andrang alles dessen, was auf ihn einstürmte; endlich riß er sich aus seiner Betäubung und zog die Klingel. Jeetze kam, gleich darauf auch die Schorlemmer; alles lief und rannte; er selber aber war geschäftig, Marie wieder aufzurichten. Als ihm dies geglückt, sah er, daß sie aus einer Stirnwunde dicht neben der linken Schläfe blutete; sie war auf den scharf vorspringenden Kaminfuß gefallen. Endlich von ihrer Ohnmacht sich wieder erholend, verlangte sie nach dem Schulzenhofe gebracht zu werden, wozu sich Maline weniger aus Mitleid als Neugier sofort bereit erklärte. Durfte sie doch hoffen, unten im Dorfe mehr zu hören als im Herrenhause, wo jeder sich einschloß und schwieg. Selbst auf Bamme, trotzdem seine Klausur aufgehört hatte, war nicht viel zu rechnen.
Als Berndt und Renate wieder allein waren, sagte jener: »Was war es mit Marie? Ich hätte sie für fester gehalten.«
Renate schwieg.
»Er ist dein Bruder«, fuhr Berndt fort. »Und doch, du trugst es.«
Eine Pause folgte, während welcher Renate den Blick zu Boden senkte. Endlich antwortete sie: »Sie liebt ihn.«
Der alte Vitzewitz, nach allem, was er eben mit Augen gesehen hatte, schien eine Antwort wie diese erwartet zu haben und sagte deshalb ruhig: »Und er – weiß er davon?«
»Nein.«
»Bist du dessen gewiß?«
»Ja, ganz gewiß. Nie verriet sie sich, weder mit Wort noch Blick. Und hätte sie's, Lewin hätte kein Auge dafür gehabt; er war blind in seiner Liebe zu Kathinka.«
Berndt schritt im Zimmer auf und ab, und die widerstreitendsten Empfindungen bekämpften sich in seiner Brust. Einen Augenblick zuckte es spöttisch um seinen Mund, daß des »starken Mannes« Kind in das alte Haus der Vitzewitze kommen solle, aber dann schwand aller Spott wieder, und die nächstliegende Not gewann allein Gewalt in seinem Herzen, die Not um den einzigen Sohn. »Wie rette ich ihn?« Und es war, als ob er vor sich selber ein Gelübde täte: »Gott, ich lege jeden Stolz zu deinen Füßen; demütige mich, ich will stillhalten; alles, alles; nur erhalte mir ihn.«
Renate, während Berndt auf- und abgeschritten war, war ihm mit den Augen gefolgt. Sie wußte genau, was in seiner Seele vorging, und sagte jetzt: »Bitte, Papa, sage mir alles. Was ist es mit ihm? Verschweige mir nichts!«
Er nahm ihre Hand. »Ich habe dir nichts verschwiegen, Kind. Dunkel und Ungewißheit ist alles. Ich weiß nicht mehr als du. Aber eines weiß ich nur zu gut: wir müssen alles fürchten, alles, auch wenn in diesem Augenblicke Gottes Sonne noch über ihm scheint. Mit den Waffen in der Hand gefangen! Sie werden ihn vors Kriegsgericht bringen, und...«
»Wie kam es?« unterbrach ihn Renate. »Sprich, ich möchte von ihm hören, mich an etwas aufrichten, und wenn es an nichts anderem wäre als an dem eitlen Troste getaner Pflicht oder bewiesenen Mutes.«
»Und diesen Trost kann ich dir gewähren. Es war ein Handgemenge; sie hatten Othegraven umzingelt, und wir wollten ihn freimachen. So ging es hinein in den Knäuel. Als wir wieder heraus waren, fehlte Lewin. Anfangs hofften wir noch, denn es fehlten viele, die sich nach und nach wieder zu uns fanden; aber Lewin blieb aus. Kein Zweifel, er ist gefangen.«
»Und was tun wir?«
»Was uns allein noch bleibt: Gottes Barmherzigkeit anrufen. Mögen ihm alle guten Engel zur Seite stehen! Wir können nichts mehr.« Und damit verließ er das Zimmer und ging in sein Kabinett hinüber.
Hier war es kalt und unwirsch. Jeetze hatte zu heizen vergessen; dazu lag Staub auf Tisch und Stühlen. Aber Berndt sah es nicht oder glitt gleichgiltig mit dem Auge darüber hin, während er doch in dem Widerstreit, der in solchen Momenten unsere Seele zu füllen pflegt, seinen Sinn auf andere, fast noch gleichgiltigere Dinge richtete. Er sah, daß an dem Schlüsselbrett die Schlüssel falsch hingen, und begann nun alles nach Nummer und Reihe zu ordnen. Dann schritt er auf das Fenster zu und starrte minutenlang auf die russischen Karten und Pläne, die hier immer noch an den breiten Klappläden angeklebt waren. »Minsk, Smolensk, Bialystok.« Und er wiederholte die Namen, auf- und abschreitend, immer wieder und wieder. Endlich blieb er vor dem Bilde stehen, das über seinem Arbeitstische hing, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Geliebte«, sprach er vor sich hin, »wie preis' ich Gott, daß dir diese Stunde nach seinem gnädigen Ratschluß erspart geblieben ist. Ach, daß ich wäre, wo du bist. Frieden allein ist bei den Toten.«
Er ließ sich auf das Sofa nieder und begann ein Frösteln zu fühlen. Da lag sein Mantel, den Jeetze, statt ihn anzuhängen, einfach über die Lehne geworfen hatte. Das traf sich gut. Er zog ihn an sich und wickelte sich ein. »Minsk, Smolensk...« Aber nun schwand ihm das Bewußtsein, und er schlief.
Er schlief fest und lange. Mittag war vorüber, als ihn ein Klopfen an der Tür weckte. Es war schon das drittemal. »Herein!« Jeetze meldete, daß der alte Rysselmann gekommen sei.
»Laß ihn vor. Gleich.«
Der alte Rysselmann trat ein, steif und geradlinig wie immer, das Haar nach hinten gekämmt, seinen Rohrstock unterm Arm und das Gerichtsdienerblechschild auf dem langen, blauen Stehkragenrock. Er blieb an der Tür stehen und grüßte militärisch; neben ihm Jeetze, der das Zimmer zu verlassen zögerte. »Bleib nur«, sagte Berndt, der das Zögern des Alten wohl verstand, »du willst auch wissen, wie es steht. Du liebst ihn auch... Ach, wer nicht?« Und dabei strich er sich leis und verstohlen über Stirn und Augen. Dann erst trat er auf den alten Gerichtsdiener zu und sagte: »Nun, Rysselmann, was bringt Ihr?«
»'n Brief vom Herrn Justizrat.«
»Gutes drin?«
Der Alte schwieg. Er konnte nicht ja sagen, und das Nein wollte ihm nicht über die Lippen.
Berndt wog den Brief hin und her, den er sich zu öffnen scheute, denn jetzt mußt' es sich entscheiden. Er musterte den Alten einmal, zweimal und fand zuletzt, daß er alles in allem nicht aussah wie einer, der eine Todesnachricht bringe. »Ich will den Brief lesen – aber allein... Und dann noch eins, Rysselmann; wißt Ihr...«
»Ja, gnädiger Herr, eins weiß ich.«
»Und?«
»Der junge Herr lebt.«
Des alten Vitzewitz Händen entfiel der Brief, und seine Lippen flogen. Er konnte nicht sprechen. Als er sich wieder gefaßt hatte, trat er auf Jeetze zu, legte seine Hand auf des alten Dieners Schulter und sagte, während er ihn in freudiger Erregung schüttelte: »Hast du's gehört, Alter? Er lebt! Und nun sorge mir für Rysselmann. Er hat uns Gutes gebracht, bring ihm wieder Gutes. Nein, bring ihm das Beste. Hier hast du den Schlüssel; unten links, wo der spanische liegt. Hol' ihm eine Flasche, mein alter Jeetze. Und du sollst mittrinken. Hast du's gehört? Er lebt!«
Jeetze küßte seinem Herrn die Hand und zitterte und zimperte hin und her. Dann ging er, während Rysselmann ihm folgte. Berndt, als er allein war, öffnete den Brief und überflog ihn. Es war, wie der alte Gerichtsdiener gesagt hatte. Er verließ nun selber das Kabinett, um sich in das Eckzimmer zu den Frauen hinüber zu begeben. Er traf nur Renate, die bang und fragend auf ihn zueilte. »Noch ist Hoffnung, Kind. Und nun rufe die Schorlemmer.« Erst als diese gekommen war, setzten sie sich um den runden Tisch, und Berndt las:
»Hochgeehrter Herr und Freund!
Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen anzuzeigen, daß der Kampf dem Feinde zwei Gefangene in die Hände fallen ließ: Ihren Sohn und den Konrektor Othegraven. Ihr Sohn wird im Laufe des Vormittags unter Eskorte nach Küstrin geschafft werden, Konrektor Othegraven wurde bei Tagesanbruch am Lohhof erschossen. Mir liegt nach dieser kurzen, vorgängigen Mitteilung nur noch ob, Ihnen über den Tod dieses Tapferen zu berichten. Ich schlief seit kaum einer Stunde, als ich durch eine französische Ordonnanz geweckt wurde, die mir anzuzeigen kam, daß einer der Gefangenen, der Konrektor Othegraven, mich zu sprechen wünsche. Ich kleidete mich rasch an, und der junge Soldat führte mich nach der alten Nikolaikirche hinüber, an deren Ausgängen französische Doppelposten standen. Innen sah es scharf aus; auf einer Schütte Stroh lagen die Toten; der erste, den ich sah, war Kandidat Grell.
In der Sakristei traf ich Othegraven. Er saß in einem hochlehnigen, alten Chorstuhl, und die Tür stand offen, so daß er den Blick auf die Kanzel frei hatte. Er wies darauf hin und sagte: ›Sehen Sie, Turgany, hier hab' ich zum ersten Male gepredigt. Mein Text war: ‚Selig sind die Friedfertigen‘. Und dies ist nun das Ende. Das Kriegsgericht hat gesprochen, und binnen hier und einer Stunde ist es mit mir vorbei.‹ Ich nahm seine Hand, und da von Rettung oder Begnadigung keine Rede sein konnte, so fragte ich nach seinem Letzten Willen und ob ihm das Scheiden schwer würde. Er verneinte es und setzte hinzu, daß er einmal gelesen habe, wie das Leben einem Gastmahl gleiche. Jeder habe den Wunsch, auszudauern; aber wer in der Mitte des Mahles abgerufen würde, fühle bald nachher, daß er wenig versäumt habe. Und das sei wahr. Er für seinen Teil wünsche nur erst über die Trommelwirbel und das Augenverbinden weg zu sein; auch mißtraue er den Franzosen und ihrem Schießen. ›Sie tuen alles unordentlich, und den Hofer haben sie massakriert.‹ Er hing diesem Gedanken eine Weile nach und sagte dann, ehe ich noch eine weitere Frage an ihn gerichtet hatte: ›Ich habe niemand; meine kleine Sammlung fällt an Seidentopf, alles andere an das Hospital dieser Kirche. Und nun wollen wir Abschied nehmen, Turgany. Grüßen Sie diese tapfere Stadt, die mir so teuer geworden ist, und sagen Sie jedem, der es hören will, daß ich in der Hoffnung auf Jesum Christum, aber zugleich auch in dem festen Glauben stürbe, mein Leben an eine gute Sache gesetzt zu haben. Ich habe gepredigt: ‚Selig sind die Friedfertigen‘, aber es ist auch geboten, uns zu wehren und für unser Leben und Gesetz zu streiten.‹
Und danach schieden wir. Für immer.
Eine Stunde später ward ich zu General Girard befohlen. Ein echter Franzos, menschlich und von edler Gesinnung. ›Ich konnt' es nicht ändern‹, empfing er mich. ›Ein Aufstand in unserm Rücken und von ihm geleitet; er mußte sterben. So will es das Gesetz des Krieges und unsere Sicherheit. Nach seinen Mitschuldigen frag' ich nicht; Ihr Volk lehnt sich jetzt wider uns auf, und wir müssen sehen, wie wir durchkommen.‹ Und danach entließ er mich sichtlich bewegt, nachdem er hinzugefügt hatte, daß der ›Directeur adjoint‹, wie er ihn nannte, ›comme un vieux soldat‹ gestorben sei.
Wir haben ihn dicht neben der Kirche, wo noch ein eingegittertes Stück von dem alten Kirchhof übrig ist, begraben. Neben ihm Hansen-Grell.
Ich schließe mit dem herzlichen Wunsche, daß der Transport Ihres Sohnes nach Küstrin ein erster Schritt zu seiner Begnadigung oder vielleicht auch zu seiner Befreiung sein möge.
Turgany.«
Das erste Gefühl, als Berndt den Brief aus der Hand legte, war das des tiefsten Dankes.
Renate umarmte und küßte den Vater, und der Schorlemmer, die nie weinte und stolz darauf war, fielen die Tränen auf die gefalteten welken Hände. Sie hatte kein Wort, und selbst ihre Sprüche versagten ihr.
Lewin lebte noch, noch also war Hoffnung. Aber eine rechte Freude wollte trotz alledem nicht aufkommen, und wenn alle bis dahin von dem Schrecken beherrscht gewesen waren, ihn vielleicht schon verloren zu haben, so beherrschte sie jetzt die Furcht, ihn jeden Augenblick verlieren zu können.
So verging eine halbe Stunde; Renate hatte das Zimmer verlassen, um auf dem Schulzenhofe nach Marie, die Schorlemmer, um draußen nach der Wirtschaft zu sehen. Denn was auch geschehen möge, das Herdfeuer brennt und mahnt uns an den Anspruch und das Recht des alltäglichen Lebens. Berndt seinerseits war allein geblieben; er sann und plante und verwarf wieder. Als die Stutzuhr eben zwei schlug, erschien Jeetze und meldete, daß angerichtet sei.
Wie gewöhnlich, seitdem Besuch im Hause war, war in der Halle gedeckt worden. Bamme trat auf Vitzewitz zu, um ihm zu der »guten Zeitung« zu gratulieren; aber es klang frostig. Jeder konnte den Zweifel heraushören, nicht an der Sache selbst, aber an ihrem Wert. Man setzte sich; Berndt fragte nach Marie, nach Kniehase, nach Rysselmann; bald aber hob er die Tafel auf, an der, aller Anstrengungen unerachtet, nur wenig gesprochen worden war. Alles erschien ihm wie Versäumnis, ehe man nicht wenigstens einen Plan verabredet hatte. Er zog sich in sein Arbeitskabinett zurück und ließ eine Viertelstunde später die Herren bitten, ihm dahin folgen zu wollen.
In dem Zimmerchen war es inzwischen freundlicher geworden; ein Feuer brannte, und der alte Mantel, der über der Lehne gehangen hatte, hing jetzt am Riegel. Der General und Hirschfeldt erschienen zuerst, nach ihnen Tubal. Alle drei zu placieren, würde bei der Enge des Raumes nicht leicht gewesen sein, wenn nicht Bamme, der es warm liebte, dicht an den Ofen gerückt wäre. Hier saß er mit untergeschlagenen Füßen und rauchte, mehr einem Götzenbilde als einem Menschen ähnlich.
Jeetze kam und reichte Kaffee, nach dem jeder mehr oder weniger begierig war. Und wirklich, die Tassen waren kaum geleert, als eine bessere Stimmung Platz zu greifen begann. War denn die Lage wirklich so hoffnungslos? Nein. Berndt nahm das Wort und erklärte, daß er in der Furcht der Franzosen, in ihrer mutmaßlichen Scheu vor einem zweiten zu statuierenden Exempel den besten Teil seiner Hoffnung sehe. »Girard oder Fournier«, so schloß er, »macht keinen Unterschied; sie wissen, daß ihre Tage hier herum gezählt sind, und werden sich hüten, den schon straffen Bogen noch weiter zu überspannen.«
Bamme wollte von diesem Troste nichts wissen; Hirschfeldt widersprach nicht geradezu, sah aber alles wirkliche Heil nur in einem selbständigen Vorgehen. Solange der Hals in der Schlinge stecke, wiederholte er, sei von Sicherheit keine Rede; ein Ungefähr, eine Laune, und die Schlinge ziehe sich zu. »Können wir uns auf Turganys Brief verlassen (und ich glaube, daß wir es können), so treten die Küstriner Herren nicht eher als morgen mittag oder nachmittag zusammen. Selbst wenn die Würfel schwarz fallen, woran leider nicht zu zweifeln, so haben wir vor übermorgen früh nichts zu befürchten. Füsilladen sind Früh- und Morgensache. Das ist so alter Brauch. Was also unsererseits zu geschehen hat, muß diese Nacht geschehen oder in der nächstfolgenden. Diese Nacht – unmöglich, vorausgesetzt, daß wir der Mitwirkung unserer Leute dazu bedürfen. Auch die besten halten solche Schlappe nicht aus. Also morgen; morgen nacht.«
Berndt und Bamme waren einverstanden, auch damit, daß man es mit List versuchen wolle. Hoppenmarieken sollte dabei helfen. Diese, wie Berndt sehr wohl wußte, lebte mit der Küstriner Garnison auf dem allerbesten Fuße; war sie doch jedem einmal mit Kauf oder Kuppelei zu Diensten gewesen. Westfalen oder Franzosen machte dabei keinen Unterschied, ja, die letzteren hatten eine besondere Vorliebe für sie und gestatteten ihr um ihrer grotesk-komischen Erscheinung oder vielleicht auch um ihrer gemutmaßten Geistesschwäche willen überallhin Zutritt. Daß Hoppenmarieken selbst, eitel und abenteuersüchtig, wie sie war, gegen Übernahme der ihr zugeteilten Rolle Bedenken erheben würde, daran war gar nicht zu denken; eine andere Frage blieb freilich, ob ihr auch in allen Stücken zu trauen sei. Man ließ dies indessen fallen, und Berndt schickte nach dem Forstacker, um sie herbeiholen zu lassen. Aber sie war von ihrem gewöhnlichen Tagesmarsche noch nicht zurück. So wurde beschlossen, die Besprechung mit ihr auf den andern Morgen zu vertagen. Bamme wollte dabei zugegen sein.
Hiernach trennten sich alle und zogen sich auf ihr Zimmer zurück. Was noch zu tun war, waren Dinge, die sich mit Kniehase besser als mit jedem anderen erledigen ließen; dieser kam denn auch, beschaffte und ordnete alles Nötige und war bei Dunkelwerden wieder auf dem Schulzenhofe.
Sein erster Gang, als er wieder daheim war, war zu Marie, bei der er, seiner eignen Wunde wenig achtend, den größten Teil des Tages zugebracht hatte.
Er setzte sich auch jetzt wieder an ihr Bett und horchte und fragte; ihr aber, als sie diese vom herzlichsten Mitgefühl eingegebenen Fragen hörte, kam der stille Vorwurf zurück, in allen voraufgegangenen Stunden immer nur an Lewin und nicht ein einziges Mal an ihn gedacht zu haben, an ihn, der jetzt so liebreich zu ihr sprach und vom ersten Tage an nur Güte und Nachsicht für sie gehabt hatte. Sie klagte sich ihrer Selbstsucht an und vergoß bittere Tränen. Er aber wollte davon nichts wissen und wiederholte nur einmal über das andere: »Laß, Kind; das ist die Jugend.« Und dann beruhigte sie sich und ließ sich wieder erzählen. Ach, wie schlug ihr das Herz höher, als sie von Turganys Brief hörte: Othegraven war tot, aber Lewin lebte. Und das bedeutete alles! Dieselbe Selbstsucht, deren sie sich eben noch bezichtigt hatte, war wieder da. Und sie wußte es kaum.
Ihre Stirn wurde gekühlt; der Blutverlust aus der Wunde galt für ein gutes Zeichen, und ihr Befinden war nicht schlecht. Sie lächelte vor sich hin, wenn Bammes und Rutzes und ihrer Haltung während des Straßenkampfes Erwähnung geschah. Erst gegen Abend stellte sich Fieber ein, und sie begann nun leise vor sich hin zu sprechen: »Wenn nur Othegraven da wäre... der würde helfen... mir zuliebe.« Und dann nannte sie des alten Füllgraf Namen und dann den des alten Küstrinschen Kastellans, der ein Vetter von den Kümmritzens war und den sie nun in ihren Phantasien inständigst bat, den »jungen Herrn« in seinem Schlosse verstecken zu wollen, »mitten im großen Saal, da würd' ihn niemand suchen.«
So vergingen die Stunden, und die Bilder drehten sich im Kreise. Aber eine Stunde nach Mitternacht ließ das Fieber nach, und sie schlief ein.