Wilhelm Meisters Wanderjahre- Kapitel 18 by Johann Wolfgang von Goethe
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Wilhelm Meisters Wanderjahre- Kapitel 18

Johann Wolfgang von Goethe * Track #17 On Wilhelm Meisters Wanderjahre

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Wilhelm Meisters Wanderjahre- Kapitel 18 Annotated

Unter diesen Gesprächen war die Nacht weit vorgerückt, worauf der im Wachen bewährte Mann seinem jungen Freunde den Vorschlag tat, sich auf dem Feldbette niederzulegen und einige Zeit zu schlafen, um alsdann mit frischerem Blick die dem Aufgang der Sonne voreilende Venus, welche eben heute in ihrem vollendeten Glanze zu erscheinen verspräche, zu schauen und zu begrüßen.

Wilhelm, der sich bis auf den Augenblick recht straff und munter erhalten hatte, fühlte auf diese Anmutung des wohlwollenden, vorsorglichen Mannes sich wirklich erschöpft, er legte sich nieder und war augenblicklich in den tiefsten Schlaf gesunken.
Geweckt von dem Sternkundigen sprang Wilhelm auf und eilte zum Fenster: dort staunte, starrte er einen Augenblick, dann rief er enthusiastisch: »Welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!« Andere Worte des Entzückens folgten, aber ihm blieb der Anblick immer ein Wunder, ein großes Wunder.

»Daß Ihnen dieses liebenswürdige Gestirn, das heute in Fülle und Herrlichkeit wie selten erscheint, überraschend entgegentreten würde, konnt' ich voraussehen, aber das darf ich wohl aussprechen, ohne kalt gescholten zu werden: kein Wunder seh' ich, durchaus kein Wunder!«

»Wie könnten Sie auch?« versetzte Wilhelm, »da ich es mitbringe, da ich es in mir trage, da ich nicht weiß, wie mir geschieht. Lassen Sie mich noch immer stumm und staunend hinblicken, sodann vernehmen Sie!« Nach einer Pause fuhr er fort: »Ich lag sanft, aber tief eingeschlafen, da fand ich mich in den gestrigen Saal versetzt, aber allein. Der grüne Vorhang ging auf, Makariens Sessel bewegte sich hervor, von selbst wie ein belebtes Wesen; er glänzte golden, ihre Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war im Begriff, mich niederzuwerfen. Wolken entwickelten sich um ihre Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor, an der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah ich zuletzt, zwischen sich teilendem Gewölk, einen Stern blinken, der immer aufwärts getragen wurde und durch das eröffnete Deckengewölbe sich mit dem ganzen Sternhimmel vereinigte, der sich immer zu verbreiten und alles zu umschließen schien. In dem Augenblick wecken Sie mich auf; schlaftrunken taumle ich nach dem Fenster, den Stern noch lebhaft in meinem Auge, und wie ich nun hinblicke – der Morgenstern, von gleicher Schönheit, obschon vielleicht nicht von gleicher strahlender Herrlichkeit, wirklich vor mir! Dieser wirkliche, da droben schwebende Stern setzt sich an die Stelle des geträumten, er zehrt auf, was an dem erscheinenden Herrliches war, aber ich schaue doch fort und fort, und Sie schauen ja mit mir, was eigentlich vor meinen Augen zugleich mit dem Nebel des Schlafes hätte verschwinden sollen.«

Der Astronom rief aus: »Wunder, ja Wunder! Sie wissen selbst nicht, welche wundersame Rede Sie führten. Möge uns nur dies nicht auf den Abschied der Herrlichen hindeuten, welcher früher oder später eine solche Apotheose beschieden ist.«
Den andern Morgen eilte Wilhelm, um seinen Felix aufzusuchen, der sich früh ganz in der Stille weggeschlichen hatte, nach dem Garten, den er zu seiner Verwunderung durch eine Anzahl Mädchen bearbeitet sah; alle, wo nicht schön, doch keine häßlich, keine, die das zwanzigste Jahr erreicht zu haben schien. Sie waren verschiedentlich gekleidet, als verschiedenen Ortschaften angehörig, tätig, heiter grüßend und fortarbeitend.

Ihm begegnete Angela, welche die Arbeit anzuordnen und zu beurteilen auf und ab ging; ihr ließ der Gast seine Verwunderung über eine so hübsche, lebenstätige Kolonie vermerken. »Diese«, versetzte sie, »stirbt nicht aus, ändert sich, aber bleibt immer dieselbe. Denn mit dem zwanzigsten Jahr treten diese, so wie die sämtlichen Bewohnerinnen unserer Stiftung, ins tätige Leben, meistens in den Ehestand. Alle jungen Männer der Nachbarschaft, die sich eine wackere Gattin wünschen, sind aufmerksam auf dasjenige, was sich bei uns entwickelt. Auch sind unsre Zöglinge hier nicht etwan eingesperrt, sie haben sich schon auf manchem Jahrmarkte umgesehen, sind gesehen worden, gewünscht und verlobt; und so warten denn mehrere Familien schon aufmerksam, wenn bei uns wieder Platz wird, um die Ihrigen einzuführen.« Nachdem diese Angelegenheit besprochen war, konnte der Gast seiner neuen Freundin den Wunsch nicht bergen, das gestern abend Vorgelesene nochmals durchzusehen. »Den Hauptsinn der Unterhaltung habe ich gefaßt«, sagte er; »nun möcht' ich aber auch das einzelne, wovon die Rede war, näher kennen lernen.«

»Diesen Wunsch«, versetzte jene, »zu befriedigen, finde ich mich glücklicherweise sogleich in dem Falle; das Verhältnis, das Ihnen so schnell zu unserm Innersten gegeben ward, berechtigt mich, Ihnen zu sagen, daß jene Papiere schon in meinen Händen und von mir nebst andern Blättern sorgfältig aufgehoben werden. Meine Herrin«, fuhr sie fort, »ist von der Wichtigkeit des augenblicklichen Gesprächs höchlich überzeugt; dabei gehe vorüber, sagt sie, was kein Buch enthält, und doch wieder das Beste, was Bücher jemals enthalten haben. Deshalb machte sie mir's zur Pflicht, einzelne gute Gedanken aufzubewahren, die aus einem geistreichen Gespräch, wie Samenkörner aus einer vielästigen Pflanze, hervorspringen. ›Ist man treu‹, sagt sie, ›das Gegenwärtige festzuhalten, so wird man erst Freude an der Überlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon ausgesprochen, das liebenswürdigste Gefühl schon ausgedrückt finden. Hiedurch kommen wir zum Anschauen jener Übereinstimmung, wozu der Mensch berufen ist, wozu er sich oft wider seinen Willen finden muß, da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an.‹«

Angela fuhr fort, dem Gaste weiter zu vertrauen, daß dadurch ein bedeutendes Archiv entstanden sei, woraus sie in schlaflosen Nächten manchmal ein Blatt Makarien vorlese; bei welcher Gelegenheit denn wieder auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt.

Auf seine Frage, inwiefern dieses Archiv als Geheimnis bewahrt werde, eröffnete sie: daß allerdings nur die nächste Umgebung davon Kenntnis habe, doch wolle sie es wohl verantworten und ihm, da er Lust bezeige, sogleich einige Hefte vorlegen.
Unter diesem Gartengespräche waren sie gegen das Schloß gelangt, und in die Zimmer eines Seitengebäudes eintretend, sagte sie lächelnd: »Ich habe bei dieser Gelegenheit Ihnen noch ein Geheimnis zu vertrauen, worauf Sie am wenigsten vorbereitet sind.« Sie ließ ihn darauf durch einen Vorhang in ein Kabinett hineinblicken, wo er, freilich zu großer Verwunderung, seinen Felix schreibend an einem Tische sitzen sah und sich nicht gleich diesen unerwarteten Fleiß enträtseln konnte. Bald aber ward er belehrt, als Angela ihm entdeckte, daß der Knabe jenen Augenblick seines Verschwindens hiezu angewendet und erklärt, Schreiben und Reiten sei das einzige, wozu er Lust habe.

Unser Freund ward sodann in ein Zimmer geführt, wo er in Schränken ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte. Rubriken mancher Art deuteten auf den verschiedensten Inhalt, Einsicht und Ordnung leuchtete hervor. Als nun Wilhelm solche Vorzüge pries, eignete das Verdienst derselben Angela dem Hausfreunde zu; die Anlage nicht allein, sondern auch in schwierigen Fällen die Einschaltung wisse er mit eigener Übersicht bestimmt zu leiten. Darauf suchte sie die gestern vorgelesenen Manuskripte vor und vergönnte dem Begierigen, sich derselben sowie alles übrigen zu bedienen und nicht nur Einsicht davon, sondern auch Abschrift zu nehmen.

Hier nun mußte der Freund bescheiden zu Werke gehen, denn es fand sich nur allzuviel Anziehendes und Wünschenswertes; besonders achtete er die Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze höchst schätzenswert. Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärtszugehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf wo möglich zu vergegenwärtigen.
Auch dergleichen dürfen wir aus oben angeführten Ursachen keinen Platz einräumen. Jedoch werden wir die erste sich darbietende Gelegenheit nicht versäumen und am schicklichen Orte auch das hier Gewonnene mit Auswahl darzubringen wissen.

Am dritten Tage morgens begab sich unser Freund zu Angela, und nicht ohne einige Verlegenheit stand er vor ihr. »Heute soll ich scheiden«, sprach er, »und von der trefflichen Frau, bei der ich gestern den ganzen Tag leider nicht vorgelassen worden, meine letzten Aufträge erhalten. Hier nun liegt mir etwas auf dem Herzen, auf dem ganzen innern Sinn, worüber ich aufgeklärt zu sein wünschte. Wenn es möglich ist, so gönnen Sie mir diese Wohltat.«

»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte die Angenehme, »doch sprechen Sie weiter.« – »Ein wunderbarer Traum«, fuhr er fort, »einige Worte des ernsten Himmelskundigen, ein abgesondertes, verschlossenes Fach in den zugänglichen Schränken, mit der Inschrift: ›Makariens Eigenheiten‹, diese Veranlassungen gesellen sich zu einer innern Stimme, die mir zuruft, die Bemühung um jene Himmelslichter sei nicht etwa nur eine wissenschaftliche Liebhaberei, ein Bestreben nach Kenntnis des Sternenalls, vielmehr sei zu vermuten: es liege hier ein ganz eigenes Verhältnis Makariens zu den Gestirnen verborgen, das zu erkennen mir höchst wichtig sein müßte. Ich bin weder neugierig noch zudringlich, aber dies ist ein so wissenswerter Fall für den Geist- und Sinnforscher, daß ich mich nicht enthalten kann anzufragen: ob man zu so vielem Vertrauen nicht auch noch dieses Übermaß zu vergönnen belieben möchte?« – »Dieses zu gewähren, bin ich berechtigt«, versetzte die Gefällige. »Ihr merkwürdiger Traum ist zwar Makarien ein Geheimnis geblieben, aber ich habe mit dem Hausfreund Ihr sonderbares geistiges Eingreifen, Ihr unvermutetes Erfassen der tiefsten Geheimnisse betrachtet und überlegt, und wir dürfen uns ermutigen, Sie weiterzuführen. Lassen Sie mich nun zuvörderst gleichnisweise reden! Bei schwer begreiflichen Dingen tut man wohl, sich auf diese Weise zu helfen.

Wie man von dem Dichter sagt, die Elemente der sichtlichen Welt seien in seiner Natur innerlichst verborgen und hätten sich nur aus ihm nach und nach zu entwickeln, daß ihm nichts in der Welt zum Anschauen komme, was er nicht vorher in der Ahnung gelebt: ebenso sind, wie es scheinen will, Makarien die Verhältnisse unsres Sonnensystems von Anfang an, erst ruhend, sodann sich nach und nach entwickelnd, fernerhin sich immer deutlicher belebend, gründlich eingeboren. Erst litt sie an diesen Erscheinungen, dann vergnügte sie sich daran, und mit den Jahren wuchs das Entzücken. Nicht eher jedoch kam sie hierüber zur Einheit und Beruhigung, als bis sie den Beistand, den Freund gewonnen hatte, dessen Verdienst Sie auch schon genugsam kennen lernten.

Als Mathematiker und Philosoph ungläubig von Anfang, war er lange zweifelhaft, ob diese Anschauung nicht etwa angelernt sei; denn Makarie mußte gestehen, frühzeitig Unterricht in der Astronomie genossen und sich leidenschaftlich damit beschäftigt zu haben. Daneben berichtete sie aber auch: wie sie viele Jahre ihres Lebens die innern Erscheinungen mit dem äußern Gewahrwerden zusammengehalten und verglichen, aber niemals hierin eine Übereinstimmung finden können.

Der Wissende ließ sich hierauf dasjenige, was sie schaute, welches ihr nur von Zeit zu Zeit ganz deutlich war, auf das genaueste vortragen, stellte Berechnungen an und folgerte daraus, daß sie nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern daß sie sich vielmehr geistig als ein integrierender Teil darin bewege. Er verfuhr nach dieser Voraussetzung, und seine Calculs wurden auf eine unglaubliche Weise durch ihre Aussagen bestätigt.

So viel nur darf ich Ihnen diesmal vertrauen, und auch dieses eröffne ich nur mit der dringenden Bitte, gegen niemanden hievon irgendein Wort zu erwähnen. Denn sollte nicht jeder Verständige und Vernünftige, bei dem reinsten Wohlwollen, dergleichen Äußerungen für Phantasien, für übelverstandene Erinnerungen eines früher eingelernten Wissens halten und erklären? Die Familie selbst weiß nichts Näheres hievon, diese geheimen Anschauungen, die entzückenden Gesichte sind es, die bei den Ihrigen als Krankheit gelten, wodurch sie augenblicklich gehindert sei, an der Welt und ihren Interessen teilzunehmen. Dies, mein Freund, verwahren Sie im stillen und lassen sich auch gegen Lenardo nichts merken.«
Gegen Abend ward unser Wanderer Makarien nochmals vorgestellt; gar manches anmutig Belehrende kam zur Sprache, davon wir nachstehendes auswählen.
»Von Natur besitzen wir keinen Fehler, der nicht zur Tugend, keine Tugend, die nicht zum Fehler werden könnte. Diese letzten sind gerade die bedenklichsten. Zu dieser Betrachtung hat mir vorzüglich der wunderbare Neffe Anlaß gegeben, der junge Mann, von dem Sie in der Familie manches Seltsame gehört haben und den ich, wie die Meinigen sagen, mehr als billig, schonend und liebend behandle.

Von Jugend auf entwickelte sich in ihm eine gewisse muntere, technische Fertigkeit, der er sich ganz hingab und darin glücklich zu mancher Kenntnis und Meisterschaft fortschritt. Späterhin war alles, was er von Reisen nach Hause schickte, immer das Künstlichste, Klügste, Feinste, Zarteste von Handarbeit, auf das Land hindeutend, wo er sich eben befand und welches wir erraten sollten. Hieraus möchte man schließen, daß er ein trockner, unteilnehmender, in Äußerlichkeiten befangener Mensch sei und bleibe; auch war er im Gespräch zum Eingreifen an allgemeinen, sittlichen Betrachtungen nicht aufgelegt, aber er besaß im stillen und geheimen einen wunderbar feinen praktischen Takt des Guten und Bösen, des Löblichen und Unlöblichen, daß ich ihn weder gegen Ältere noch Jüngere, weder gegen Obere noch Untere jemals habe fehlen sehen. Aber diese angeborne Gewissenhaftigkeit, ungeregelt wie sie war, bildete sich im einzelnen zu grillenhafter Schwäche; er mochte sogar sich Pflichten erfinden, da wo sie nicht gefordert wurden, und sich ganz ohne Not irgendeinmal als Schuldner bekennen.

Nach seinem ganzen Reiseverfahren, besonders aber nach den Vorbereitungen zu seiner Wiederkunft, glaube ich, daß er wähnt, früher ein weibliches Wesen unseres Kreises verletzt zu haben, deren Schicksal ihn jetzt beunruhigt, wovon er sich befreit und erlöst fühlen würde, sobald er vernehmen könnte, daß es ihr wohl gehe, und das Weitere wird Angela mit Ihnen besprechen. Nehmen Sie gegenwärtigen Brief und bereiten unsrer Familie ein glückliches Zusammenfinden. Aufrichtig gestanden: ich wünschte, ihn auf dieser Erde nochmals zu sehen und im Abscheiden ihn herzlich zu segnen.«

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