Heinrich Heine
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I
Gespräch auf der Themse
Der gelbe Mann stand neben mir auf dem Verdeck, als ich die grünen Ufer der Themse erblickte und in allen Winkeln meiner Seele die Nachtigallen erwachten. »Land der Freiheit«, rief ich, »ich grüße dich! – Sei mir gegrüßt, Freiheit, junge Sonne der verjüngten Welt! Jene ältere Sonnen, die Liebe und der Glaube, sind welk und kalt geworden und können nicht mehr leuchten und wärmen. Verlassen sind die alten Myrtenwälder, die einst so überbevölkert waren, und nur noch blöde Turteltauben nisten in den zärtlichen Büschen. Es sinken die alten Dome, die einst von einem übermütig frommen Geschlechte, das seinen Glauben in den Himmel hineinbauen wollte, so riesenhoch aufgetürmt wurden; sie sind morsch und verfallen, und ihre Götter glauben an sich selbst nicht mehr. Diese Götter sind abgelebt, und unsere Zeit hat nicht Phantasie genug, neue zu schaffen. Alle Kraft der Menschenbrust wird jetzt zu Freiheitsliebe, und die Freiheit ist vielleicht die Religion der neuen Zeit, und es ist wieder eine Religion, die nicht den Reichen gepredigt wurde, sondern den Armen, und sie hat ebenfalls ihre Evangelisten, ihre Märtyrer und ihre Ischariots!«
»Junger Enthusiast«, sprach der gelbe Mann, »Sie werden nicht finden, was Sie suchen. Sie mögen recht haben, daß die Freiheit eine neue Religion ist, die sich über die ganze Erde verbreitet. Aber wie einst jedes Volk, indem es das Christentum annahm, solches nach seinen Bedürfnissen und seinem eigenen Charakter modelte, so wird jedes Volk von der neuen Religion, von der Freiheit, nur dasjenige annehmen, was seinen Lokalbedürfnissen und seinem Nationalcharakter gemäß ist.
Die Engländer sind ein häusliches Volk, sie leben ein begrenztes, umfriedetes Familienleben; im Kreise seiner Angehörigen sucht der Engländer jenes Seelenbehagen, das ihm schon durch seine angeborene gesellschaftliche Unbeholfenheit außer dem Haus versagt ist. Der Engländer ist daher mit jener Freiheit zufrieden, die seine persönlichen Rechte verbürgt und seinen Leib, sein Eigentum, seine Ehe, seinen Glauben und sogar seine Grillen unbedingt schützt. In seinem Hause ist niemand freier als ein Engländer, um mich eines berühmten Ausdrucks zu bedienen, er ist König und Bischof in seinen vier Pfählen, und nicht unrichtig ist sein gewöhnlicher Wahlspruch: ›my house is my castle.‹
Ist nun bei den Engländern das meiste Bedürfnis nach persönlicher Freiheit, so möchte wohl der Franzose im Notfall diese entbehren können, wenn man ihm nur jenen Teil der allgemeinen Freiheit, den wir Gleichheit nennen, vollauf genießen lassen. Die Franzosen sind kein häusliches Volk, sondern ein geselliges, sie lieben kein schweigendes Beisammensein, welches sie ›une conversation anglaise‹ nennen, sie laufen plaudernd vom Kaffeehaus nach dem Kasino, vom Kasino nach den Salons, ihr leichtes Champagnerblut und angeborenes Umgangstalent treibt sie zum Gesellschaftsleben, und dessen erste und letzte Bedingung, ja dessen Seele ist: die Gleichheit. Mit der Ausbildung der Gesellschaftlichkeit in Frankreich mußte daher auch das Bedürfnis der Gleichheit entstehen, und wenn auch der Grund der Revolution im Budget zu suchen ist, so wurde ihr doch zuerst Wort und Stimme verliehen von jenen geistreichen Roturiers, die in den Salons von Paris mit der hohen Noblesse scheinbar auf einem Fuße der Gleichheit lebten und doch dann und wann, sei es auch nur durch ein kaum bemerkbares, aber desto tiefer verletzendes Feudallächeln, an die große, schmachvolle Ungleichheit erinnert wurden; – und wenn die canaille roturière sich die Freiheit nahm, jene hohe Noblesse zu köpfen, so geschah dieses vielleicht weniger, um ihre Güter als um ihre Ahnen zu erben und statt der bürgerlichen Ungleichheit eine adlige Gleichheit einzuführen. Daß dieses Streben nach Gleichheit das Hauptprinzip der Revolution war, dürfen wir um so mehr glauben, da die Franzosen sich bald glücklich und zufrieden fühlten unter der Herrschaft ihres großen Kaisers, der, ihre Unmündigkeit beachtend, all ihre Freiheit unter seiner strengen Kuratel hielt und ihnen nur die Freude einer völligen, ruhmvollen Gleichheit überließ.
Weit geduldiger als der Franzose erträgt daher der Engländer den Anblick einer bevorrechteten Aristokratie; er tröstet sich, daß er selbst Rechte besitzt, die es jener unmöglich machen, ihn in seinen häuslichen Komforts und in seinen Lebensansprüchen zu stören. Auch trägt jene Aristokratie nicht jene Rechte zur Schau wie auf dem Kontinente. In den Straßen und öffentlichen Vergnügungssälen Londons sieht man bunte Bänder nur auf den Hauben der Weiber und goldne und silberne Abzeichen nur auf den Röcken der Lakaien. Auch jene schöne, bunte Livree, die bei uns einen bevorrechteten Wehrstand ankündigt, ist in England nichts weniger als eine Ehrenauszeichnung; wie ein Schauspieler sich nach der Vorstellung die Schminke abwischt, so eilt auch der englische Offizier, sich seines roten Rocks zu entledigen, sobald die Dienststunde vorüber ist, und im schlichten Rock eines Gentleman ist er wieder ein Gentleman. Nur auf dem Theater zu St. James gelten jene Dekorationen und Kostüme, die aus dem Kehricht des Mittelalters aufbewahrt worden; da flattern die Ordensbänder, da blinken die Sterne, da rauschen die seidenen Hosen und Atlasschleppen, da knarren die goldnen Sporen und altfranzösischen Redensarten, da bläht sich der Ritter, da spreizt sich das Fräulein. – Aber was kümmert einen freien Engländer die Hofkomödie zu St. James! wird er doch nie davon belästigt, und verwehrt es ihm ja niemand, wenn er in seinem Hause ebenfalls Komödie spielt und seine Hausoffizianten vor sich knien läßt und mit dem Strumpfband der Köchin tändelt – honny soit qui mal y pense.
Was die Deutschen betrifft, so bedürfen sie weder der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekulatives Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träumer, die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft leben und keine Gegenwart haben. Engländer und Franzosen haben eine Gegenwart, bei ihnen hat jeder Tag seinen Kampf und Gegenkampf und seine Geschichte. Der Deutsche hat nichts, wofür er kämpfen sollte, und da er zu mutmaßen begann, daß es doch Dinge geben könne, deren Besitz wünschenswert wäre, so haben wohlweise seine Philosophen ihn gelehrt, an der Existenz solcher Dinge zu zweifeln. Es läßt sich nicht leugnen, daß auch die Deutschen die Freiheit lieben. Aber anders wie andere Völker. Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib, er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen, und wehe dem rotgeröckten Burschen, der sich in ihr heiliges Schlafgemach drängt – sei es als Galant oder als Scherge. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er glüht für sie, er flammt, er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen, er schlägt sich für sie auf Tod und Leben, er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine alte Großmutter.«
Gar wunderlich sind doch die Menschen! Im Vaterlande brummen wir, jede Dummheit, jede Verkehrtheit dort verdrießt uns, wie Knaben möchten wir täglich davonlaufen in die weite Welt; sind wir endlich wirklich in die weite Welt gekommen, so ist uns diese wieder zu weit, und heimlich sehnen wir uns oft wieder nach den engen Dummheiten und Verkehrtheiten der Heimat, und wir möchten wieder dort in der alten, wohlbekannten Stube sitzen und uns, wenn es anginge, ein Haus hinter den Ofen bauen und warm drin hocken und den »Allgemeinen Anzeiger der Deutschen« lesen. So ging es auch mir auf der Reise nach England. Kaum verlor ich den Anblick der deutschen Küste, so erwachte in mir eine kuriose Nachliebe für jene teutonischen Schlafmützen- und Perückenwälder, die ich eben noch mit Unmut verlassen, und als ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder.
Daher mochte wohl meine Stimme etwas weich klingen, als ich dem gelben Mann antwortete: »Lieber Herr, scheltet mir nicht die Deutschen! Wenn sie auch Träumer sind, so haben doch manche unter ihnen so schöne Träume geträumet, daß ich sie kaum vertauschen möchte gegen die wachende Wirklichkeit unserer Nachbaren. Da wir alle schlafen und träumen, so können wir vielleicht die Freiheit entbehren; denn unsere Tyrannen schlafen ebenfalls und träumen bloß ihre Tyrannei. Nur damals sind wir erwacht, als die katholischen Römer unsere Traumfreiheit geraubt hatten; da handelten wir und siegten und legten uns wieder hin und träumten. O Herr! spottet nicht unserer Träumer, dann und wann, wie Somnambule, sprechen sie Wunderbares im Schlafe, und ihr Wort wird Saat der Freiheit. Keiner kann absehen die Wendung der Dinge. Der spleenige Brite, seines Weibes überdrüssig, legt ihr vielleicht einst einen Strick um den Hals und bringt sie zum Verkauf nach Smithfield. Der flatterhafte Franzose wird seiner geliebten Braut vielleicht treulos und verläßt sie und tänzelt singend nach den Hofdamen (courtisanes) seines königlichen Palastes (palais royal). Der Deutsche wird aber seine alte Großmutter nie ganz vor die Türe stoßen, er wird ihr immer ein Plätzchen am Herde gönnen, wo sie den horchenden Kindern ihre Märchen erzählen kann – Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken.«
Während nun das Dampfboot, und auf demselben unser Gespräch, den Strom hinaufschwamm, war die Sonne untergegangen, und ihre letzten Strahlen beleuchteten das Hospital zu Greenwich, ein imposantes palastgleiches Gebäude, das eigentlich aus zwei Flügeln besteht, deren Zwischenraum leer ist, und einen mit einem artigen Schlößlein gekrönten, waldgrünen Berg den Vorbeifahrenden sehen läßt. Auf dem Wasser nahm jetzt das Gewühl der Schiffe immer zu, und ich wunderte mich, wie geschickt diese großen Fahrzeuge sich einander ausweichen. Da grüßt im Begegnen manch ernsthaft freundliches Gesicht, das man nie gesehen hat und vielleicht auch nie wiedersehen wird. Man fährt sich so nahe vorbei, daß man sich die Hände reichen könnte zum Willkomm und Abschied zu gleicher Zeit. Das Herz schwillt beim Anblick so vieler schwellenden Segel und wird wunderbar aufgeregt, wenn vom Ufer her das verworrene Summen und die ferne Tanzmusik und der dumpfe Matrosenlärm herandröhnt. Aber im weißen Schleier des Abendnebels verschwimmen allmählich die Konturen der Gegenstände, und sichtbar bleibt nur ein Wald von Mastbäumen, die lang und kahl emporragen.
Der gelbe Mann stand noch immer neben mir und schaute sinnend in die Höhe, als suche er im Nebelhimmel die bleichen Sterne. Noch immer in die Höhe schauend, legte er die Hand auf meine Schulter, und in einem Tone, als wenn geheime Gedanken unwillkürlich zu Worten werden, sprach er: »Freiheit und Gleichheit! man findet sie nicht hier unten und nicht einmal dort oben. Dort jene Sterne sind nicht gleich, einer ist größer und leuchtender als der andere, keiner von ihnen wandelt frei, alle gehorchen sie vorgeschriebenen, eisernen Gesetzen – Sklaverei ist im Himmel wie auf Erden.«
»Das ist der Tower!« rief plötzlich einer unserer Reisegefährten, indem er auf ein hohes Gebäude zeigte, das aus dem nebelbedeckten London wie ein gespenstisch dunkler Traum hervorstieg.