Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ich hatte nie im Leben gedacht, daß ich diesen Werther mal so begreifen würde.
Außerdem hätte er Charlie auch gar nicht küssen können oder was. Sie war
ziemlich schnell in der Küche. Trotzdem hätte ich natürlich gehen müssen. Ich blieb
aber. Ich stellte die Leiter weg. Dann ständerte ich in dem Zimmer rum. Ich wollte ein
Gespräch mit Dieter anfangen, bloß mir fiel einfach nichts ein. Plötzlich hatte ich die
Luftbüchse in den Klauen. Dieter sagte keinen Ton dazu. Und als Charlie mit dem
Freßchen für ihn kam, sagte sie sofort: Vorschlag, Männer, ja? Wir gehen dann
zusammen schießen, an den Bahndamm. Beibringen wölkst du's mir schon immer.
Dieter knurrte: Ist doch kein Büchsenlicht mehr um die Zeit.
Er war dagegen. Er wollte arbeiten. Er hielt das für Kinderzeug. Genau wie das mit der
Leiter. Aber Charlie hielt ihre Scheinwerfer voll auf ihn, und da gab er nach.
Schlecht für ihn war bloß, daß er dann am Bahndamm einfach nicht mitspielte. Wir
schössen auf ein altes Parkverbotsschild, das ich ziemlich schnell aufgerissen hatte.
Das heißt: Charlie schoß. Dieter mimte die Zielanzeige, und ich korrigierte Charlies
Technik. Das hatte sich so ergeben, weil Dieter überhaupt nicht daran dachte, sich um
Charlie zu kümmern. Er ließ die Kinder sozusagen spielen. Er dachte wahrscheinlich
bloß an die Zeit, die ihn das alles kostete.Ich konnte ihn an sich verstehen, trotzdem
brachte ich mich wegen Charlie halb um. Ich zeigte ihr, wie man den Kolben in die
Schulter zog und wie man die Füße im rechten Winkel stellte und daß man von oben
ins Ziel ging und dabei ausatmete, und das ganze Zeug aus der vormilitärischen
Ausbildung, das sie einem da beibringen. Vollkorn, Feinkorn, gestrichen Korn und
Druckpunkt und das. Charlie schoß und schoß und ließ sich geduldig von mir
anfassen, bis sie dann doch merkte, was mit Dieter los war, oder vielleicht, bis sie es
schließlich merken wollte. Da hörte sie auf. Übrigens hatte Dieter recht gehabt, es war
eigentlich längst zu dunkel. Bloß mußte Dieter versprechen, am nächsten Sonntag mit
ihr einen Ausflug zu machen, irgendwohin, Hauptsache raus. Von mir war nicht die
Rede, jedenfalls nicht ausdrücklich. Charlie machte das sehr geschickt. Sie sagte: ...
machen wir einen Ausflug.
Da war alles drin. Aber vielleicht bildete ich Idiot mir auch bloß alles ein. Vielleicht
dachte sie wirklich nicht an mich. Vielleicht war alles, was dann kam, nicht passiert,
wenn ich Idiot mir nicht eingebildet hätte, Charlie hätte auch mich eingeladen. Aber
ich bedaure nichts. Nicht die Bohne bedaure ich was.
Nächsten Sonntag saß ich neben Charlie auf der Liege in ihrem Zimmer. Es regnete
wie blöd. Dieter saß an seinem Schreibtisch und arbeitete, und wir warteten, daß er
fertig wurde. Charlie war schon im Regenmantel und allem. Sie war überhaupt nicht
überrascht gewesen oder was, als ich klingelte. Also hatte alles seine Richtigkeit. Oder
vielleicht war sie auch überrascht, aber sie zeigte es nicht. Diesmal schrieb Dieter. Mit
zwei Fingern. Auf der Maschine. Er schrieb aus dem Kopf. Eine Arbeit, dachte ich,
und das stimmte wohl auch. Ich sah sofort: Es rollte nicht bei ihm. Das kannte ich. Er
tippte ungefähr alle halbe Stunde einen Buchstaben. Das sagt wohl alles. Charlie sagte
schließlich: Du kannst es doch nicht zwingen!
Dieter äußerte sich dazu nicht. Ich mußte die ganze Zeit auf seine Beine sehen. Er
hatte sie um die Stuhlbeine gedreht und sich mit den Füßen dahinter festgehakt. Ich
wußte nicht, ob das seine Angewohnheit war. Aber mir war eigentlich die ganze Zeit
klar, daß er nicht mitkommen würde.
Charlie fing wieder an: Komm! Laß doch mal alles stehn und liegen, ja? Das wirkt
manchmal Wunder! Sie war nicht etwa wütend oder so. Noch nicht.Sie war vielleicht
so sanft, wie eine Krankenschwester sein soll.
Dieter meinte: Bei dem Wetter doch nicht mit 'nem Boot.
Ich weiß nicht, ob ich schon sagte, daß Charlie ein Boot ausleihen wollte. Charlie
sagte sofort: Dann nicht Boot, dann Dampfer. An sich hatte Dieter recht. Bei dem
Wetter im Boot war eine echte Schnapsidee. Er fing wieder an mit Tippen. Charlie:
Dann nicht Dampfer. Dann bloß ein paar Runden ums Karree. Das war ihr letztes
Angebot, und es war wirklich eine Chance für Dieter. Er rührte sich aber nicht.
Charlie: Außerdem sind wir ja nicht aus Zucker.
Ich glaube, in dem Moment war es schon mit ihrer Geduld vorbei. Dieter sagte ruhig:
Fahrt doch.
Und Charlie: Du hast es fest versprochen! Dieter: Ich sag doch: Fahrt! Da wurde
Charlie laut: Wir fahren auch! In dem Moment ging ich. Wie das weiterging, konnte
sich jeder ausrechnen. Ich war auch völlig fehl da am Platze. Ich meine: ich ging aus
dem Zimmer. Ich hätte natürlich ganz gehen sollen. Das sehe ich ein. Aber ich kriegte
es einfach nicht fertig. Ich ständerte da in der Küche rum. Ich mußte plötzlich an Old
Werther denken, wie er schreibt:
Zieht ihn nicht jedes elende Geschäft mehr an als die teure, köstliche Frau?...
Sattigkeit ist's und Gleichgültigkeit!
Nun war ja Dieter kein Geschäftsmann und Charlie alles andere als eine teure Frau.
Und Sattigkeit war's bei Dieter auch nicht. Klar, daß er von wegen der Armee ein
hohes Stipendium hatte. Aber unsereins verdiente garantiert dreimal soviel mit dem
bißchen Pinselei. Ich wußte auch nicht, was es war. An sich hatte ich gegen Dieter
nichts einzuwenden. Feststand bloß, daß er seit ewig mit Charlie nicht mehr aus ihrer
Bude gegangen war. Das war das einzige, was feststand. Ungefähr als ich das
analysiert hatte, kam Charlie aus dem Zimmer geschossen. Ich sage nicht umsonst:
geschossen, Leute. Zu mir sagte sie bloß: Komm! Ich war sofort bei ihr. Dann sagte
sie: Warte!
Ich wartete. Sie griff sich vom Kleiderhaken diesen grauen Umhang und drückte ihn
mir an die Brust. Dieter hatte das Ding wohl von der Armee mitgebracht. Es roch
außer nach Gummi nach Benzin, Käse und verbranntem Müll.
Sie fragte mich: Kannst du Motorboot fahren? Ich sagte: Kaum.
Normalerweise hätte ich gesagt: Klar. - Bloß, ich hatte die Rolle des braven Jungen
schon wieder so gut drauf, daß ich glatt die Wahrheit sagte.
Charlie fragte: Was ist?
Sie sah mich an, wie wenn einer nicht richtig verstanden hat. Ich sagte sofort: Klar.
Drei Sekunden später waren wir auf dem Wasser. Ich meine: Es dauerte sicher eine
Stunde oder so. Es ging mir bloß zum zweitenmal mit Charlie so, daß ich einfach nicht
wußte, wie ich wohin gekommen war. Wie im Film ging das. Zack -und man war da.
Ich hatte damals bloß keine Zeit, das zu analysieren. Dieses blöde Boot hatte ziemlich
viel PS. Es schoß wie irr über die Spree, und drüben war die Betonmauer von
irgendeinem Werk. Ich hatte alle Mühe, noch irgendwie die Kurve zu kriegen. Statt
daß ich Idiot einfach Gas weggenommen hätte. Wir wären glatt ersoffen, und von dem
Boot wäre nicht die Bohne was übriggeblieben. Diese Boote gehen ja sofort los, wenn
man sie anläßt. Nichts mit
Kupplung und so. Ich sah Charlie an. Sie sagte keinen Ton. Ich nehme an, der
Bootsmensch von dem wir den Kahn hatten, wurde nicht wieder dabei. Ich sah ihn
bloß auf seinem Steg stehen. Wie Charlie ihm das Boot aus dem Kreuz geleiert hatte,
war sowieso ein Kapitel für sich. Ich weiß nicht, ob einer glaubt, daß ich sehr
schüchtern war und das. Oder daß ich Hemmungen hatte. Aber ich hätte gepaßt, als ich
den Bau sah von dieser Ausleihstation der Jugend. Das triefte alles vor Nässe. Im
Wasser kein einziges Boot. Schließlich konnte von Saison keine Rede mehr sein kurz
vor Weihnachten. Und der Bau war verrammelt wie für den dritten Weltkrieg. Aber
Charlie fand ein Loch im Zaun und klingelte den Bootsmenschen aus dem Bau und
bekniete ihn so lange, bis er uns dieses Boot aus seinem Bootshaus rausgab. Ich hätte
das nicht für möglich gehalten. Der Bootsmensch wahrscheinlich auch nicht. Ich
glaube, an dem Tag hätte Charlie alles erreicht. Sie war einfach nicht zu bremsen. Sie
hätte jeden zu allem rumgekriegt. Auf dem Wasser kroch sie mit unter die Pelerine. Es
regnete immer noch wie verrückt. Ein paar Grad weniger, und wir hätten den
schönsten Schneesturm gehabt. Wahrscheinlich wird sich keiner mehr an den letzten
Dezember erinnern.Es war sicher ekelhaft klamm in dem Kahn, aber ich merkte kein
Stück davon. Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Charlie legte den Arm um meinen
Sitz und den Kopf auf meine Schulter. Ich dachte, ich wurde nicht wieder. Das Boot
hatte ich langsam im Griff. Ich wußte nicht, ob es auf dem Wasser auch
Verkehrsregeln gab. Ich hatte mal so was läuten hören. Aber auf dieser ganzen ewig
langen Spree war an dem Tag nicht ein einziges Boot unterwegs oder Dampfer. Ich
zog den Gasgriff ganz raus. Der Bug stellte sich hoch. Dieses Boot war nicht übel.
Wahrscheinlich war es für den Privatgebrauch von diesem Bootsmensch. Ich fing an,
allerhand Kurven zu ziehen. Hauptsächlich Linkskurven, weil das Charlie so gut gegen
mich drückte. Sie hatte nicht die Bohne was dagegen. Später fing sie selber an zu
lenken. Einmal kamen wir nur knapp an einem Brückenpfeiler vorbei. Charlie sagte
keinen Ton. Sie hatte immer noch ungefähr dasselbe Gesicht von dem Moment, als sie
von Dieter rausgeschossen kam.
Ich hatte bis dahin nicht gewußt, daß man eine Stadt auch von hinten sehen kann.
Berlin von der Spree, das ist Berlin von hinten. Die ganzen ollen Werkhöfe und
Lagerschuppen. Zuerst dachte ich, der Regen würde uns das Boot
vollmachen. Aber da war nichts. Wahrscheinlich fuhren wir drunter weg. Wir waren
längst naß bis auf die Haut, trotz der Pelerine. Gegen diesen Regen half sowieso
nichts. Wir waren so naß, daß uns längst alles egal war. Wir hätten ebensogut baden
können in den Sachen. Ich weiß nicht, ob das einer kennt, Leute. Man ist so naß, daß
einem wirklich alles egal ist. Irgendwann hörten dann die Schuppen auf. Nur noch
Villen und das. Dann mußten wir abbiegen, entweder links oder rechts. Ich zog
natürlich nach links. Ich hatte bloß die Hoffnung, daß wir aus diesem See wieder
rauskamen. Ich meine: auf einem anderen Weg. Ich wollte zeitlebens nie den gleichen
Weg zurück machen, den ich irgendwo hingegangen war. Nicht aus Aberglauben und
so. Das nicht. Ich wollte es nicht. Es langweilte mich wahrscheinlich. Ich glaube, das
war auch so eine meiner fixen Ideen. Wie die mit der Spritze zum Beispiel. Als wir an
einer Insel vorbeirauschten, wurde Charlie unruhig. Sie mußte mal. Ich verstand das.
Wenn es regnet, geht einem das immer so. Ich suchte eine Lücke im Schilf. Zum
Glück gab es davon massenweise. Eigentlich mehr Lücken als Schilf. Es goß immer
noch wie aus Eimern. Wir jumpten an Land. Charlie verkrümelte sich irgendwohin.
Als sie zurück war, hockten wir uns unter die Pelerine in das klitschnasse Gras von
dieser Insel. Kann aber auch sein, es war nur eine Halbinsel. Ich bin da nie wieder
hingekommen. Da fragte mich Charlie: Willst du einen Kuß von mir? Leute, ich wurde
nicht wieder. Ich fing an zu zittern. Charlie hatte noch immer diese Wut auf Dieter, das
sah ich genau. Trotzdem küßte ich sie. Ihr Gesicht roch wie Wäsche, die lange auf der
Bleiche gewesen ist. Ihr Mund war eiskalt, wahrscheinlich alles von diesem Regen.
Ich. ließ sie dann einfach nicht mehr los. Sie riß die Augen auf, aber ich ließ sie nicht
mehr los. Es wäre auch nicht anders gegangen. Sie war wirklich naß bis auf die Haut,
die ganzen Beine und alles. In irgendeinem Buch hab ich mal gelesen, wie ein Neger,
also ein Afrikaner, nach Europa kommt und wie er seine erste weiße Frau kriegt. Er
fängt dabei an zu singen, irgendeinen Song von sich zu Hause. Ich stieg sofort aus. Es
war vielleicht einer meiner größten Fehler, gleich auszusteigen, wenn ich was nicht
kannte. Bei Charlie hätte ich wirklich singen können. Ich weiß nicht, wer das kennt,
Leute. Ich war nicht mehr zu retten.
Wir sind dann zurück nach Berlin auf demselben Weg. Charlie sagte nichts, aber sie
hatte es plötzlich sehr eilig. Ich wußte nicht, warum. Ich dachte, daß ihr einfach
furchtbar kalt war. Ich wollte sie wieder unter die Pelerine haben, aber sie wollte nicht,
ohne eine Erklärung. Sie faßte die Pelerine auch nicht an, als ich sie ihr ganz gab. Sie
sagte auf der ganzen Rückfahrt überhaupt kein Wort. Ich kam mir langsam wie ein
Schwerverbrecher vor. Ich fing wieder an, Kurven zu ziehen. Ich sah sofort, daß sie
dagegen war. Sie hatte es bloß eilig. Dann ging uns der Sprit aus. Wir pätschelten uns
bis zur nächsten Brücke. Ich wollte zur nächsten Tankstelle, Sprit holen, Charlie sollte
warten. Aber sie stieg aus. Ich konnte sie nicht halten. Sie stieg aus, rannte diese
triefende Eisentreppe hoch und war weg. Ich weiß nicht, warum ich ihr nicht
nachrannte. Wenn ich in Filmen oder wo diese Stellen sah, wo eine weg will und er
will sie halten, und sie rennt zur Tür raus, und er stellt sich bloß in die Tür und ruft ihr
nach, stieg ich immer aus. Drei Schritte, und er hätte sie gehabt. Und trotzdem saß ich
da und ließ Charlie laufen. Zwei Tage später war ich über den Jordan, und ich Idiot saß
da und ließ sie laufen und dachte bloß daran, daß ich das Boot jetzt allein
zurückbringen mußte. Ich weiß nicht, ob einer von euch schon mal über Sterben
nachgedacht hat und das. Darüber, daß einer eines Tages einfach nicht mehr da ist,
nicht mehr anwesend, ab, weg, aus und vorbei, und zwar unwiderruflich. Ich hab eine
ganze Zeit oft darüber nachgedacht, dann aber aufgegeben. Ich schaffte es einfach
nicht, mir vorzustellen, wie das sein soll, zum Beispiel im Sarg. Mir fielen nichts als
blöde Sachen ein. Daß ich im Sarg liege, es ist völlig dunkel, und es fängt an, mich
grauenhaft am Rücken zu jucken, und ich muß mich kratzen, weil ich sonst umkomme.
Aber es ist so eng, daß ich die Arme nicht bewegen kann. Das ist schon der halbe Tod,
Leute, wer das kennt. Aber da war ich doch höchstens scheintot! Ich schaffte es
einfach nicht. Kann sein, wer das schafft, der ist schon halb tot, und ich Idiot dachte
wohl, daß ich unsterblich war. Ich kann euch bloß raten, Leute, das nie zu denken. Ich
kann euch bloß raten, nie an ein Scheißboot oder was zu denken und sitzen zu bleiben,
wenn euch eine wegläuft, an der euch was liegt. Jedenfalls, dieser Bootsmensch hatte
so gut wie die Wasserpolizei alarmiert, als ich endlich mit dem Boot kam. Aber er war
stumm vor Glück, daß er seinen Kahn wiederhatte. Ich dachte: Der Mann vergißt
diesen Tag auch nicht. Erst dachte ich, er würde einen Riesenaufriß machen. Ich nahm
schon die Fäuste hoch. Ich war gerade in
der richtigen Stimmung. Diesen Tankwart zum Beispiel an der Sonntagstankstelle
hatte ich dermaßen vollgenölt, daß er nicht wieder wurde. Er wollte mir keinen
Kanister pumpen. Er war von dem Typ: Und-wer-bezahlt-mir-den-Kanister-wenn-erweg-ist?
Mit solchen Leuten kann man nicht leben.
Zu Hause hängte ich meine nassen Sachen an den Nagel. Ich wußte nicht, was ich
machen sollte. Ich wußte einfach nicht, was ich machen sollte. Ich war am Boden wie
noch nie. Ich ließ die M.S.-Jungs laufen. Ich tanzte, bis ich kochte, vielleicht zwei
Stunden, aber dann wußte ich immer noch nicht, was ich machen sollte. Ich versuchte
es mit Schlafen. Ich wälzte mich ewig und drei Stunden auf dem ollen Sofa. Als ich
wach wurde, war draußen der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Ein Panzerangriff oder
was. Ich jumpte von dem ollen Sofa und an die Tür, da tobte so ein Vieh mit
Raupenketten und Stahlschild genau auf mich zu. Ein Bulldozer. Hundertfünfzig PS.
Ich brüllte schätzungsweise wie ein Idiot. Einen halben Meter vor mir kam er zum
Stehen, mit abgewürgtem Motor. Der Kerl da, der Fahrer, kam von seinem Bock.
Ohne eine Warnung setzte er mir eine rechte Gerade an, daß ich zwe i Meter in meine
Laube flog. Ich machte sofort eine Rolle rückwärts. Damit kommt man am schnellsten
wieder auf die Beine. Ich zog den Kopf ein zum Gegenangriff. Ich hätte ihm einen
linken Haken angesetzt, daß er nicht wieder geworden wäre. Ich glaube, ich sagte noch
nicht, daß ich ein echter Linkshänder war. Das war ungefähr das einzige, was Mutter
Wiebau mir nicht abgewöhnen konnte. Sie machte alles mögliche, um es zu scharfen,
und ich Idiot machte auch noch mit. Bis ich anfing zu stottern und ins Bett zu machen.
An dem Punkt sagten die Ärzte stopp. Ich durfte wieder mit der Linken schreiben,
hörte auf zu stottern und wurde wieder trocken. Der ganze Erfolg war, daß ich später
mit der Rechten ganz gut zurechtkam, viel besser zum Beispiel als andere mit der
Linken. Aber die Linke lag doch immer vorn. Bloß, dieser Panzerfahrer dachte gar
nicht daran, die Fäuste hochzunehmen. Er war plötzlich selber käseweis, setzte sich
auf die Erde. Dann sagte er: 'ne Sekunde später, und du warst ein Brei und ich im Zet.
Und ich hab drei Kinder. - Bist du wahnsinnig, hier noch zu wohnen? Der machte
Baufreiheit mit seinem Schrapper für die nächsten Neubauten. Ich sah wahrscheinlich
ziemlich alt aus. Ich nuschelte: Ein paar Tage noch, und ich bin hier weg.
Soviel war mir in der Nacht klargeworden, daß ich in Berlin nichts mehr zu bestellen
hatte. Ohne Charlie hatte ich da nichts mehr zu bestellen. Darauf lief es doch hinaus.
Zwar hatte sie mit der Küsserei angefangen. Aber langsam begriff ich, daß ich
trotzdem zu weit gegangen war. Ich als Mann hätte die Übersicht behalten müssen. Er
sagte noch: Drei Tage noch. Bis nach Weihnachten. Dann ist Schluß, klar?! Dann
schwang er sich wieder auf seinen Panzer. Ich war zwar entschlossen, so schnell wie
möglich die Spritze fertigzumachen, aber drei Tage, das war knapp. Und blaumachen
wollte ich nicht. Ich wollte nicht noch im letzten Moment ein Risiko eingehen durch
Blaumachen, Zaremba wäre doch glatt nach vierundzwanzig Stunden aufgetaucht und
hätte nach dem Rechten geschnüffelt. Oder Addi. Ich war immerhin sein größter
Erziehungserfolg. Ich wollte die Spritze fertigmachen, sie Addi auf den Tisch knallen
und dann abdampfen nach Mittenberg und von mir aus die Lehre zu Ende machen. So
weit war ich. Ich weiß nicht, ob das einer versteht, Leute. Wahrscheinlich war mir
einfach bloß mulmig wegen Weihnachten. Ich stand zwar nie besonders auf diesen
Weihnachtsklimbim und das. »O du fröhliche« und Bäumchen und Kuchen. Aber
mulmig war mir doch irgendwie. Wahrscheinlich ging ich auch deswegen gleich zur
Post, um zu sehen, ob im Schließfach was von Willi war. Sonst ging ich immer erst
nach Feierabend. Mir wurde sofort komisch, als im Schließfach ein Eilbrief von Willi
war. Ich riß ihn auf. Ich wurde nicht wieder. Der wichtigste Satz war ... mach mit mir,
was du willst. Ich hab es nicht ausgehalten. Ich hab deiner Mutter gesagt, wo du bist.
Daß du dich nicht wunderst, wenn sie auftaucht. Der Brief war zwei Tage gegangen.
Ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich machte sofort kehrt. Wenn sie den Frühzug in
Mittenberg nahm, hätte sie schon dasein müssen, Wegezeit eingerechnet. Folglich
hatte ich noch eine Chance bis zum Abendzug. Ich kaufte einen Armvoll Milchtüten,
weil Milch am einfachsten satt macht, und schloß mich in der Laube ein. Ich verhängte
alle Fenster. Vorher machte ich draußen noch einen Zettel an: Bin gleich wieder da!
Im Fall aller Fälle. Das konnte auch für den nächsten blöden Bulldozer gut sein, dachte
ich. Dann stürzte ich mich auf meine Spritze. Ich fing an zu schuften wie irr, ich Idiot.
»Am Montag, einen Tag vor Weihnachten, kam er nicht zur Arbeit. Wir waren nicht
besonders sauer deswegen. Es war unwahrscheinlich mild, und wir konnten den Tag
gut nutzen, aber wir hatten den Jahresplan längst in der Tasche. Außerdem fehlte
Edgar das erste Mal, seit wir ihn wiedergeholt hatten.«
Das war mein Glück, oder wie man das nennen soll. So ziemlich die einzige von
meinen Rechnungen, die aufging. Ich begreife zum Beispiel nicht mehr, warum ich
mit meiner Spritze so sicher war. Aber ich war tatsächlich so sicher wie nie. Der
Gedanke mit der Hydraulik war so logisch wie nur was. Dieser Farbnebel beim
Spritzen kam durch die Druckluft. Fiel die weg und man brachte den nötigen Druck
ohne Luft, war das Ding gelaufen. Blöd war bloß, daß ich auf die Art keine Zeit mehr
hatte, mir die nötige Düse anzufertigen. Ich mußte bis Feierabend warten, am besten
bis es dunkel wurde, und dann die von Addi klauen. Addis Spritze lag abgeschrieben
unter unserem Salonwagen. Mein nächstes Problem war, die nötigen PS ranzuschaffen
für die beiden Druckzylinder. Zum Glück hatte ich tatsächlich einen E-Motor von gut
zwei PS auftreiben können. Den mußte ich sogar noch drosseln. Ich weiß nicht, ob
sich einer vorstellen kann, was zwei PS anrichten können, wenn sie losgelassen sind.
Vielleicht denkt auch einer, das Ganze war eine Spielerei oder was.
Hobbybeschäftigung. Das ist Quatsch. Was Zaremba gesagt hatte, war richtig. Das
Ding wäre eine echte Sensation gewesen, technisch und ökonomisch. Ungefähr in der
Art wie der Vorderradantrieb bei Autos seinerzeit, wenn einer weiß, was das ist. An
sich sogar noch eine Stufe höher. Es konnte einen berühmt machen, jedenfalls in der
Fachwelt. Ich wollte es Addi auf den Tisch knallen und sagen: Drück mal auf dieses
Knöpfchen hier.
Schätzungsweise wäre er nicht wieder geworden. Dann hätte ich die Sache mit Charlie
in Ordnung gebracht und wäre dann abgedampft. Ich meine, ich hätte sie ihm natürlich
nicht wirklich auf den Tisch geknallt. Dazu war sie langsam zu groß. Sie sah langsam
aus wie eine olle Jauchepumpe mit Windantrieb. Ich hatte zwar alles, was ich
brauchte, bloß nichts paßte richtig zusammen. Ich mußte einfach anfangen zu
pfuschen. Sonst wäre ich nie im Leben fertig geworden. Am meisten fehlte mir eine
elektrische Bohrmaschine. Außerdem hatte der Motor natürlich dreihun-dertachtzig
Volt. Ich nahm an, er war aus einer alten Drehmaschine. Das heißt, ich mußte die
zweihundertzwanzig in der Laube erst hochtransformieren. Ich hoffte bloß, daß der
Trafo in Ordnung war, den ich hatte. Irgendein Meßgerät hatte ich nicht. Das war
wahrscheinlich ein weiterer Nagel zu meinem Sarg. Und Zeit, eins irgendwo
aufzureißen, hatte ich schon gar nicht. Außerdem liegen Meßgeräte nicht so rum wie
ein oder zwei alte LKW-Stoßdämpfer. Die hatten übrigens auch nicht gerade
rumgelegen, und alt waren sie vielleicht auch nicht, aber man konnte doch
rankommen, wenn man wollte. Ohne die Stoßdämpfer wäre ich einfach
aufgeschmissen gewesen. Die Mäntel hätten zwar dicker sein müssen, für den Druck.
Notfalls wollte ich deswegen die Düse aufbohren. Das hätte zwar den Strahl dicker
gemacht, aber ich wollte sowieso mit Ölfarbe anfangen. Gegen zwölf war ich so weit,
daß ich die Düse brauchte zum Einpassen. Ich robbte los in Richtung Baustelle. Ich
war nicht der Meinung, daß ich schon fertig war und daß der erste Versuch gleich
klappen würde. Aber auf die Art hatte ich noch die Nacht lang Zeit zum Verbessern.
Ich war wieder ruhiger. Mutter Wiebau konnte höchstens am nächsten Vormittag
auftauchen. Sie hatte mir noch eine Chance gegeben. Auf dem Bau war alles dunkel.
Ich tauchte unter unseren Salonwagen und fingan, die Überwurfmutter zu lösen.
Blöderweise hatte ich kein anderes Universalwerkzeug als die halbvergammelte
Rohrzange. Außerdem saß die Übermutter fest wie Mist. Ich riß mir fast den halben
Arsch auf, bis ich sie locker hatte. In dem Moment hörte ich, daß Zaremba im Wagen
war, und zwar mit einer Frau. Ich sagte es schon. Wahrscheinlich hatte ich sie
aufgestört. Jedenfalls, als ich unter dem Wagen vorkroch, stand er vor mir. Er knurrte :
No ? Er stand direkt vor mir und starrte mich an. Allerdings stand er da im Licht, das
aus dem Wagen kam. Er hatte dieses kleine Beil von uns in der Hand. Ich nahm
damals an, er war einfach geblendet. Aber er hatte dieses Grinsen in seinen
Schweinsritzen. Auf die Entfernung hat er mich einfach sehen müssen. Ich machte
zwar keine Bewegung. Ich kann nur jedem raten, in dieser Situation einfach keine
Bewegung zu machen. Meiner Meinung nach war Zaremba der letzte Mensch, der
mich gesehen hat und der auch genau wußte, was gespielt wurde. Auf dem ganzen
Rückweg sah ich keinen Schwanz. Um die Zeit hätte man auch nach Mittenberg gehen
können. Überhaupt sah Berlin nach acht genau wie Mittenberg aus. Alles hockte vor
der Röhre. Und die paar Halbstarken verkrümelten sich in den Parks oder Kinos oder
sie waren Sportler und zum Training. Kein Schwanz auf der Straße.
Gegen zwei hatte ich die Düse im Stutzen. Ich füllte die Hälfte der Ölfarbe in die
Patrone. Dann überprüfte ich noch mal die Schaltung. Ich sah mir überhaupt das ganze
Ding noch mal an. Ich sagte wohl schon, wie es aussah. Es war normalerweise
technisch nicht vertretbar. Aber mir kam es auf das Prinzip an. Das war
schätzungsweise mein letzter Gedanke, bevor ich auf den Knopf drückte. Ich Idiot
hatte doch tatsächlich den Klingelknopf von der Laube abgebaut. Ich hätte jeden
normalen Schalter nehmen können. Aber ich hatte den Klingelknopf abgebaut, bloß
damit ich zu Addi sagen konnte: Drück mal auf den Knopf hier.
Ich war vielleicht ein Idiot, Leute. Das letzte, was ich merkte, war, daß es hell wurde
und daß ich mit der Hand nicht mehr von dem Knopf loskam. Mehr merkte ich nicht.
Es kann nur so gewesen sein, daß die ganze Hydraulik sich nicht bewegte. Auf die Art
mußte die Spannung natürlich ungeheuer hochgehen, und wenn einer dann die Hand
daran hat, kommt er nicht wieder los. Das war's. Macht's gut, Leute!»Als Edgar auch
am Dienstag nicht kam, gingen wir gegen Mittag los. Auf dem Grundstück war die
VP. Als wir sagten, wer wir sind, sagten sie uns, was los war. Auch, daß es keinen
Zweck hatte, ins Krankenhaus zu gehen. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Sie
ließen uns dann in die Laube. Das erste, was mir auffiel, war, daß die Wände voller
Ölfarbe waren, vor allem in der Küche. Sie war noch feucht. Es war dieselbe, mit der
wir die Küchenpaneele machten. Es roch nach der Farbe und nach verschmortem
Isolationsmaterial. Der Küchentisch lag um. Sämtliches Glas lag in Scherben. Unten
lagen ein verschmorter Elektromotor, verbogene Rohrenden, Stücke von
Gartenschlauch. Wir sagten denen von der VP, was wir wußten, aber eine Erklärung
hatten wir auch nicht. Zaremba sagte noch, aus welchem Betrieb Edgar gekommen
war. Dann war Schluß. Wir machten an dem Tag keinen Handschlag mehr. Ich
schickte alle nach Hause. Bloß Zaremba ging nicht. Er fing an, unter unserem
Bauwagen unsere alte Spritze vorzuziehen. Er untersuchte sie, und dann zeigte er mir,
daß die Düse fehlte. Wir gingen sofort zurück auf Edgars Grundstück. Die Düse
fanden wir in der Küche in einem Stück alten Gasrohr. Ich suchte zusammen, was
sonst noch rumlag, auch das Kleinste. Auch, was auf dem Tisch festgeschraubt war.
Zu Hause reinigte ich es von der Ölfarbe. Über Weihnachten versuchte ich, die ganze
Anordnung zu rekonstruieren. Ein besseres Puzzlespiel. Ich schaffte es nicht.
Wahrscheinlich fehlte doch noch die Hälfte der Sachen, vor allem ein Druckbehälter
oder etwas in der Art. Ich wollte noch mal in die Laube, aber da war sie schon
eingeebnet.«
Schätzungsweise war es am besten so. Ich hätte diesen Reinfall sowieso nicht überlebt.
Ich war jedenfalls fast so weit, daß ich Old Werther verstand, wenn er nicht mehr
weiterkonnte. Ich meine, ich hätte nie im Leben freiwillig den Löffel abgegeben. Mich
an den nächsten Haken gehängt oder was. Das nie. Aber ich war doch nie wirklich
nach Mittenberg zurückgegangen. Ich weiß nicht, ob das einer versteht. Das war
vielleicht mein größter Fehler: Ich war zeitlebens schlecht im Nehmen. Ich konnte
einfach nichts einstecken. Ich Idiot wollte immer der Sieger sein.»Trotzdem. Edgars
Apparatur läßt mich nicht los. Ich werde das Gefühl nicht los, Edgar war da einer ganz
sensationellen Sache auf der Spur, einer Sache, die einem nicht jeden Tag einfällt.
Jedenfalls keine fixe Idee. Einwandfrei.« »Und die Bilder?! Glauben Sie, daß davon
noch irgendwo eins zu finden ist?« »Die Bilder? - Daran hat keiner mehr gedacht. Die
waren voller Farbe. Die werden wahrscheinlich mit eingeebnet sein.« »Können Sie
welche beschreiben?« »Ich versteh nichts davon. Ich bin nur einfacher Anstreicher.
Zaremba meinte, sie wären nicht von schlechten Eltern. Kein Wunder, bei dem Vater.«
»Ich bin nicht Maler. Ich war nie Maler. Ich bin Statiker. Ich hab Edgar seit seinem
fünften Lebensjahr nicht gesehen. Ich weiß nichts über ihn, auch jetzt nicht. Charlie,
eine Laube, die nicht mehr steht, Bilder, die es nicht mehr gibt, und diese Maschine.«
»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Aber wir durften ihn wohl nicht allein murksen
lassen. Ich weiß nicht, welcher Fehler ihm unterlaufen ist. Nach dem, was die Ärzte
sagten, war es eine Stromsache.«
Die neuen Leiden Final Chapter was written by Ulrich Plenzdorf.