Heinrich Heine
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Kapitel XII
Tirol ist sehr schön, aber die schönsten Landschaften können uns nicht entzücken bei trüber Witterung und ähnlicher Gemütsstimmung. Diese ist bei mir immer die Folge von jener, und da es draußen regnete, so war auch in mir schlechtes Wetter. Nur dann und wann durfte ich den Kopf zum Wagen hinausstrecken, und dann schaute ich himmelhohe Berge, die mich ernsthaft ansahen und mir mit den ungeheuern Häuptern und langen Wolkenbärten eine glückliche Reise zunickten. Hie und da bemerkte ich auch ein fernblaues Berglein, das sich auf die Fußzehen zu stellen schien und den anderen Bergen recht neugierig über die Schultern blickte, wahrscheinlich um mich zu sehen. Dabei kreischten überall die Waldbäche, die sich wie toll von den Höhen herabstürzten und in den dunkeln Talstrudeln versammelten. Die Menschen steckten in ihren niedlichen, netten Häuschen, die über der Halde, an den schroffsten Abhängen und bis auf die Bergspitzen zerstreut liegen; niedliche, nette Häuschen, gewöhnlich mit einer langen, balkonartigen Galerie, und diese wieder mit Wäsche, Heiligenbildchen, Blumentöpfen und Mädchengesichtern ausgeschmückt. Auch hübsch bemalt sind diese Häuschen, meistens weiß und grün, als trügen sie ebenfalls die Tiroler Landestracht, grüne Hosenträger über dem weißen Hemde. Wenn ich solch Häuschen im einsamen Regen liegen sah, wollte mein Herz oft aussteigen und zu den Menschen gehen, die gewiß trocken und vergnügt da drinnen saßen. Da drinnen, dacht ich, muß sich's recht lieb und innig leben lassen, und die alte Großmutter erzählt gewiß die heimlichsten Geschichten. Während der Wagen unerbittlich vorbeifuhr, schaut ich noch oft zurück, um die bläulichen Rauchsäulen aus den kleinen Schornsteinen steigen zu sehen, und es regnete dann immer stärker, außer mir und in mir, daß mir fast die Tropfen aus den Augen herauskamen.
Oft hob sich auch mein Herz, und trotz dem schlechten Wetter klomm es zu den Leuten, die ganz oben auf den Bergen wohnen und vielleicht kaum einmal im Leben herabkommen und wenig erfahren von dem, was hier unten geschieht. Sie sind deshalb um nichts minder fromm und glücklich. Von der Politik wissen sie nichts, als daß sie einen Kaiser haben, der einen weißen Rock und rote Hosen trägt; das hat ihnen der alte Ohm erzählt, der es selbst in Innsbruck gehört von dem schwarzen Sepperl, der in Wien gewesen. Als nun die Patrioten zu ihnen hinaufkletterten und ihnen beredsam vorstellten, daß sie jetzt einen Fürsten bekommen, der einen blauen Rock und weiße Hosen trage, da griffen sie zu ihren Büchsen und küßten Weib und Kind und stiegen von den Bergen hinab und ließen sich totschlagen für den weißen Rock und die lieben alten roten Hosen.
Im Grunde ist es auch dasselbe, für was man stirbt, wenn nur für etwas Liebes gestorben wird, und so ein warmer, treuer Tod ist besser als ein kaltes, treuloses Leben. Schon allein die Lieder von einem solchen Tode, die süßen Reime und lichten Worte erwärmen unser Herz, wenn feuchte Nebelluft und zudringliche Sorgen es betrüben wollen.
Viel solcher Lieder klangen durch mein Herz, als ich über die Berge Tirols dahinfuhr. Die traulichen Tannenwälder rauschten mir so manch vergessenes Liebeswort ins Gedächtnis zurück. Besonders wenn mich die großen blauen Bergseen so unergründlich sehnsüchtig anschauten, dann dachte ich wieder an die beiden Kinder, die sich so liebgehabt und zusammen gestorben sind. Es ist eine veraltete Geschichte, die auch jetzt niemand mehr glaubt und die ich selbst nur aus einigen Liederreimen kenne.
»Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb,
Sie konnten beisammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief –«
Diese Worte fingen von selbst wieder an in mir zu klingen, als ich bei einem von jenen blauen Seen am jenseitigen Ufer einen kleinen Knaben und am diesseitigen ein kleines Mädchen stehen sah, die beide in der bunten Volkstracht, mit bebänderten, grünen Spitzhütchen auf dem Kopfe, gar wunderlieblich gekleidet waren und sich hinüber und herüber grüßten –
Sie konnten beisammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.