Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Ulrich Plenzdorf
Das mit der Küche hätte euch die Bohne was genutzt, die war zugeschlossen. Da hätte
ich kein Aas reingelassen. Vielleicht nicht mal Charlie. Ich war am schönsten Bauen.
Da sah ich Zarembas Schädel mit seinen verschimmelten Haaren über meiner Hecke
auftauchen. Sofort machte ich die Bude dicht, Leute. Ich haute mich auf das olle Sofa
und fing an zu husten. Nicht, daß ich krank war oder so, jedenfalls nicht wirklich. Ich
hatte zwar Husten. Wahrscheinlich hatte ich mir den bei der Rumkramerei in der ollen
Kolonie zugezogen. Vielleicht hätte ich
auch anfangen müssen zu heizen. Aber ich hätte auch aufhören können zu husten.
Bloß, ich hatte es mir so schön angewöhnt. Es machte sich hervorragend so. Edgar
Wibeau, das verkannte Genie, bei der selbstlosen Arbeit an seiner neuesten Erfindung,
die Lunge halb weggefressen, und er gibt nicht auf. Ich war ein völliger Idiot, ehrlich.
Aber das spornte mich an. Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Also diesen Husten
hatte ich drauf, als die Truppe meine Bude stürmte. Das heißt, sie stürmte nicht. Sie
kamen fein leise. Erst Addi und dann Zaremba. Wahrscheinlich schob ihn der Alte.
Diese Kerle dachten glatt, daß sie wegen mir ein schlechtes Gewissen haben mußten
oder so. Weil sie mich weggescheucht hatten. Und dann ich mit meinem Husten auf
dem Sofa! Ich weiß nicht, ob sich einer vorstellen kann, wie hervorragend ich diesen
Husten draufhatte. Außerdem streckte ich noch meine Füße unter der ollen Decke vor,
als wenn sie zu kurz gewesen wäre.
Zaremba meinte denn auch: Ahoi! Hast auch schon mal besser gehustet, no? Dann
drehte er sich weg, damit Addi seinen Speech loslassen konnte. Addi suchte sich
zunächst was zum Festhalten, dann fing er an: Was ich noch sagen wollte, ich bin
vielleicht manchmal 'n bißchengeradezu, ist so meine Art, einwandfrei. Müßten wir in
Zukunft beide dran denken. Und die Spritze ist ja jetzt passé. Der Zug ist durch,
einwandfrei.
Es fiel ihm nicht leicht. Ich war beinah gerührt. Sagen konnte ich nichts, wegen dem
Husten. Jonas, der Gebesserte, erledigte den Rest: Wir dachten, du könntest dich auf
Fußböden spezialisieren. Geht auch mit Rolle I a. Und sonnabends sind wir immer
kegeln. Natürlich war der Rest der Truppe mittlerweile vollzählig versammelt. Sie
waren förmlich reingetröpfelt, erst einer, dann noch einer. Ich hatte das Gefühl,
Zaremba oder Addi hatte sie als Posten an allen vier Seiten aufgestellt gehabt, falls ich
mich verdünnisieren wollte. Ich hätte mich beölen können. Sie standen rum und
beglotzten meine gesammelten Werke. Ich sah förmlich, wie das popte. Von da an
hielten sie mich für einen seltenen Vogel oder was, dem man nicht mehr zu nahe treten
durfte. Außer Zaremba. Old Zaremba dachte sich garantiert sein Teil. Er fing dann
auch an rumzuschnüffeln in meinem Bau. Zuletzt drückte er auch noch auf die Klinke
zur Küche. Aber die war zu, wie gesagt, und auf seine ganzen Fangfragen, ob ich hier
überwintern wollte, zum Beispiel, konnte ich kaum antworten. Dieser Husten war
einfach unberechenbar. Er kam immer in den blödesten Momenten, Leute. Ich hatte
ihn wirklich gut drauf. Zaremba wollte mich sofort zum Arzt haben, der Hund. Ich sah
für einen Moment ziemlich alt aus. Dann fiel mir ein, daß ich diesen Husten jeden
Herbst habe und daß er völlig harmlos ist. Eine Allergie. Heuhusten oder was.
Einmaliger Fall. Rätsel für die Wissenschaft. Und da hörte er schließlich auf. Aber
mein Husten besserte sich hervorragend seit dem Tag, ich meine: er verzog sich, bis
auf gelegentliche kleine Anfälle. Arzt, das hätte mir noch gefehlt. Meine Meinung zu
Ärzten war: Sie konnten mir gestohlen bleiben. Ich war ein einziges Mal freiwillig bei
einem Arzt wegen einem Ausschlag an den Füßen. Eine halbe Stunde später lag ich
auf seinem Tisch, und er drosch mir in jeden Zeh zwei Spritzen, und dann zog er mir
die Zehennägel ab. Das war schon erstmal himmelschreiend. Und als er fertig war,
scheuchte er mich zu Fuß in das Krankenzimmer, ob das einer glaubt oder nicht,
Leute. Ich blutete durch die Binden wie ein Blöder. Er dachte überhaupt nicht daran,
mir einen Krankenstuhl oder was zu geben. Seitdem stand meine Meinung zu Ärzten
fest. Jedenfalls stand ich von dem Tag an unter Naturschutz bei Addi. Die Bilder und
dann noch ein in der Welt einmaliger Husten. Ich hätte mir wahrscheinlich sonstwas
leisten können ab da. Aber ich konnte mich beherrschen. Ich hatte keine Sehnsucht, sie
noch mal auf meiner Kolchose begrüßen zu dürfen. Daß sie mir womöglich auf die
Schliche kamen mit der Spritze. Ich Idiot, ich dachte doch immer, ich würde mit der
Spritze groß rauskommen. Ich versagte mir fast alles. Ich zückte zum Beispiel kein
einziges Mal meine Werther-Pistole. Ich malte brav meine Fußböden mit der Rolle,
und sonnabends ging ich sogar manchmal mit kegeln. Ich saß da wie auf Kohlen oder
was, während sie kegelten und dachten: Den Wibeau, den haben wir großartig
eingereiht. Ich kam mir fast vor wie in Mittenberg. Und zu Hause wartete meine
Spritze. In der Zeit riß ich auch dieses Hugenottenmuseum auf, durch Zufall. Ich hatte
es eigentlich längst aufgegeben, danach zu suchen. Anfangs hatte ich dutzendweise
Leute gefragt, eine Art Volksbefragung. Können Sie mir sagen, wo ich das
Hugenottenmuseum finde? Erfolg gleich Null. Kein Aas in ganz Berlin wußte was
davon. Die meisten hielten mich wohl für blöd oder für einen Touristen. Und plötzlich
stand ich davor. Es war in einer kaputten Kirche. Der Bau hatte
mich interessiert, weil er die erste Kriegsruine war, die ich gesehen hatte. In
Mittenberg war doch kein einziger Schuß gefallen! Das hatte doch General Brussilow
oder wer beinah vergessen einzunehmen. Und an der einzigen intakten Pforte von dem
ganzen Bau stand: Hugenottenmuseum. Und darunter: Wegen Umbau geschlossen.
Normalerweise hätte mich dieses Schild nicht gestört. Schließlich war ich Hugenotte,
und man konnte mich nicht aussperren. Schätzungsweise wäre mir doch der
Museumschef um den Hals gefallen. Ein echter, lebender Hugenottensproß! Soviel ich
wußte, waren wir doch am Aussterben. Aber aus irgendeinem Grund machte ich vor
diesem Schild kehrt. Ich analysierte mich kurz und stellte fest, daß es mich einfach
nicht interessierte, ob ich adlig war oder nicht, oder was die anderen Hugenotten
machten; wahrscheinlich nicht mal, ob ich Hugenotte oder Mormone oder sonstwas
war. Aus irgendeinem Grund interessierte mich das nicht mehr. Dafür kam ich um die
Zeit auf eine andere blöde Idee, nämlich an Charlie zu schreiben. Ich hatte sie seit dem
Tag damals praktisch nicht wiedergesehen. Mir war klar, daß sie sich längst wieder
mit ihrem Dieter vertragen hatte und daß ich nach allem keine Chancen bei ihr haben
konnte. Trotzdem hatte ich sie immerzu im Kopf. Ich weiß nicht, ob das einer begreift,
Leute. Mein erster Gedanke war sofort Old Werther. Der hatte doch in einer Tour
Briefe an seine Charlotte geschrieben. Ich brauchte denn auch nicht lange zu suchen,
bis ich einen passenden fand:
Wenn Sie mich sähen, meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie
ausgetrocknet meine Sinne werden;... nicht eine selige Stunde! nichts! nichts!
Das pinselte ich auf die Rückseite von einer Speisekarte in diesem Kegelschuppen. Ich
schickte es aber nie ab. Mir wurde klar, daß ich mit Werther schon gar keine Chancen
mehr bei ihr hatte. Damit konnte ich ihr nicht mehr kommen. Bloß, mir fiel nichts
anderes ein. Einfach hingehen konnte ich doch nicht. Und dann steckte an einem
Abend in meinem Briefkasten ein Kuvert. Ich sah das schon von weitem. Post kriegte
ich doch nur postlagernd. Es war auch keine Briefmarke drauf. Und drin war eine
Karte von Charlie: Lebst du noch? Besuch uns doch mal. Wir haben längst geheiratet.
Charlie mußte also selber dagewesen sein. Ich wurde fast nicht wieder, Leute. Die
Knie wackelten mir. Im Ernst. Ich kriegte eine Art Schüttelfrost. Ich ließ alles stehen
und liegen und tobte sofort los. Acht Minuten später stand ich vor Dieters Tür. Ich
nahm einfach an, sie würden jetzt zusammen bei ihm wohnen. Und das war auch der
Fall. Charlie machte auf. Sie starrte mich zuerst an. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihr
nicht ganz recht kam um die Zeit. Ich meine, ich kam ihr schon recht, aber doch nicht
ganz recht. Vielleicht dachte sie auch bloß, ich würde nicht gleich am selben Tag
kommen, an dem sie den Brief auf meine Kolchose gebracht hatte. Jedenfalls holte sie
mich ins Zimmer. Sie hatten nur das eine Zimmer. Im Zimmer saß Dieter. Er saß da
hinter seinem Schreibtisch, genauso, wie er da vor ein paar Wochen gesessen hatte.
Das heißt, es saß nicht dahinter, sondern eigentlich davor. Er hatte den Schreibtisch am
Fenster stehen und saß davor, mit dem Rücken zum Zimmer. Ich verstand das völlig.
Wenn einer nur ein Zimmer hat, in dem er auch noch arbeiten muß, dann muß er sich
irgendwie abschirmen. Und Dieter machte das mit dem Rücken. Sein Rücken war
praktisch eine Wand. Charlotte sagte: Dreh dich mal um! Dieter drehte sich um, und
mir fiel zum Glück ein: Wollte bloß mal fragen, ob ihr nicht 'ne Rohrzange habt.Ich
wurde einfach das Gefühl nicht los, Dieter sollte vielleicht gar nicht wissen, daß
Charlie mich eingeladen hatte. Ich ging auch höchstens einen Schritt in das Zimmer.
Komischerweise sagte Charlie: Haben wir eine Rohrzange? Ich analysierte rasant die
Lage und kam zu dem Schluß, daß Charlie die Sache mit der Rohrzange mitspielte.
Sofort kriegte ich wieder diesen Schüttelfrost. Dieter fragte: Wozu brauchst du 'ne
Rohrzange? Rohrbruch? Und ich: Kann man so sagen. Übrigens brauchte ich
tatsächlich diese Zange. Für die Spritze. Ich hatte zwar etwas in der Art aufgerissen in
einem ollen Schuppen. Bloß, die war dermaßen vergammelt, daß einer sich damit
höchstens noch ein Loch ins Knie hauen konnte. Dann gaben wir uns die Pfoten, und
Dieter machte: Na?
Das war dieses Onkel-Na. Hätte bloß noch gefehlt, daß er rangehängt hätte: Junger
Freund. Haben wir uns denn seit unserer letzten Zusammenkunft gebessert, oder haben
wir immer noch diese Flausen im Kopf? Für gewöhnlich brachte mich so was sofort
auf die Palme, und auch diesmal war ich sofort oben. Aber ich nahm mich zusammen
und kam wieder runter und war ganz der bescheidene, vernünftige, gereifte Junge, der
ich seit kurzem war, Leute. Ich weiß nicht, ob sich das einer vorstellen kann - ich und
bescheiden. Und alles das bloß, weil ich dachte, ich hab diese Spritze in der
Hinterhand, ich Idiot. Ich weiß gar nicht mehr, was ich mir eigentlich dachte dabei. Ich
war wohl einfach so sicher, daß meine Idee mit der Hydraulik genau richtig war, daß
ich schon vorher so bescheiden war wie ein großer Erfinder nach seinem Erfolg. Edgar
Wibeau, der große, sympathische Junge, der trotzdem so bescheiden geblieben ist und
so weiter. Wie bei diesen Spitzensportlern. Mann, Leute, war ich ein Idiot. Außerdem
sah ich natürlich, daß Charlie rot wurde. Ich meine, ich sah es nicht. Ich konnte sie die
ganze Zeit einfach nicht ansehen. Ich hätte sonst wahrscheinlich irgendeine
Riesenidiotie gemacht. Aber ich merkte es. Wahrscheinlich ging in dem Moment ihr
größter Traum in Erfüllung, daß ich und Dieter gute Freunde wurden. Bis dahin hatte
sie noch hinter mir in der Tür gestanden. Jetzt wurde sie ganz aufgeregt, wollte Tee
machen und das, und ich sollte mich hinsetzen. Das Zimmer war nicht
wiederzuerkennen. Es war nicht bloß renoviert und so, sondern völlig neu eingerichtet.
Ich meine, nicht mit Möbeln. Neu waren eigentlich bloß Bilder und Lampen und
Gardinen und allerhand Kleinzeug, das Charlie wahrscheinlich mit in die Wirtschaft
gebracht hatte. Plötzlich hätte ich da wohnen wollen. Ich meine nicht, daß da alles
aufeinander abgestimmt war. Die Sessel nach dem Teppich. Der Teppich nach den
Gardinen. Die Gardinen nach den Tapeten und die Tapeten nach den Sesseln, so was
konnte mich immer fast gar nicht töten. Das war es nicht. Aber die Bilder waren zum
Beispiel aus dem Kindergarten von den Gören. Daß Kinder malen können, daß man
kaputtgeht, hab ich wohl schon gesagt. Das eine Bild sollte wohl ein Schneemann sein.
Er war nur mit roter Tusche. Er sah aus wie Charlie Chaplin, wenn man ihm alles
geklaut hat. Er konnte einem regelrecht an die Nieren gehen. Daneben hing Dieters
Luftflinte. Die ganzen Bücher sahen plötzlich so aus, als liest sie ständig einer immer
wieder. Man hatte plötzlich Lust, sich irgendwo hinzuhocken und sie alle
nacheinander zu lesen. Ich fing an im Zimmer hin und her zu wetzen, mir alles zu
besehen und darüber zu reden. Ich lobte alles wie ein Blöder. Ich kann nur jedem
sagen, der auf ein Mädchen oder eine Frau scharf ist, der muß sie loben. Bei mir
gehörte das einfach zum Service. Natürlich nicht auf die plumpe Art. Sondern so, wie
zum Beispiel ich in diesem Zimmer
bei Charlie. Abgesehen davon, daß es mir wirklich gefiel, sah ich natürlich, daß
Charlie abwechselnd rot und blaß wurde. Ich hielt es für möglich, daß Dieter noch
keinen Ton zu alldem gesagt hatte. Dazu paßte auch, daß er ganz schnell anfing sich
wieder abzuschirmen. Er arbeitete wieder. Als Charlie das sah, setzte sie sich sofort
hin, und ich mußte auch. Ich wurde fast nicht wieder. Sie hatte immer noch diese Art,
sich hinzusetzen mit ihrem Rock. Leute, ich kann einfach nicht beschreiben, wie mir
zumute war. Später winkte sie mich aus dem Zimmer. Draußen erklärte sie mir: Du
mußt ihn verstehen, ja? Er ist völlig raus aus allem durch die lange Armeezeit. Er ist
der Älteste in seinem Studienjahr. Ich glaube, er weiß noch gar nicht, ob Literatur das
Richtige ist für ihn. Sie flüsterte so gut wie. Dann fragte sie mich: Und du? Was macht
deine Laube?
Ich fing fast automatisch mit meinem Husten an, dezent natürlich.
Charlie sofort: Du willst doch da nicht überwintern?
Ich sagte: Wohl kaum.
Ich hatte diesen Husten wirklich drauf wie nichts. Dann fragte sie mich: Arbeitest du?
Und ich: Klar. Auf dem Bau.Ich sah förmlich, wie das popte bei ihr. Charlie gehörte
zu denen, die man fragen konnte, ob sie an das »Gute im Menschen« glauben, und die,
ohne rot zu werden, »ja« sagen. Und damals glaubte sie wahrscheinlich, das Gute hätte
in mir gesiegt und vielleicht, weil sie mir seinerzeit so gründlich ihre Meinung gesagt
hatte. Wenn ich in irgendeinem Buch las, irgendeiner steht plötzlich irgendwo und
weiß nicht, wie er da hingekommen ist, weil er angeblich dermaßen abwesend ist, stieg
ich meistens sofort aus. Ich hielt das für völligen Quatsch. An dem Abend stand ich
vor meiner Laube und wußte tatsächlich nicht, wie ich da hingekommen war. Ich
mußte den ganzen Weg lang gepennt haben oder was. Ich ließ sofort den Recorder
laufen. Erst wollte ich die halbe Nacht lang tanzen, aber dann fing ich an, wie ein Irrer
an der Spritze zu bauen. An dem Abend war ich so sicher wie nie, daß ich mit der
Spritze auf dem richtigen Weg war. Es tat mir bloß leid, daß ich nicht wirklich die
Rohrzange mitgenommen hatte von Charlie. Davon war natürlich keine Rede mehr
gewesen. Meine war wirklich das Letzte. Aber auf die Art hatte ich einen Grund, am
nächsten Nachmittag wieder bei Charlie aufzukreuzen. Dieter war nicht da. Charlie
war dabei, an dem Baldachin von einer ihrer Lampen rumzubauen. Er wollte einfach
nicht halten. Sie stand auf einer Bockleiter, wie wir sie auf dem Bau hatten. So eine,
auf der Old Zaremba tanzen konnte. Ich schwang mich mit auf diesen Bock, und wir
bauten zusammen an dem blöden Baldachin. Charlie hielt und ich schraubte. Aber ob
das einer glaubt, Leute, oder nicht, mir zitterte die Hand. Ich kriegte diese
Madenschraube einfach nicht zu fassen. Immerhin hatte ich Charlie so dicht vor mir
wie eigentlich noch nie. Das wäre vielleicht noch gegangen. Aber sie hielt ihre
Scheinwerfer voll auf mich. Es kam so weit, daß ich hielt und Charlie schraubte. Auf
jeden Fall war das für die Schraube das beste. Sie faßte endlich. Charlie und mir waren
die Arme abgestorben. Ich weiß nicht, ob das einer kennt, wenn man die Arme
stundenlang nach oben hält. Wer Decken streicht oder Gardinen anmacht, weiß
Bescheid. Wir stöhnten im Chor und massierten uns die Arme, alles auf der Leiter.
Dann fing ich an, ihr von Zaremba zu erzählen, wie er mit der Leiter tanzen konnte,
und dann faßten wir uns an den Armen und wackelten auf der Leiter durch das
Zimmer. Wir waren mindestens dreimal am Umkippen, aber wir hatten uns
vorgenommen, bis zur Tür zu kommen, ohne abzusteigen, und wir schafften es. Ich
kriegte sie dazu. Das war es eben: zu so was konnte man Charlie kriegen.
Neunundneunzig von hundert Frauen hätten doch sofort gepaßt oder eine Weile
rumgekreischt und wären dann abgesprungen. Charlie nicht. Als wir an der Tür waren,
stand Dieter auf der Schwelle. Wir jumpten sofort von der Leiter. Charlie fragte ihn:
Willst du essen? Und ich: Dann werd ich man gehen. Es war bloß wegen der
Rohrzange.
Ich hatte ungeheuren Schiß davor, daß er Charlie vor meinen Augen irgendwie anfaßte
und sie vielleicht küßte oder was. Ich weiß nicht, was dann passiert wäre, Leute. Aber
Dieter dachte überhaupt nicht daran. Er ging mit seiner Mappe zu seinem Schreibtisch.
Entweder er küßte Charlie nie, wenn er kam, oder er verkniff es sich wegen mir. Ich
mußte sofort an Old Werther denken, wie er an seinen Wilhelm da schreibt: Auch ist
er so ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal geküßt. Das
lohn ihm Gott.
Ich begriff zwar nicht, was das mit ehrlich zu tun hatte, aber alles andere begriff ich.
Die neuen Leiden chapter 7 was written by Ulrich Plenzdorf.