Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 59 by Johann Wolfgang von Goethe
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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 59

Johann Wolfgang von Goethe * Track #58 On Wilhelm Meisters Wanderjahre

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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 59 Annotated

Eilftes Kapitel

Lenardo sowohl als Odoard waren einige Tage sehr lebhaft beschäftigt, jener, die Abreisenden mit allem Nötigen zu versehen, dieser, sich mit den Bleibenden bekannt zu machen, ihre Fähigkeiten zu beurteilen, um sie von seinen Zwecken hinreichend zu unterrichten. Indessen blieb Friedrichen und unserm Freunde Raum und Ruhe zu stiller Unterhaltung. Wilhelm ließ sich den Plan im allgemeinen vorzeichnen, und da man mit Landschaft und Gegend genugsam vertraut geworden, auch die Hoffnung besprochen war, in einem ausgedehnten Gebiete schnell eine große Anzahl Bewohner entwickelt zu sehen, so wendete sich das Gespräch, wie natürlich, zuletzt auf das, was Menschen eigentlich zusammenhält: auf Religion und Sitte. Hierüber konnte denn der heitere Friedrich hinreichende Auskunft geben, und wir würden wohl Dank verdienen, wenn wir das Gespräch in seinem Laufe mitteilen könnten, das durch Frag' und Antwort, durch Einwendung und Berichtigung sich gar löblich durchschlang und in mannigfaltigem Schwanken zu dem eigentlichen Zweck gefällig hinbewegte. Indessen dürfen wir uns so lange nicht aufhalten und geben lieber gleich die Resultate, als daß wir uns verpflichteten, sie erst nach und nach in dem Geiste unsrer Leser hervortreten zu lassen. Folgendes ergab sich als die Quintessenz dessen, was verhandelt wurde:

Daß der Mensch ins Unvermeidliche sich füge, darauf dringen alle Religionen, jede sucht auf ihre Weise mit dieser Aufgabe fertig zu werden.

Die christliche hilft durch Glaube, Liebe, Hoffnung gar anmutig nach; daraus entsteht denn die Geduld, ein süßes Gefühl, welch eine schätzbare Gabe das Dasein bleibe, auch wenn ihm, anstatt des gewünschten Genusses, das widerwärtigste Leiden aufgebürdet wird. An dieser Religion halten wir fest, aber auf eine eigne Weise; wir unterrichten unsre Kinder von Jugend auf von den großen Vorteilen, die sie uns gebracht hat; dagegen von ihrem Ursprung, von ihrem Verlauf geben wir zuletzt Kenntnis. Alsdann wird uns der Urheber erst lieb und wert, und alle Nachricht, die sich auf ihn bezieht, wird heilig. In diesem Sinne, den man vielleicht pedantisch nennen mag, aber doch als folgerecht anerkennen muß, dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet?

Hievon ist unsre Sittenlehre ganz abgesondert, sie ist rein tätig und wird in den wenigen Geboten begriffen: Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwendigen. Nun mag ein jeder diese lakonischen Worte nach seiner Art im Lebensgange benutzen, und er hat einen ergiebigen Text zu grenzenloser Ausführung.

Der größte Respekt wird allen eingeprägt für die Zeit, als für die höchste Gabe Gottes und der Natur und die aufmerksamste Begleiterin des Daseins. Die Uhren sind bei uns vervielfältigt und deuten sämtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an, und um solche Zeichen möglichst zu vervielfältigen, geben die in unserm Lande errichteten Telegraphen, wenn sie sonst nicht beschäftigt sind, den Lauf der Stunden bei Tag und bei Nacht an, und zwar durch eine sehr geistreiche Vorrichtung.

Unsre Sittenlehre, die also ganz praktisch ist, dringt nun hauptsächlich auf Besonnenheit, und diese wird durch Einteilung der Zeit, durch Aufmerksamkeit auf jede Stunde höchlichst gefördert. Etwas muß getan sein in jedem Moment, und wie wollt' es geschehen, achtete man nicht auf das Werk wie auf die Stunde?

In Betracht, daß wir erst anfangen, legen wir großes Gewicht auf die Familienkreise. Den Hausvätern und Hausmüttern denken wir große Verpflichtungen zuzuteilen; die Erziehung wird bei uns um so leichter, als jeder für sich selbst, Knecht und Magd, Diener und Dienerin, stehen muß.

Gewisse Dinge freilich müssen nach einer gewissen gleichförmigen Einheit gebildet werden: Lesen, Schreiben, Rechnen mit Leichtigkeit der Masse zu überliefern, übernimmt der Abbé; seine Methode erinnert an den wechselsweisen Unterricht, doch ist sie geistreicher; eigentlich aber kommt alles darauf an, zu gleicher Zeit Lehrer und Schüler zu bilden.

Aber noch eines wechselseitigen Unterrichts will ich erwähnen: der Übung, anzugreifen und sich zu verteidigen. Hier ist Lothario in seinem Felde; seine Manöver haben etwas Ähnliches von unsern Feldjägern; doch kann er nicht anders als original sein.

Hiebei bemerke ich, daß wir im bürgerlichen Leben keine Glocken, im soldatischen keine Trommeln haben; dort wie hier ist Menschenstimme, verbunden mit Blasinstrumenten, hinreichend. Das alles ist schon dagewesen und ist noch da; die schickliche Anwendung desselben aber ist dem Geist überlassen, der es auch allenfalls wohl erfunden hätte.

Das größte Bedürfnis eines Staats ist das einer mutigen Obrigkeit, und daran soll es dem unsrigen nicht fehlen; wir alle sind ungeduldig, das Geschäft anzutreten, munter und überzeugt, daß man einfach anfangen müsse. So denken wir nicht an Justiz, aber wohl an Polizei. Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen; niemand soll dem andern unbequem sein; wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden. Ist etwas Lebloses, Unvernünftiges in dem Falle, so wird dies gleichmäßig beiseitegebracht.

In jedem Bezirk sind drei Polizeidirektoren, die alle acht Stunden wechseln, schichtweise, wie im Bergwerk, das auch nicht stillstehen darf, und einer unsrer Männer wird bei Nachtzeit vorzüglich bei der Hand sein.

Sie haben das Recht, zu ermahnen, zu tadeln, zu schelten und zu beseitigen; finden sie es nötig, so rufen sie mehr oder weniger Geschworne zusammen. Sind die Stimmen gleich, so entscheidet der Vorsitzende nicht, sondern es wird das Los gezogen, weil man überzeugt ist, daß bei gegeneinander stehenden Meinungen es immer gleichgültig ist, welche befolgt wird.

Wegen der Majorität haben wir ganz eigne Gedanken; wir lassen sie freilich gelten im notwendigen Weltlauf, im höhern Sinne haben wir aber nicht viel Zutrauen auf sie. Doch darüber darf ich mich nicht weiter auslassen.

Fragt man nach der höhern Obrigkeit, die alles lenkt, so findet man sie niemals an einem Orte; sie zieht beständig umher, um Gleichheit in den Hauptsachen zu erhalten und in läßlichen Dingen einem jeden seinen Willen zu gestatten. Ist dies doch schon einmal im Lauf der Geschichte dagewesen: die deutschen Kaiser zogen umher, und diese Einrichtung ist dem Sinne freier Staaten am allergemäßesten. Wir fürchten uns vor einer Hauptstadt, ob wir schon den Punkt in unsern Besitzungen sehen, wo sich die größte Anzahl von Menschen zusammenhalten wird. Dies aber verheimlichen wir, dies mag nach und nach und wird noch früh genug entstehen.

Dieses sind im allgemeinsten die Punkte, über die man meistens einig ist, doch werden sie beim Zusammentreten von mehrern oder auch wenigern Gliedern immer wieder aufs neue durchgesprochen. Die Hauptsache wird aber sein, wenn wir uns an Ort und Stelle befinden. Den neuen Zustand, der aber dauern soll, spricht eigentlich das Gesetz aus. Unsre Strafen sind gelind; Ermahnung darf sich jeder erlauben, der ein gewisses Alter hinter sich hat; mißbilligen und schelten nur der anerkannte Älteste; bestrafen nur eine zusammenberufene Zahl.

Man bemerkt, daß strenge Gesetze sich sehr bald abstumpfen und nach und nach loser werden, weil die Natur immer ihre Rechte behauptet. Wir haben läßliche Gesetze, um nach und nach strenger werden zu können; unsre Strafen bestehen vorerst in Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft, gelinder, entschiedener, kürzer und länger nach Befund. Wächst nach und nach der Besitz der Staatsbürger, so zwackt man ihnen auch davon ab, weniger oder mehr, wie sie verdienen, daß man ihnen von dieser Seite wehe tue.

Allen Gliedern des Bandes ist davon Kenntnis gegeben, und bei angestelltem Examen hat sich gefunden, daß jeder von den Hauptpunkten auf sich selbst die schicklichste Anwendung macht. Die Hauptsache bleibt nur immer, daß wir die Vorteile der Kultur mit hinübernehmen und die Nachteile zurücklassen. Branntweinschenken und Lesebibliotheken werden bei uns nicht geduldet; wie wir uns aber gegen Flaschen und Bücher verhalten, will ich lieber nicht eröffnen: dergleichen Dinge wollen getan sein, wenn man sie beurteilen soll.

Und in eben diesem Sinne hält der Sammler und Ordner dieser Papiere mit andern Anordnungen zurück, welche unter der Gesellschaft selbst noch als Probleme zirkulieren und welche zu versuchen man vielleicht an Ort und Stelle nicht rätlich findet; um desto weniger Beifall dürfte man sich versprechen, wenn man derselben hier umständlich erwähnen wollte.

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