Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ich meine,
ich hab ihm nicht etwa gesagt, bleib hier oder so. Auf die Art kam man an Ed nicht
ran. Wir hatten in Berlin eine Laube. Wir kamen aus Berlin, als Vater hierher versetzt
wurde. Die Laube wurden wir nicht los, da sollten angeblich sofort Neubauten hin. Ich
hatte für alle Fälle den Schlüssel. Diese Bude war noch ganz gut in Schuß. Wir
nahmen sie also in Augenschein, und ich redete die ganze Zeit dagegen. Daß das Dach
hin ist. Daß einer die ollen Decken vom Sofa geklaut hätte. Unsere alten Möbel waren
da drin, wie das so ist. Und daß die Laube eben auf Abriß steht, wegen dieser
Neubauten. Ed biß sich denn auch immer mehr fest. Er packte seine Sachen aus. Was
heißt Sachen? Mehr als die Bilder hatte er eigentlich nicht, nur, was er auf dem Leib
hatte. Seine Rupfenjacke, die hatte er sich selber genäht, mit Kupferdraht, und seine
alten Jeans.«
Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans sind die
edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die ganzen synthetischen
Lappen aus der Jumo, die ewig tiffig aussehen. Für Jeans konnte ich überhaupt auf
alles verzichten, außer der schönsten Sache vielleicht. Und außer Musik. Ich meine
jetzt nicht irgendeinen Händelsohn Bacholdy, sondern echte Musik, Leute. Ich hatte
nichts gegen Bacholdy oder einen, aber sie rissen mich nicht gerade vom Hocker. Ich
meine natürlich echte Jeans. Es gibt ja auch einen Haufen Plunder, der bloß so tut wie
echte Jeans. Dafür lieber gar keine Hosen. Echte Jeans dürfen zum Beispiel keinen
Reißverschluß haben vorn. Es gibt ja überhaupt nur eine Sorte echte Jeans.
Wer echter Jeansträger ist, weiß, welche ich meine. Was nicht heißt, daß jeder, der
echte Jeans trägt, auch echter Jeansträger ist. Die meisten wissen gar nicht, was sie da
auf dem Leib haben. Es tötete mich immer fast gar nicht, wenn ich so einen
fünfundzwanzigjährigen Knacker mit Jeans sah, die er sich über seine verfetteten
Hüften gezwängt hatte und in der Taille zugeschnürt. Dabei sind Jeans Hüfthosen, das
heißt Hosen, die einem von der Hüfte rutschen, wenn sie nicht eng genug sind und
einfach durch Reibungswiderstand obenbleiben. Dazu darf man natürlich keine fetten
Hüften haben und einen fetten Arsch schon gar nicht, weil sie sonst nicht zugehen im
Bund. Das kapiert einer mit fünfundzwanzig schon nicht mehr. Das ist, wie wenn einer
dem Abzeichen nach Kommunist ist und zu Hause seine Frau prügelt. Ich meine, Jeans
sind eine Einstellung und keine Hosen. Ich hab überhaupt manchmal gedacht, man
dürfte nicht älter werden als siebzehn - achtzehn. Danach fängt es mit dem Beruf an
oder mit irgendeinem Studium oder mit der Armee, und dann ist mit keinem mehr zu
reden. Ich hab jedenfalls keinen gekannt. Vielleicht versteht mich keiner. Dann zieht
man eben Jeans an, die einem nicht mehr zustehen. Edel ist wieder, wenn einer auf
Rente ist und trägt dann Jeans, mit Bauch und Hosenträgern. Das ist wieder edel. Ich
hab aber keinen gekannt, außer Zaremba. Zaremba war edel. Der hätte welche tragen
können, wenn er gewollt hätte, und es hätte keinen angestunken.
»Ed wollte sogar, daß ich dableiben sollte. >Wir kommen durch!< sagte er. Aber das
war nicht geplant, und ich konnte es auch nicht. Ed konnte das, ich nicht. Ich wollte
schon, aber ich konnte nicht. Ed sagte dann noch: Zu Hause sag: Ich lebe, und damit
gut. Das war das letzte, was ich von ihm hörte. Ich bin dann zurückgefahren.«
Du bist in Ordnung, Willi. Du kannst so bleiben. Du bist ein Steher. Ich bin zufrieden
mit dir. Wenn ich ein Testament gemacht hätte, hätte ich dich zu meinem Alleinerben
gemacht. Vielleicht hab ich dich immer unterschätzt. Wie du mir die Laube eingeredet
hast, war sauber. Aber ich hab es auch nicht ehrlich gemeint, daß du dableiben solltest.
Ich meine, ehrlich schon. Wir wären gut gefahren zusammen. Aber wirklich ehrlich
nicht. Wenn einer sein Leben lang nie echt allein gewesen ist und er hat plötzlich die
Chance, dann ist
er vielleicht nicht ganz ehrlich. Ich hoffe, du hast es nicht gemerkt. Wenn doch, vergiß
es. Als du weg warst, kam ich jedenfalls noch in eine ganz verrückte Stimmung. Erst
wollte ich einfach pennen gehen, ganz automatisch. Meine Zeit war ran. Dann fing ich
erst an zu begreifen, daß ich ab jetzt machen konnte, wozu ich Lust hatte. Daß mir
keiner mehr reinreden konnte. Daß ich mir nicht mal mehr die Hände zu waschen
brauchte vorm Essen, wenn ich nicht wollte. Essen hätte ich eigentlich müssen, aber
ich hatte nicht 50 viel Hunger. Ich verstreute also zunächst mal meine sämtlichen
Plünnen und Rapeiken möglichst systemlos im Raum. Die Socken auf den Tisch. Das
war der Clou. Dann griff ich zum Mikro, warf den Recorder an und fing mit einer
meiner Privatsendungen an: Damen und Herren! Kumpels und Kumpelinen! Gerechte
und Ungerechte! Entspannt euch! Scheucht eure kleinen Geschwister ins Kino! Sperrt
eure Eltern in die Speisekammer! Hier ist wieder euer Eddie, der Unverwüstliche...
Ich fing meinen Bluejeans-Song an, den ich vor drei Jahren gemacht hatte und der
jedes Jahr besser wurde.Oh, Bluejeans White Jeans?-No Black Jeans? - No Blue Jeans,
oh Oh, Bluejeans, jeah
Oh, Bluejeans Old Jeans?-No New Jeans?-No Blue Jeans, oh Oh, Bluejeans, jeah
Vielleicht kann sich das einer vorstellen. Das alles in diesem ganz satten Sound, in
seinem Stil eben. Manche halten ihn für tot. Das ist völlige Humbug. Satchmo ist
überhaupt nicht totzukriegen, weil der Jazz nicht totzukriegen ist. Ich glaube, ich hatte
diesen Song vorher nie so gut draufgehabt. Anschließend fühlte ich mich wie
Robinson Crusoe und Satchmo auf einmal. Robinson Satchmo. Ich Idiot pinnte meine
gesammelten Werke an die Wand. Immerhin wußte so jeder gleich Bescheid: Hier
wohnt das verkannte Genie Edgar Wibeau. Ich war vielleicht ein Idiot, Leute! Aber ich
war echt high. Ich wußte nicht, was ich zuerst machen sollte. An sich wollte ich gleich
in die Stadt fahren und mir Berlin beschnarchen, das ganze Nachtleben und das und
ins Hugenottenmuseum gehen. Ich sagte wohl schon, daß ich väterlicherseits
Hugenotte war. Ich nahm stark an, daß ich in Berlin Hinweise auf die Familie Wibeau
finden würde. Ich glaube, ich Idiot hatte die Hoffnung, das wären vielleicht Adlige
gewesen. Edgar de Wibeau und so. Aber ich sagte mir, daß um die Zeit wohl kein
Museum mehr offenhaben würde. Ich wußte auch nicht, wo es war.
Ich analysierte mich kurz und stellte fest, daß ich eigentlich lesen wollte, und zwar
wenigstens bis gegen Morgen. Dann wollte ich bis Mittag pennen und dann sehen, wie
der Hase läuft in Berlin. Überhaupt wollte ich es so machen: bis Mittag schlafen und
dann bis Mitternacht leben. Ich wurde sowieso im Leben nie vor Mittag wirklich
munter. Mein Problem war bloß: Ich hatte keinen Stoff. - Ich hoffe, es denkt jetzt
keiner, ich meine Hasch und das Opium. Ich hatte nichts gegen Hasch. Ich kannte
zwar keinen. Aber ich glaube, ich Idiot wäre so idiotisch gewesen, welchen zu
nehmen, wenn ich irgendwo hätte welchen aufreißen können. Aus purer Neugierde.
Old Willi und ich hatten seinerzeit ein halbes Jahr Bananenschalen gesammelt und sie
getrocknet. Das soll etwa so gut wie Hasch sein. Ich hab nicht die Bohne was gemerkt,
außer daß mir die Spucke den ganzen Hals zuklebte. Wir legten uns auf den Teppich,
ließen den Recorder laufen und rauchten diese Schalen. Als nichts passierte, fing ich
an die Augen zu verdrehen und verzückt zu lächeln und ungeheuer rumzuspinnen, als
wenn ich sonstwie high wäre. Als Old Willi das sah, fing er auch an, aber ich bin
überzeugt, bei ihm spielte sich genausowenig ab wie bei mir. Ich bin übrigens nie
wieder auf den Bananenstoff und solchen Mist zurückgekommen, überhaupt auf
keinen Stoff. Was ich also meine, ist: ich hatte keinen Lesestoff. Oder denkt einer, ich
hätte vielleicht Bücher mitgeschleppt? Nicht mal meine Lieblingsbücher. Ich dachte,
ich wollte nicht Sachen von früher mit rumschleppen. Außerdem kannte ich die zwei
Bücher so gut wie auswendig. Meine Meinung zu Büchern war: Alle Bücher kann kein
Mensch lesen, nicht mal alle sehr guten. Folglich konzentrierte ich mich auf zwei.
Sowieso sind meiner Meinung nach in jedem Buch fast alle Bücher. Ich weiß nicht, ob
mich einer versteht. Ich meine, um ein Buch zu schreiben, muß einer ein paar tausend
Stück andere gelesen haben. Ich kann's mir jedenfalls nicht anders vorstellen. Sagen
wir: dreitausend. Und jedes davon hat einer verfaßt, der selber dreitausend gelesen hat.
Kein Mensch weiß, wieviel Bücher es gibt. Aber bei dieser einfachen Rechnung
kommen schon ...zig Milliarden und das mal zwei raus. Ich fand, das reicht. Meine
zwei Lieblingsbücher waren: Robinson Crusoe. Jetzt wird vielleicht einer grinsen. Ich
hätte das nie im Leben zugegeben. Das andere war von diesem Salinger. Ich hatte es
durch puren Zufall in die Klauen gekriegt. Kein Mensch kannte das. Ich meine: kein
Mensch hatte es mir empfohlen oder so. Bloß gut. Ich hätte es dann nie angefaßt.
Meine Erfahrungen mit empfohlenen Büchern waren hervorragend mies. Ich Idiot war
so verrückt, daß ich ein empfohlenes Buch blöd fand, selbst wenn es gut war.
Trotzdem werd ich jetzt noch blaß, wenn ich denke, ich hätte dieses Buch vielleicht
nie in die Finger gekriegt. Dieser Salinger ist ein edler Kerl. Wie er da in diesem
nassen New York rumkraucht und nicht nach Hause kann, weil er von dieser Schule
abgehauen ist, wo sie ihn sowieso exen wollten, das ging mir immer ungeheuer an die
Nieren. Wenn ich seine Adresse gewußt hätte, hätte ich ihm geschrieben, er soll zu uns
rüberkommen. Er muß genau in meinem Alter gewesen sein. Mittenberg war natürlich
ein Nest gegen New York, aber erholt hätte er sich hervorragend bei uns. Vor allem
hätten wir seine blöden sexuellen Probleme beseitigt. Das ist vielleicht das einzige,
was ich an Salinger nie verstanden habe. Das sagt sich vielleicht leicht für einen, der
nie sexuelle Probleme hatte. Ich kann nur jedem sagen, der diese Schwierigkeiten hat,
er soll sich eine Freundin anschaffen. Das ist der einzige Weg. Ich meine jetzt nicht,
irgendeine. Das nie. Aber wenn man zum Beispiel merkt, eine lacht über dieselben
Sachen wie man selbst. Das ist schon immer ein sicheres Zeichen, Leute. Ich hätte
Salinger sofort wenigstens zwei in Mittenberg sagen können, die über dieselben
Sachen gelacht hätten wie er. Und wenn nicht, dann hätten wir sie dazu gebracht.
Wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich hinhauen können und das ganze Buch trocken
lesen können oder auch den Crusoe. Ich meine: ich konnte sie im Kopf lesen. Das war
meine Methode zu Hause, wenn ich einer gewissen Frau Wibeau mal wieder keinen
Ärger machen wollte. Aber darauf war ich schließlich nicht mehr angewiesen. Ich fing
an, Willis Laube nach was Lesbarem durchzukramen. Du Scheiße! Seine Alten
mußten plötzlich zu Wohlstand gekommen sein. Das gesamte alte Möblement einer
Vierzimmerwohnung hatten sie hier gestapelt, mit allem Drum
und Dran. Aber kein lumpiges Buch, nicht mal ein Stück Zeitung. Überhaupt kein
Papier. Auch nicht in dem Loch von Küche. Eine komplette Einrichtung, aber kein
Buch. Willis alte Leute mußten ungeheuer an ihren Büchern gehangen haben. In dem
Moment fühlte ich mich unwohl. Der Garten war dunkel wie ein Loch. Ich rannte mir
fast überhaupt nicht meine olle Birne an der Pumpe und an den Bäumen da ein, bis ich
das Plumpsklo fand. An sich wollte ich mich bloß verflüssigen, aber wie immer
breitete sich das Gerücht davon in meinen gesamten Därmen aus. Das war ein echtes
Leiden von mir. Zeitlebens konnte ich die beiden Geschichten nicht auseinanderhalten.
Wenn ich mich verflüssigen mußte, mußte ich auch immer ein Ei legen, da half nichts.
Und kein Papier, Leute. Ich fummelte wie ein Irrer in dem ganzen Klo rum. Und dabei
kriegte ich dann dieses berühmte Buch oder Heft in die Klauen. Um irgendwas zu
erkennen, war es zu dunkel. Ich opferte also zunächst die Deckel, dann die Titelseite
und dann die letzten Seiten, wo erfahrungsgemäß das Nachwort steht, das sowieso
kein Aas liest. Bei Licht stellte ich fest, daß ich tatsächlich völlig exakt gearbeitet
hatte. Vorher legte ich aber noch eine Gedenkminute ein. Immerhin war ich soeben
den letzten Rest von Mittenberg losgeworden. Nach zwei Seiten schoß ich den Vogel
in die Ecke. Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen. Beim besten Willen nicht.
Fünf Minuten später hatte ich den Vogel wieder in der Hand. Entweder ich wollte bis
früh lesen oder nicht. Das war meine Art. Drei Stunden später hatte ich es hinter mir.
Ich war fast gar nicht sauer! Der Kerl in dem Buch, dieser Werther, wie er hieß, macht
am Schluß Selbstmord. Gibt einfach den Löffel ab. Schießt sich ein Loch in seine olle
Birne, weil er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich ungeheuer
leid dabei. Wenn er nicht völlig verblödet war, mußte er doch sehen, daß sie nur darauf
wartete, daß er was machte, diese Charlotte. Ich meine, wenn ich mit einer Frau allein
im Zimmer bin und wenn ich weiß, vor einer halben Stunde oder so kommt keiner da
rein, Leute, dann versuch ich doch alles. Kann sein, ich handle mir ein paar Schellen
ein, na und? Immer noch besser als eine verpaßte Gelegenheit. Außerdem gibt es
höchstens in zwei von zehn Fällen Schellen. Das ist Tatsache. Und dieser Werther war
... zigmal mit ihr allein. Schon in diesem Park. Und was macht er? Er sieht ruhig zu,
wie sie heiratet. Und dann murkst er sich ab. Dem war nicht zu helfen.
Wirklich leid tat mir bloß die Frau. Jetzt saß sie mit ihrem Mann da, diesem
Kissenpuper. Wenigstens daran hätte Werther denken müssen. Und dann: Nehmen wir
mal an, an die Frau wäre wirklich kein Rankommen gewesen. Das war noch lange kein
Grund, sich zu durchlöchern. Er hatte doch ein Pferd! Da war ich doch wie nichts in
die Wälder. Davon gab's doch damals noch genug. Und Kumpels hätte er eins zu
tausend massenweise gefunden. Zum Beispiel Thomas Müntzer oder wen. Das war
nichts Reelles. Reiner Mist. Außerdem dieser Stil. Das wimmelte nur so von Herz und
Seele und Glück und Tränen. Ich kann mir nicht» vorstellen, daß welche so geredet
haben sollen, auch nicht vor drei Jahrhunderten. Der ganze Apparat bestand aus lauter
Briefen, von diesem unmöglichen Werther an seinen Kumpel zu Hause. Das sollte
wahrscheinlich ungeheuer originell wirken oder unausgedacht. Der das geschrieben
hat, soll sich mal meinen Salinger durchlesen. Das ist echt, Leute!
Ich kann euch nur raten, ihn zu lesen, wenn ihr ihn irgendwo aufreißen könnt. Reißt
euch das Ding unter den Nagel, wenn ihr es bei irgendwem stehen seht, und gebt es
nicht wieder her! Leiht es euch aus und gebt es nicht wieder zurück.Ihr sagt einfach,
ihr habt es verloren. Das kostet fünf Mark, na und? Laßt euch nicht etwa vom Titel
täuschen. Ich gebe zu, er popt nicht besonders, vielleicht ist er schlecht übersetzt, aber
egal. Oder ihr seht euch den Film an. Das heißt, ich weiß nicht genau, ob es einen Film
danach gibt. Es ging mir damit wie mit Robinson. Ich sah alles ganz genau vor mir,
jedes Bild. Ich weiß nicht, ob das einer kennt. Man sieht alles so genau vor sich, als
wenn man es im Film gesehen hat, und dann stellt sich heraus, es gibt überhaupt
keinen Film. Aber wenn es tatsächlich keinen Salinger-Film gibt, kann ich jedem
Regisseur nur raten, einen zu drehen. Er hat den Erfolg schon in der Tasche. Ich weiß
zwar nicht, ob ich selbst hingegangen wäre. Ich glaube, ich hätte Schiß gehabt, mir
meinen eigenen Film kaputtmachen zu lassen. Ich war zeitlebens überhaupt kein
großer Kinofan. Wenn es nicht gerade Chaplin gab oder etwas in der Art, diese
überdrehten Melonenfilme, wo die Bullen in ihren idiotischen Tropenhelmen immer so
herrlich verarscht werden, hättet ihr mich in jedem Kino suchen können. Oder »Junge
Dornen« mit Sidney Poitier, vielleicht kennt den einer. Den hätte ich mir jeden Tag
ansehen können. Ich rede jetzt natürlich nicht von diesen Pflichtfilmen für den
Geschichtsunterricht.
Da mußte einer hin. Die standen im Lehrplan. Ich ging da übrigens gern hin. Man
kriegte in einer Stunde mit, wozu man sonst ewig und drei Tage im Geschichtsbuch
rumlesen mußte. Ich fand immer, das war ein praktisches Verfahren. Ich hätte gern
mal einen gesprochen, der solche Filme macht. Ich hätte ihm gesagt: Weiter so. Ich
finde, solche Leute muß man ermuntern. Sie sparen einem viel Zeit. Ich war zwar mit
jemand vom Film bekannt, es war zwar kein Regisseur, der Mann schrieb die Bücher,
aber ich glaube, kaum für solche Geschichtsfilme. Er grinste bloß, als ich ihm meine
Meinung dazu sagte. Ich konnte ihm nicht klarmachen, daß ich es ernst damit meinte.
Ich lernte ihn kennen, als sie uns eines Tages von der Berufsschule in einen Film
scheuchten, zu dem er das Buch geliefert hatte. Anschließend: Gespräch mit den
Schöpfern. Aber nun nicht jeder, der wollte, sondern nur die Besten, die Vorbilder - als
Auszeichnung. Die ganze Show fand nämlich während des Unterrichts statt. Und
vorneweg natürlich Edgar Wibeau, dieser intelligente, gebildete, disziplinierte Junge.
Unser Prachtstück! Und all die anderen Prachtstücke aus den anderen Lehrjahren, pro
Lehrjahr immer zwei. Der Film spielte heute. Ich will nicht viel darüber sagen.
Freiwillig war ich nie da reingegangen, oder höchstens, weil meine M.S.-Jungs die
Musik gemacht hatten. Ich nehme an, sie wollten ins Filmgeschäft kommen. Es ging
um so einen Typ, der aus dem Bau kam und jetzt ein neues Leben anfangen wollte. Bis
dahin hatte er wohl ziemlich quer gelegen, ich meine politisch, und der Bau hatte
daran auch nicht viel geändert. Sein Delikt war Körperverletzung, er hatte so einem
Veteranen eine angesetzt, weil der ihn gereizt hatte in Fragen zu lauter und zu scharfer
Musik. Gleich nach dem Bau kam er ins Krankenhaus, ich glaube, wegen Gelbsucht,
jedenfalls durfte ihn keiner besuchen. Er hatte auch niemand. Aber im Krankenhaus,
auf seinem Zimmer, lag so ein Agitator oder was das sein sollte. Jedenfalls redete er
so. Als ich das sah, wußte ich sofort, was kam. Der Mann würde so lange auf ihn
losreden, bis er alles einsah, und dann würden sie ihn hervorragend einreihen. Und so
kam es dann auch. Er kam in eine prachtvolle Brigade mit einem prachtvollen
Brigadier, lernte eine prachtvolle Studentin kennen, deren Eltern waren zwar zuerst
dagegen, wurden dann aber noch ganz prachtvoll, als sie sahen, was für ein
prachtvoller Junge er doch geworden war, und zuletzt durfte er dann auch noch zur
Fahne. Ich weiß
nicht, wer diesen prachtvollen Film gesehen hat, Leute. Das einzige, was mich noch
interessierte außer der Musik, war dieser Bruder da von dem Helden. Er schleppte ihn
überall mit hin, weil er auch eingereiht werden sollte. Sie waren nämlich immerzu auf
der Suche nach diesem Agitator. Das sollte wohl rührend sein oder was. Der Bruder
ließ sich auch mitschleppen, die Reiserei machte ihm zum Teil sogar Spaß, und diese
prachtvolle Studentin konnte ihm auch was sein und er ihr auch, ich dachte an einer
Stelle sogar, noch ein Wort und er kriegt sie rum, wenn er will.
Die neuen Leiden chapter 2 was written by Ulrich Plenzdorf.