Heinrich Heine
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III
Die Engländer
Unter den Bogengängen der Londoner Börse hat jede Nation ihren angewiesenen Platz, und auf hochgesteckten Täfelchen liest man die Namen: Russen, Spanier, Schweden, Deutsche, Malteser, Juden, Hanseaten, Türken usw. Vormals stand jeder Kaufmann unter dem Täfelchen, worauf der Name seiner Nation geschrieben. Jetzt aber würde man ihn vergebens dort suchen: die Menschen sind fortgerückt; wo einst Spanier standen, stehen jetzt Holländer; die Hanseaten traten an die Stelle der Juden; wo man Türken sucht, findet man jetzt Russen; die Italiener stehen, wo einst die Franzosen gestanden; sogar die Deutschen sind weitergekommen. Wie auf der Londoner Börse, so auch in der übrigen Welt sind die alten Täfelchen stehengeblieben, während die Menschen darunter weggeschoben worden und andere an ihre Stelle gekommen sind, deren neue Köpfe sehr schlecht passen zu der alten Aufschrift. Die alten stereotypen Charakteristiken der Völker, wie wir solche in gelehrten Kompendien und Bierschenken finden, können uns nichts mehr nutzen und nur zu trostlosen Irrtümern verleiten. Wie wir unter unsern Augen in den letzten Jahrzehnten den Charakter unserer westlichen Nachbarn sich allmählich umgestalten sahen, so können wir seit Aufhebung der Kontinentalsperre eine ähnliche Umwandlung jenseits des Kanales wahrnehmen. Steife, schweigsame Engländer wallfahren scharweis nach Frankreich, um dort sprechen und sich bewegen zu lernen, und bei ihrer Rückkehr sieht man mit Erstaunen, daß ihnen die Zunge gelöst ist, daß sie nicht mehr wie sonst zwei linke Hände haben und nicht mehr mit Beefsteak und Plumpudding zufrieden sind. Ich selbst habe einen solchen Engländer gesehen, der in Tavistock-Tavern etwas Zucker zu seinem Blumenkohl verlangt hat, eine Ketzerei gegen die strenge anglikanische Küche, worüber der Kellner fast rücklings fiel, indem gewiß seit der römischen Invasion der Blumenkohl in England nie anders als in Wasser abgekocht und ohne süße Zutat verzehrt worden. Es war derselbe Engländer, der, obgleich ich ihn vorher nie gesehen, sich zu mir setzte und einen so zuvorkommend französischen Diskurs anfing, daß ich nicht umhinkonnte, ihm zu gestehen, wie sehr es mich freue, einmal einen Engländer zu finden, der nicht gegen den Fremden zurückhaltend sei, worauf er ohne Lächeln ebenso freimütig entgegnete, daß er mit mir spräche, um sich in der französischen Sprache zu üben.
Es ist auffallend, wie die Franzosen täglich nachdenklicher, tiefer und ernster werden, in ebendem Maße, wie die Engländer dahin streben, sich ein legeres, oberflächliches und heiteres Wesen anzueignen; wie im Leben selbst, so auch in der Literatur. Die Londoner Pressen sind vollauf beschäftigt mit fashionablen Schriften, mit Romanen, die sich in der glänzenden Sphäre des High Life bewegen oder dasselbe abspiegeln, wie z. B. Almacks, Vivian Grey, Tremaine, the Guards, Flirtation, welcher letztere Roman die beste Bezeichnung wäre für die ganze Gattung, für jene Koketterie mit ausländischen Manieren und Redensarten, jene plumpe Feinheit, schwerfällige Leichtigkeit, saure Süßelei, gezierte Roheit, kurz für das ganze unerquickliche Treiben jener hölzernen Schmetterlinge, die in den Sälen Westlondons herumflattern.
Dagegen welche Literatur bietet uns jetzt die französische Presse, jene echte Repräsentantin des Geistes und Willens der Franzosen! Wie ihr großer Kaiser die Muße seiner Gefangenschaft dazu anwandte, sein Leben zu diktieren, uns die geheimsten Ratschlüsse seiner göttlichen Seele zu offenbaren und den Felsen von St. Helena in einen Lehrstuhl der Geschichte zu verwandeln, von dessen Höhe die Zeitgenossen gerichtet und die spätesten Enkel belehrt werden: so haben auch die Franzosen selbst angefangen, die Tage ihres Mißgeschicks, die Zeit ihrer politischen Untätigkeit so rühmlich als möglich zu benutzen; auch sie schreiben die Geschichte ihrer Taten; jene Hände, die so lange das Schwert geführt, werden wieder ein Schrecken ihrer Feinde, indem sie zur Feder greifen; die ganze Nation ist gleichsam beschäftigt mit der Herausgabe ihrer Memoiren, und folgt sie meinem Rate, so veranstaltet sie noch eine ganz besondere Ausgabe ad usum Delphini, mit hübsch kolorierten Abbildungen von der Einnahme der Bastille, dem Tuileriensturm und dergleichen mehr.
Habe ich aber oben angedeutet, wie heutzutage die Engländer leicht und frivol zu werden suchen und in jene Affenhaut hineinkriechen, die jetzt die Franzosen von sich abstreifen, so muß ich nachträglich bemerken, daß ein solches Streben mehr aus der Nobility und Gentry, der vornehmen Welt, als aus dem Bürgerstande hervorgeht. Im Gegenteil, der gewerbtreibende Teil der Nation, besonders die Kaufleute in den Fabrikstädten und fast alle Schotten, tragen das äußere Gepräge des Pietismus, ja ich möchte sagen Puritanismus, so daß dieser gottselige Teil des Volkes mit den weltlichgesinnten Vornehmen auf dieselbe Weise kontrastiert wie die Kavaliere und Stutzköpfe, die Walter Scott in seinen Romanen so wahrhaft schildert. Man erzeigt dem schottischen Barden zu viele Ehre, wenn man glaubt, sein Genius habe die äußere Erscheinung und innere Denkweise dieser beiden Parteien der Geschichte nachgeschaffen, und es sei ein Zeichen seiner Dichtergröße, daß er, vorurteilsfrei wie ein richtender Gott, beiden ihr Recht antut und beide mit gleicher Liebe behandelt. Wirft man nur einen Blick in die Betstuben von Liverpool oder Manchester und dann in die fashionablen saloons von Westlondon, so sieht man deutlich, daß Walter Scott bloß seine eigene Zeit abgeschrieben und ganz heutige Gestalten in alte Trachten gekleidet hat. Bedenkt man gar, daß er von der einen Seite selbst als Schotte, durch Erziehung und Nationalgeist, eine puritanische Denkweise eingesogen hat, auf der ändern Seite als Tory, der sich gar ein Sprößling der Stuarts dünkt, von ganzer Seele recht königlich und adeltümlich gesinnt sein muß und daher seine Gefühle und Gedanken beide Richtungen mit gleicher Liebe umfassen und zugleich durch deren Gegensatz neutralisiert werden: so erklärt sich sehr leicht seine Unparteilichkeit bei der Schilderung der Aristokraten und Demokraten aus Cromwells Zeit, eine Unparteilichkeit, die uns zu dem Irrtume verleitete, als dürften wir in seiner Geschichte Napoleons eine ebenso treue fair-play-Schilderung der französischen Revolutionshelden von ihm erwarten.
Wer England aufmerksam betrachtet, findet jetzt täglich Gelegenheit, jene beiden Tendenzen, die frivole und puritanische, in ihrer widerwärtigen Blüte und, wie sich von selbst versteht, in ihrem Zweikampf zu beobachten. Eine solche Gelegenheit gab ganz besonders der famöse Prozeß des Herrn Wakefield, eines lustigen Kavaliers, der gleichsam aus dem Stegreif die Tochter des reichen Herrn Tourner, eines Liverpooler Kaufmanns, entführt und zu Gretna Green, wo ein Schmied wohnt, der die stärksten Fesseln schmiedet, geheiratet hatte. Die ganze kopfhängerische Sippschaft, das ganze Volk der Auserlesenen Gottes schrie Zeter über solche Verruchtheit, in den Betstuben Liverpools erflehte man die Strafe des Himmels über Wakefield und seinen brüderlichen Helfer, die der Abgrund der Erde verschlingen sollte wie die Rotte des Korah, Dathan und Abiram, und um der heiligen Rache noch sicherer zu sein, wurde zu gleicher Zeit in den Gerichtssälen Londons der Zorn der Kings-Bench, des Großkanzlers und selbst des Oberhauses auf die Entweiher des heiligsten Sakramentes herabplaidiert – während man in den fashionablen saloons über den kühnen Mädchenräuber gar tolerant zu scherzen und zu lachen wußte. Am ergötzlichsten zeigte sich mir dieser Kontrast beider Denkweisen, als ich einst in der Großen Oper neben zwei dicken Manchesternen Damen saß, die diesen Versammlungsort der vornehmen Welt zum ersten Male in ihrem Leben besuchten und den Abscheu ihres Herzens nicht stark genug kundgeben konnten, als das Ballett begann und die hochgeschürzten schönen Tänzerinnen ihre üppiggraziösen Bewegungen zeigten, ihre lieben, langen, lasterhaften Beine ausstreckten und plötzlich bacchantisch den entgegenhüpfenden Tänzern in die Arme stürzten; die warme Musik, die Urkleider von fleischfarbigem Trikot, die Naturalsprünge, alles vereinigte sich, den armen Damen Angstschweiß auszupressen, ihre Busen erröteten vor Unwillen, »shocking! for shame, for shame!« ächzten sie beständig, und sie waren so sehr von Schrecken gelähmt, daß sie nicht einmal das Perspektiv vom Auge fortnehmen konnten und bis zum letzten Augenblicke, bis der Vorhang fiel, in dieser Situation sitzen blieben.
Trotz diesen entgegengesetzten Geistes- und Lebensrichtungen findet man doch wieder im englischen Volke eine Einheit der Gesinnung, die eben darin besteht, daß es sich als ein Volk fühlt; die neueren Stutzköpfe und Kavaliere mögen sich immerhin wechselseitig hassen und verachten, dennoch hören sie nicht auf, Engländer zu sein; als solche sind sie einig und zusammengehörig wie Pflanzen, die aus demselben Boden hervorgeblüht und mit diesem Boden wunderbar verwebt sind. Daher die geheime Übereinstimmung des ganzen Lebens und Webens in England, das uns beim ersten Anblick nur ein Schauplatz der Verwirrung und Widersprüche dünken will. Überreichtum und Misere, Orthodoxie und Unglauben, Freiheit und Knechtschaft, Grausamkeit und Milde, Ehrlichkeit und Gaunerei, diese Gegensätze in ihren tollsten Extremen, darüber der graue Nebelhimmel, von allen Seiten summende Maschinen, Zahlen, Gaslichter, Schornsteine, Zeitungen, Porterkrüge, geschlossene Mäuler, alles dieses hängt so zusammen, daß wir uns keins ohne das andere denken können, und was vereinzelt unser Erstaunen oder Lachen erregen würde, erscheint uns als ganz gewöhnlich und ernsthaft in seiner Vereinigung.
Ich glaube aber, so wird es uns überall gehen, sogar in solchen Ländern, wovon wir noch seltsamere Begriffe hegen, und wo wir noch reichere Ausbeute des Lachens und Staunens erwarten. Unsere Reiselust, unsere Begierde, fremde Länder zu sehen, besonders wie wir solche im Knabenalter empfinden, entsteht überhaupt durch jene irrige Erwartung außerordentlicher Kontraste, durch jene geistige Maskeradelust, wo wir Menschen und Denkweise unserer Heimat in jene fremde Länder hineindenken und solchermaßen unsere besten Bekannten in die fremden Kostüme und Sitten vermummen. Denken wir z. B. an die Hottentotten, so sind es die Damen unserer Vaterstadt, die schwarz angestrichen und mit gehöriger Hinterfülle in unserer Vorstellung umhertanzen, während unsere jungen Schöngeister als Buschklepper auf die Palmbäume hinaufklettern; denken wir an die Bewohner der Nordpolländer, so sehen wir dort ebenfalls die wohlbekannten Gesichter, unsere Muhme fährt in ihrem Hundeschlitten über die Eisbahn, der dürre Herr Konrektor liegt auf der Bärenhaut und säuft ruhig seinen Morgentran, die Frau Akzise-Einnehmerin, die Frau Inspektorin und die Frau Infibulationsrätin hocken beisammen und kauen Talglichter usw. Sind wir aber in jene Länder wirklich gekommen, so sehen wir bald, daß dort die Menschen mit Sitten und Kostüm gleichsam verwachsen sind, daß die Gesichter zu den Gedanken und die Kleider zu den Bedürfnissen passen, ja daß Pflanzen, Tiere, Menschen und Land ein zusammenstimmendes Ganze bilden.