Peter Camenzind - Kapitel 7 by Hermann Hesse
Peter Camenzind - Kapitel 7 by Hermann Hesse

Peter Camenzind - Kapitel 7

Hermann Hesse * Track #7 On Peter Camenzind

Peter Camenzind - Kapitel 7 Annotated

VII.

Vor meiner Schriftstellerei hatte ich nach wie vor selber keinen Respekt. Ich konnte von meiner Arbeit leben, kleine Ersparnisse zurücklegen und gelegentlich auch meinem Vater etwas Geld senden. Er trug es freudig ins Wirtshaus, sang dort mein Lob in allen Tonarten und dachte sogar daran, mir einen Gegendienst zu leisten. Ich hatte ihm nämlich einmal gesagt, daß ich mein Brot zumeist durch Zeitungsartikel verdiene. Er hielt mich für einen Redakteur oder Berichterstatter wie die ländlichen Bezirksblätter sie haben, und nun diktierte er dreimal väterliche Briefe an mich, in welchen er mir Ereignisse mitteilte, die ihm wichtig schienen und von denen er glaubte, sie würden mir Stoff geben und Geld einbringen. Einmal war es ein Scheunenbrand, dann der Absturz zweier Bergtouristen und das dritte mal das Ergebnis einer Schulzenwahl. Diese Mitteilungen waren schon in einen grotesk tönenden Zeitungsstil gebracht und machten mir wirkliche Freude, denn es waren doch Zeichen einer freundlichen Verbindung zwischen ihm und mir und seit Jahren die ersten Briefe, die ich aus der Heimat erhielt. Sie erquickten mich auch als ungewollte Verhöhnung meiner Schreiberei; denn ich besprach Monat für Monat manches Buch, dessen Erscheinen hinter jenen ländlichen Ereignissen an Wichtigkeit und Folgen weit zurückstand.
Es erschienen damals gerade zwei Bücher von Verfassern, die ich als extravagante lyrische Jünglinge seinerzeit in Zürich gekannt hatte. Der eine lebte nun in Berlin und wußte viel Schmutziges aus Cafés und Bordellen der Großstadt zu schildern. Der zweite hatte sich in der Umgebung von München eine luxuriöse Einsiedelei erbaut und taumelte zwischen neurasthenischen Selbstbetrachtungen und spiritistischen Anregungen verächtlich und hoffnungslos hin und her. Ich mußte die Bücher besprechen und machte mich natürlich über beide harmlos lustig. Vom Neurastheniker kam nur ein verachtungsvoller Brief in wahrhaft fürstlichem Stil. Der Berliner aber machte in einer Zeitschrift Skandal, fand sich in seinem ernsten Wollen verkannt, stützte sich auf Zola und machte aus meiner verständnislosen Kritik nicht nur mir, sondern dem eingebildeten und prosaischen Geist der Schweizer überhaupt einen Vorwurf. Der Mann hatte damals in Zürich vielleicht die einzige einigermaßen gesunde und würdige Zeit seines Literatenlebens gehabt.
Nun war ich nie ein sonderlicher Patriot gewesen, aber das war mir doch etwas zu stark berlinert, und ich erwiderte dem Unzufriedenen mit einer langen Epistel, in der ich mit meiner Geringschätzung der aufgeblasenen Großstadtmoderne nicht gerade hinterm Berge hielt.
Diese Zänkerei tat mir wohl und nötigte mich, wieder einmal über meine Auffassung des modernen Kulturlebens nachzudenken. Die Arbeit war mühsam und langwierig und förderte wenig erquickliche Resultate zu Tag. Mein Büchlein verliert nichts, wenn ich darüber schweige.
Zugleich aber zwangen mich diese Betrachtungen, über mich selbst und mein lang geplantes Lebenswerk eindringlicher nachzudenken.
Ich hatte, wie man weiß, den Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahe zu bringen und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind. Ich wollte daran erinnern, daß gleich den Liedern der Dichter und gleich den Träumen unsrer Nächte auch Ströme, Meere, ziehende Wolken und Stürme Symbole und Träger der Sehnsucht sind, welche zwischen Himmel und Erde ihre Flügel ausspannt und deren Ziel die zweifellose Gewißheit vom Bürgerrecht und von der Unsterblichkeit alles Lebenden ist. Der innerste Kern jedes Wesens ist dieser Rechte sicher, ist Gottes Kind und ruht ohne Angst im Schoß der Ewigkeit. Alles Schlechte, Kranke, Verdorbene aber, das wir in uns tragen, widerspricht und glaubt an den Tod.
Ich wollte aber auch die Menschen lehren, in der brüderlichen Liebe zur Natur Quellen der Freude und Ströme des Lebens zu finden; ich wollte die Kunst des Schauens, des Wanderns und Genießens, die Lust am Gegenwärtigen predigen. Gebirge, Meere und grüne Inseln wollte ich in einer verlockend mächtigen Sprache zu euch reden lassen und wollte euch zwingen zu sehen, was für ein maßlos vielfältiges, treibendes Leben außerhalb eurer Häuser und Städte täglich blüht und überquillt. Ich wollte erreichen, daß ihr euch schämet von ausländischen Kriegen, von Mode, Klatsch, Literatur und Künsten mehr zu wissen als vom Frühling, der vor euren Städten sein unbändiges Treiben entfaltet und als vom Strom, der unter euren Brücken hinfließt und von den Wäldern und herrlichen Wiesen, durch welche eure Eisenbahn rennt. Ich wollte euch erzählen, welche goldene Kette unvergeßlicher Genüsse ich Einsamer und Schwerlebiger in dieser Welt gefunden hatte und wollte, daß ihr, die ihr vielleicht glücklicher und froher seid als ich, mit noch größeren Freuden diese Welt entdecket.
Und ich wollte vor allem das schöne Geheimnis der Liebe in eure Herzen legen. Ich hoffte euch zu lehren, allem Lebendigen rechte Brüder zu sein und so voll Liebe zu werden, daß ihr auch das Leid und auch den Tod nicht mehr fürchten, sondern als ernste Geschwister ernst und geschwisterlich empfangen würdet, wenn sie zu euch kämen.
Das alles hoffte ich nicht in Hymnen und hohen Liedern, sondern schlicht, wahrhaftig und gegenständlich darzustellen, ernsthaft und scherzhaft, wie ein heimgekehrter Reisender seinen Kameraden von draußen erzählt.
Ich wollte — ich wünschte — ich hoffte —, das klingt nun freilich komisch. Auf den Tag, an welchem dies viele Wollen einen Plan und Umriß bekäme, wartete ich noch immer. Aber ich hatte wenigstens viel gesammelt. Nicht nur im Kopf, sondern auch in einer Menge von schmalen Büchlein, die ich auf Reisen und Märschen in der Tasche trug und von denen alle paar Wochen eines voll wurde. Da hatte ich knapp und kurz Notizen über alles Sichtbare in der Welt aufgeschrieben, ohne Reflexionen und ohne Verbindungen. Es waren Skizzenhefte wie die eines Zeichners und sie enthielten in kurzen Worten lauter reale Dinge: Bilder aus Gassen und Landstraßen, Silhouetten von Gebirgen und Städten, erlauschte Gespräche von Bauern, Handwerksburschen, Marktweibern, ferner Wetterregeln, Notizen über Beleuchtungen, Winde, Regen, Gestein, Pflanzen, Tiere, Vogelflug, Wellenbildungen, Meerfarbenspiel und Wolkenformen. Gelegentlich hatte ich auch kurze Geschichten daraus bearbeitet und veröffentlicht, als Natur- und Wanderstudien, doch alles ohne Beziehungen zum Menschlichen. Mir war die Geschichte eines Baumes, ein Tierleben oder die Reise einer Wolke auch ohne menschliche Staffage interessant genug gewesen.
Daß eine größere Dichtung, in welcher überhaupt keine Menschengestalten auftreten, ein Unding sei, war mir schon öfters durch den Kopf gegangen, doch hing ich jahrelang an diesem Ideal und hegte die dunkle Hoffnung, es möchte vielleicht einmal eine große Inspiration dies Unmögliche überwinden. Nun sah ich endgültig ein, daß ich meine schönen Landschaften mit Menschen bevölkern müsse und daß diese gar nicht natürlich und treu genug dargestellt werden könnten. Da war unendlich viel nachzuholen, und ich hole heute noch daran nach. Bis dahin waren die Menschen insgesamt ein Ganzes und im Grunde Fremdes für mich gewesen. Neuerdings lernte ich, wie lohnend es ist, statt einer abstrakten Menschheit Einzelne zu kennen und zu studieren, und meine Notizbüchlein und mein Gedächtnis füllte sich mit ganz neuen Bildern.
Der Anfang dieser Studien war ganz erfreulich. Ich trat aus meiner naiven Gleichgültigkeit heraus und gewann Interesse an mancherlei Leuten. Ich sah, wie viel Selbstverständliches mir fremd geblieben war, aber ich sah auch, wie das viele Wandern und Schauen mir die Augen geöffnet und geschärft habe. Und da von jeher eine Vorliebe mich zu ihnen gezogen hatte, gab ich mich besonders gerne und häufig mit Kindern ab.
Immerhin war das Beobachten der Wolken und Wellen erfreulicher gewesen als das Menschenstudieren. Mit Erstaunen nahm ich wahr, daß der Mensch von der übrigen Natur sich vor allem durch eine schlüpfrige Gallert von Lüge unterscheidet, die ihn umgibt und schützt. In Kürze beobachtete ich an allen meinen Bekannten dieselbe Erscheinung — das Ergebnis des Umstandes, daß jeder eine Person, eine klare Figur vorzustellen genötigt wird, während doch keiner sein eigenstes Wesen kennt. Mit sonderbaren Gefühlen stellte ich an mir selber dasselbe fest und gab es nun auf, den Personen auf den Kern dringen zu wollen. Bei den meisten war die Gallert viel wichtiger. Ich fand sie überall auch schon an den Kindern, welche stets, bewußt oder unbewußt, lieber eine Rolle mimen als sich ganz unverhüllt und instinktiv kundgeben.
Nach einiger Zeit kam es mir vor, ich mache keine Fortschritte mehr und verliere mich an spielerische Einzelheiten. Zunächst suchte ich den Fehler bei mir selbst, doch konnte ich mir bald nicht mehr verhehlen, daß ich enttäuscht war und daß meine Umgebung mir die Menschen nicht gab, die ich suchte. Ich brauchte nicht Interessantheiten, sondern Typen. Das bot mir weder das Volk der Akademiker noch der Kreis der Gesellschaftsmenschen. Mit Sehnsucht dachte ich an Italien, und mit Sehnsucht an die einzigen Freunde und Begleiter meiner vielen Fußreisen, die Handwerksburschen. Mit solchen war ich viel gewandert und hatte unter ihnen viele prachtvolle Burschen gefunden.
Es war vergeblich, die Herberge zur Heimat und einige wilde Pennen aufzusuchen. Die Menge der unständigen Durchwanderer diente mir nicht. So stand ich denn wieder eine Weile ratlos, hielt mich an die Kinder und studierte viel in Kneipen herum, wo natürlich auch nichts zu holen war. Es kamen ein paar traurige Wochen, da ich mir mißtraute, meine Hoffnungen und Wünsche lächerlich übertrieben fand, mich viel im Freien umhertrieb und wieder halbe Nächte beim Wein verbrütete.
Auf meinen Tischen hatten sich damals wieder ein paar Stöße von Büchern angesammelt, die ich gern behalten hätte, statt sie dem Antiquar zu geben; doch war kein Raum in meinen Schränken mehr. Um endlich abzuhelfen, suchte ich eine kleine Schreinerei auf und bat den Meister, zum Ausmessen eines Bücherschafts in meine Wohnung zu kommen.
Er kam, ein kleiner langsamer Mann mit bedächtigen Manieren, er maß den Raum aus, kniete am Boden, streckte den Meterstab zur Decke, stank ein wenig nach Leim und notierte eine Zahl um die andere behutsam mit zollgroßen Ziffern in sein Notizbuch. Zufällig geschah es, daß er bei seinem Hantieren an einen mit Büchern beladenen Sessel stieß. Ein paar Bände fielen herunter und er bückte sich, sie aufzuheben. Unter den Büchern war ein kleines Handlexikon der Handwerksburschensprache. Man findet den kleinen Kartonband fast in allen deutschen Handwerksburschenherbergen, ein gut gemachtes und ergötzliches Büchlein.
Der Schreiner, als er das ihm wohlbekannte Bändchen sah, blickte kurios zu mir herüber, halb belustigt und halb mißtrauisch.
„Was gibt’s?“ frage ich.
„Mit Verlaub, ich sehe da ein Buch, das ich auch kenne. Haben Sie das wirklich studiert?“
„Studiert hab’ ich die Kundensprache auf der Landstraße,“ erwiderte ich, „aber man schlägt schon gern einmal einen Ausdruck nach.“
„Wahrhaftig!“ rief er. „Ja sind Sie denn selber einmal auf der Walze gewesen?“
„Nicht ganz so wie Sie meinen. Aber gewandert bin ich genug und habe in mancher Penne übernachtet.“
Er hatte unterdeß die Bücher wieder aufgeschichtet und wollte gehen.
„Wo haben Sie sich denn seinerzeit herumgeschlagen?“ fragte ich ihn.
„Von hier bis Koblenz, und später noch auf Genf hinunter. Es war nicht meine schlechteste Zeit.“
„Haben Sie auch ein paarmal gebrummt?“
„Bloß einmal, in Durlach!“
„Sie müssen mir noch erzählen, wenn Sie wollen. Sehen wir uns einmal bei einem Schoppen?“
„Nicht gern, Herr. Aber wenn Sie einmal nach Feierabend zu mir hereinkommen und fragen: wie gehts? wie stehts? ist mirs schon recht. Wenn Sie nicht bloß Schindluder mit mir treiben wollen.“
Einige Tage später, es war bei Elisabeth offener Abend, blieb ich auf der Straße stehen und besann mich, ob ich nicht lieber zu meinem Schreiner gehen sollte. Und ich kehrte um, ließ den Gehrock zu Haus und besuchte den Schreiner. Die Werkstatt war schon geschlossen und dunkel, ich stolperte durch eine finstere Hausflur und einen engen Hof, kletterte im Hinterhaus die Treppe auf und ab und fand schließlich an einer Türe einen geschriebenen Schild mit des Meisters Namen. Eintretend gelangte ich direkt in eine sehr kleine Küche, wo ein mageres Weib das Abendessen rüstete und zugleich über drei Kinder zu wachen hatte, welche den engen Raum mit Leben und erheblichem Getöse erfüllten. Befremdet führte mich die Frau in die nächste Stube, wo der Schreiner mit der Zeitung am dämmerigen Fenster saß. Er knurrte bedenklich, da er mich im Finstern für einen zudringlichen Kunden hielt, dann erkannte er mich und gab mir die Hand.
Da er überrascht und verlegen war, wandte ich mich den Kindern zu; sie flohen vor mir in die Küche zurück und ich folgte nach. Da ich dort die Hausfrau eine Reisspeise bereiten sah, erwachten in mir die Erinnerungen an die Küche meiner umbrischen Padrona und ich beteiligte mich an der Kocherei. Bei uns wird meistens der schöne Reis gewissenlos zu einer Art Kleister verkocht, welcher nach gar nichts schmeckt und widerlich klebrig zu essen ist. Auch hier war das Unglück schon im Gang und ich konnte eben noch die Speise retten, indem ich nach Topf und Schaumlöffel langte und mich eiligst der Zubereitung selber annahm. Die Frau fügte sich und war erstaunt, der Reis gelang leidlich, wir trugen ihn auf, zündeten die Lampe an und auch ich erhielt meinen Teller.
Die Schreinersfrau verwickelte mich an diesem Abend in so eingehende Gespräche über Küchenfragen, daß der Mann fast gar nicht zu Worte kam und wir die Erzählung seiner Wanderabenteuer auf ein andermal verschieben mußten. Übrigens spürten die Leutlein bald, daß ich nur äußerlich ein Herr, eigentlich aber ein Bauernsohn und Kind des armen Volkes war, und so wurden wir schon am ersten Abend befreundet und vertraulich miteinander. Denn wie sie in mir den Gleichbürtigen erkannten, so witterte auch ich in dem ärmlichen Hauswesen die Heimatlust der kleinen Leute. Die Menschen hatten hier keine Zeit zu Feinheiten, zu Posen, zu Komödien, ihnen war das herbe arme Leben auch ohne das Mäntelein der Bildung und höheren Interessen lieb und viel zu gut, um es mit schönen Reden zu tapezieren.
Immer öfter kam ich wieder und vergaß bei dem Schreiner nicht nur den lumpigen Gesellschaftskram, sondern auch meine Traurigkeit und Nöte. Mir war, ich fände hier ein Stück Kindheit für mich aufbewahrt und setze hier das Leben fort, welches seinerzeit die Patres abgebrochen hatten, als sie mich auf Schulen schickten.
Über eine rissige und schweißgelbe Landkarte veralteten Stils gebückt verfolgte der Schreiner mit mir seine und meine Fahrten und wir freuten uns über jedes Stadttor und jede Gasse, die wir beide kannten, wir frischten Handwerksburschenwitze auf und sangen sogar einmal mehrere von den ewigjungen Straubingerliedern. Wir sprachen von den Sorgen des Handwerks, vom Haushalt, von den Kindern, von städtischen Dingen und ganz allmählich geschah es, daß der Meister und ich sachte die Rollen vertauschten und ich der Dankbare, er der Gebende und Lehrende war. Ich fühlte aufatmend, daß mich hier statt der Salontöne Realitäten umgaben.
Unter seinen Kindern fiel ein fünfjähriges Mädchen durch seine zarte Besonderheit auf. Sie hieß Agnes, doch rief man ihr Agi, war blond, blaß und von schmächtigen Gliedern, hatte schüchterne, weite Augen und eine sanfte Scheu im Wesen. Eines Sonntags, als ich die Familie zu einem Spaziergang abholen wollte, war Agi krank. Die Mutter blieb bei ihr, wir andere pilgerten langsam zur Stadt hinaus. Hinter Sankt Margreten setzten wir uns auf eine Bank, die Kinder liefen Steinen, Blumen und Käfern nach und wir Männer überschauten die sommerlichen Wiesen, den Binninger Friedhof und den schönen bläulichen Zug des Jura. Der Schreiner war müde, bedrückt und still und schien Sorgen zu haben.
„Wo fehlt’s, Meister?“ fragte ich, als die Kinder weit genug weg waren. Er sah mir verloren und traurig ins Gesicht.
„Sehen Sie’s denn nicht?“ fing er an. „Die Agi will mir sterben. Ich weiß es schon lang und hab mich gewundert, daß sie nur so alt geworden ist, sie hat ja immer den Tod in den Augen gehabt. Aber jetzt müssen wir daran glauben.“
Ich fing zu trösten an, doch hörte ich bald von selber auf.
„Sehen Sie,“ lachte er traurig, „Sie glauben ja auch nicht dran, daß das Kind durchkommt. Ich bin kein Stündler, wissen Sie, und geh auch nur alle Jubeljahr einmal in die Kirche, aber das spür ich wohl, daß jetzt der Herrgott ein Wörtlein mit mir reden will. ’s ist ja nur ein Kind, und gesund ist sie nie gewesen, aber weiß Gott, sie war mir lieber als die andern zusammen.“
Mit Gejodel und tausend kleinen Fragen kamen die Kinder dahergerannt, umdrängten mich, ließen sich die Namen der Blumen und Gräser von mir sagen und wollten schließlich Geschichten erzählt haben. Da erzählte ich ihnen von den Blumen, Bäumen und Büschen, daß sie gleich den Kindern jedes eine Seele und jedes seinen Engel haben. Auch der Vater hörte zu, lächelte und gab je und je seine leise Bekräftigung. Wir sahen die Berge blauer werden, hörten Abendgeläute und gingen heim. Auf den Wiesen lag ein rötlicher Abendhauch, die fernen Münstertürme ragten klein und dünn in die warme Luft, am Himmel ging das Sommerblau in schöne grünliche und goldige Farben über, die Bäume hatten lange Schatten. Die Kleinen waren müd und still geworden. Sie dachten an die Engel der Mohnblüten, Nelken und Glockenblumen, indeß wir Alten an die kleine Agi dachten, deren Seele schon bereit war Flügel zu empfangen und uns kleine bange Schar zu verlassen.
In den zwei nächsten Wochen ging es gut. Das Mädchen schien zu genesen, konnte für Stunden das Bett verlassen und sah in ihren kühlen Kissen hübscher und vergnügter aus als je. Dann kamen ein paar fieberige Nächte und nun sahen wir, ohne mehr davon zu reden, daß das Kind nur noch für Wochen oder Tage unser Gast sein würde. Nur einmal kam ihr Vater darauf zu sprechen. Es war in der Werkstatt. Ich sah ihn im Brettervorrat stöbern und wußte von selber, daß er daran ging die Stücke für einen Kindersarg zusammenzusuchen.
„Es muß doch nächstens geschehen,“ sagte er, „und da mach ich es lieber nach Feierabend für mich allein.“
Ich saß auf einer Hobelbank, während er an der anderen arbeitete. Als die Bretter sauber behobelt waren, zeigte er sie mir mit einer Art von Stolz. Es war ein schönes, gesund gewachsenes, fehlerloses Tannenholz.
„Ich will auch keinen Nagel hineinschlagen, sondern die Teile schon ineinanderpassen, daß es ein gutes und dauerhaftes Stück gibt. Aber für heute ist’s genug, wir wollen zur Frau hinauf gehen.“
Die Tage vergingen, heiße, wundervolle Hochsommertage, und ich saß jeden Tag eine Stunde oder zwei bei der kleinen Agi, erzählte ihr von den schönen Wiesen und Wäldern, hielt ihr leichtes schmales Kinderhändlein in meiner breiten Hand und sog mit ganzer Seele die liebe, lichte Anmut ein, die bis zum letzten Tage um sie her war.
Alsdann standen wir ängstlich und traurig dabei und sahen, wie der kleine magere Körper noch einmal Kräfte sammelte, um mit dem starken Tode zu kämpfen, der sie schnell und leicht bezwang. Die Mutter war still und stark; der Vater lag über der Bettstatt und nahm hundertmal Abschied, streichelte das Blondhaar und liebkoste seinen toten Liebling.
Es kam die schlichte, kurze Feier der Beerdigung, und die beklommenen Abende, da die Kinder nebenan in ihren Betten weinten. Es kamen die schönen Gänge auf den Friedhof, wo wir das frische Grab bepflanzten und ohne zu sprechen beieinander auf der Bank in den kühlen Anlagen saßen und an die Agi dachten und mit anderen Augen als sonst die Erde betrachteten, in der unser Liebling lag, und die Bäume und den Rasen, die darüber wuchsen, und die Vögel, deren Spiel ungehemmt und fröhlich durch den stillen Friedhof klang.
Daneben ging der strenge Werktag seinen Lauf, die Kinder sangen wieder, balgten sich, lachten und wollten Geschichten hören, und wir alle gewöhnten uns unvermerkt daran, unsre Agi nimmer zu sehen und einen schönen, kleinen Engel im Himmel zu haben.
Über alle dem hatte ich die Gesellschaften des Professors gar nicht mehr und das Haus Elisabeths nur wenige mal besucht, und dann war mir im lauen Strom der Gespräche sonderbar ratlos und beklommen zu Mut gewesen. Jetzt suchte ich beide Häuser auf und fand an beiden geschlossene Türen, da alles längst auf dem Lande war. Erst jetzt bemerkte ich mit Erstaunen, daß ich die heiße Jahreszeit und das Ferienmachen über der Freundschaft mit dem Schreinershaus und über der Krankheit des Kindes ganz vergessen hatte. Früher wäre es mir ganz unmöglich gewesen, den Juli und August in der Stadt zu bleiben.
Ich nahm für kurze Zeit Abschied und unternahm eine Fußreise durch den Schwarzwald, die Bergstraße und den Odenwald. Unterwegs war es mir ein ungewohntes Vergnügen, den Basler Schreinerskindern aus schönen Orten Ansichtskarten zu senden und überall mir vorzustellen, wie ich ihnen und ihrem Vater später von der Reise erzählen würde.
In Frankfurt beschloß ich, mir noch ein paar Reisetage zu gönnen. In Aschaffenburg, Nürnberg, München und Ulm genoß ich mit neuer Lust die Werke der alten Kunst und schließlich machte ich noch ganz harmlos einen Halt in Zürich. Bisher, in all den Jahren, hatte ich diese Stadt wie ein Grab gemieden, nun schlenderte ich durch die bekannten Straßen, suchte die alten Kneipen und Gärten wieder auf und konnte ohne Schmerz der vergangenen schönen Jahre denken. Die Malerin Aglietti hatte geheiratet und man sagte mir ihre Adresse. Gegen Abend ging ich hin, las an der Haustür ihres Mannes Namen, sah an den Fenstern hinauf und zögerte einzutreten. Da begannen die alten Zeiten mir lebendig zu werden und meine Jugendliebe erwachte halb aus ihrem Schlaf mit leisem Schmerz. Ich kehrte um und habe mir das schöne Bild der geliebten welschen Frau durch kein unnützes Wiedersehen verdorben. Weiterschlendernd besuchte ich den Seegarten, wo die Künstler damals ihr Sommernachtfest begangen hatten, schaute auch an dem Häuschen hinauf, in dessen Mansarde ich drei kurze, gute Jahre gehaust hatte, und über alle den Erinnerungen trat mir unversehens der Name Elisabeth auf die Lippen. Die neue Liebe war doch stärker als ihre älteren Schwestern. Sie war auch stiller, bescheidener und dankbarer.
Um mir die gute Stimmung zu bewahren, nahm ich ein Boot und ruderte behaglich langsam in den warmen, lichten See. Es wollte Abend werden und am Himmel hing eine einzige schöne, schneeweiße Wolke. Ich hatte sie fortwährend im Auge und nickte ihr zu, an die Wolkenliebe meiner Kinderzeit denkend, und an Elisabeth, und auch an jene gemalte Wolke Segantinis, vor welcher ich Elisabeth einmal so schön und hingegeben hatte stehen sehen. Die durch kein Wort und unreines Begehren getrübte Liebe zu ihr hatte ich nie so beglückend und reinigend empfunden wie jetzt, da ich beim Anblick der Wolke ruhig und dankbar alles Gute meines Lebens übersah und statt der frühern Wirren und Leidenschaften nur die alte Sehnsucht der Knabenzeit in mir fühlte — auch sie reifer und stiller geworden.
Von jeher war ich gewohnt, zum ruhigen Takt der Ruderschläge irgend etwas zu summen oder zu singen. Ich sang auch jetzt leise vor mich hin und merkte erst im Singen, daß es Verse waren. Sie blieben mir im Gedächtnis und ich schrieb sie zuhause auf, als Andenken an den schönen Züricher Seeabend.
Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So licht und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.
Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer Acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie bei dunkler Nacht.
Geht und erglänzt so selig,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.
In Basel fand ich einen Brief aus Assisi für mich daliegen. Er war von Frau Annunziata Nardini, und voll erfreulicher Nachrichten. Sie hatte nun doch einen zweiten Mann gefunden! Übrigens tue ich besser, ihn unverändert mitzuteilen.
Hochgeehrter und sehr lieber Herr Peter!
Erlauben Sie Ihrer treuen Freundin die Freiheit, Ihnen einen Brief zu schreiben. Es hat Gott gefallen mir ein großes Glück zu bescheren, und ich möchte Sie auf den zwölften Oktober zu meiner Hochzeit einladen. Er heißt Menotti und hat zwar wenig Geld, doch liebt er mich sehr und hat schon früher mit Früchten gehandelt. Er ist hübsch, aber nicht so groß und schön wie Sie, Herr Peter. Er wird auf der Piazza Obst verkaufen, während ich im Laden bleibe. Auch die schöne Marietta vom Nachbar wird heiraten, jedoch nur einen Maurer aus der Fremde.
Ich habe jeden Tag an Sie gedacht und vielen Leuten von Ihnen erzählt. Ich habe Sie sehr lieb und auch den Heiligen, welchem ich vier Kerzen zu Ihrem Andenken gestiftet habe. Auch Menotti wird sehr froh sein, wenn Sie zur Hochzeit kommen. Wenn er unfreundlich gegen Sie sein sollte, werde ich es ihm verbieten. Leider hat sich gezeigt, daß der kleine Mattheo Spinelli wirklich, wie ich stets gesagt habe, ein Bösewicht ist. Er hat mir oft Citronen gestohlen. Jetzt ist er hinweggebracht worden, weil er seinem Vater, dem Bäcker, zwölf Lire stahl und weil er den Hund des Bettlers Giangiacomo vergiftet hat.
Ich wünsche Ihnen den Segen Gottes und des Heiligen. Ich habe große Sehnsucht nach Ihnen.
Ihre untertänige und treue Freundin
Annunziata Nardini

Nachschrift.
Unsere Ernte war mäßig. Die Trauben standen sehr schlecht, auch Birnen gab es nicht genug, aber die Limonen waren sehr reichlich, nur mußten wir sie zu billig verkaufen. In Spello geschah ein schreckliches Unglück. Ein junger Mensch hat seinen Bruder mit einer Harke erschlagen, man weiß nicht weshalb, aber gewiß ist er eifersüchtig auf ihn gewesen, obwohl es sein eigener Bruder war.

Leider konnte ich der verlockenden Einladung nicht folgen. Ich schrieb meinen Glückwunsch und stellte meinen Besuch aufs nächste Frühjahr in Aussicht. Dann ging ich mit dem Brief und mit einem mitgebrachten Nürnberger Geschenk für die Kinder zu meinem Schreinermeister.
Dort fand ich eine unerwartete große Veränderung. Abseits vom Tisch, gegen das Fenster hin, hockte eine groteske, schiefe Menschengestalt in einem Stuhl, der wie ein Kindersessel mit einer Brustwehr versehen war. Es war Boppi, der Bruder der Meistersfrau, ein armer halb gelähmter Verwachsener, für welchen nach dem kürzlich erfolgten Tod seiner alten Mutter nirgends sich ein Plätzchen gefunden hatte. Widerstrebend hatte ihn der Schreiner einstweilen zu sich genommen und die beständige Gegenwart des kranken Krüppels lag wie ein Schrecken auf dem gestörten Hauswesen. Man hatte sich noch nicht an ihn gewöhnt; den Kindern graute vor ihm, die Mutter war mitleidig, verlegen und gedrückt, der Vater offenbar verstimmt.
Boppi hatte auf einem häßlichen Doppelhöcker ohne Hals einen großen, starkzügigen Kopf mit breiter Stirn, starker Nase und schönem leidendem Munde sitzen, die Augen waren klar, aber still und etwas verängstigt, und die merkwürdig kleinen und hübschen Hände lagen fortwährend weiß und ruhig auf der schmalen Brustwehr. Auch ich war befangen und verstimmt über den armen Eindringling, und zugleich war es mir peinlich, den Schreiner die kurze Geschichte des Kranken erzählen zu hören, während dieser daneben saß und auf seine Hände schaute, ohne von jemand angeredet zu werden. Krüppel war er von Geburt, doch hatte er die Volksschule durchgemacht und konnte jahrelang durch Strohflechten sich ein wenig nützlich machen, bis ihn wiederholte Gichtanfälle teilweise lähmten. Seit Jahren lag er nun entweder zu Bett oder saß in seinem sonderbaren Stuhl zwischen Kissen geklemmt. Die Frau wollte wissen, er habe früher viel und schön für sich gesungen, doch hatte sie ihn jahrelang nicht mehr gehört und hier im Hause hatte er noch nie gesungen. Und während all dies erzählt und besprochen wurde, saß er da und blickte vor sich hin. Mir ward nicht wohl dabei und ich ging bald wieder weg und blieb die nächsten Tage dem Hause fern.
Mein Leben lang war ich stark und gesund gewesen, hatte nie eine ernste Krankheit gehabt und die Leidenden, namentlich Krüppel, mit Mitleid, aber auch ein wenig verächtlich betrachtet; nun paßte es mir durchaus nicht, mein behaglich heiteres Leben in der Handwerkerfamilie durch die unerquickliche Last dieser elenden Existenz gestört zu finden. Ich verschob darum einen zweiten Besuch von Tag zu Tag und sann vergeblich nach, wie ich uns den lahmen Boppi vom Halse schaffen könnte. Es mußte sich irgend eine Möglichkeit finden, ihn mit geringen Kosten in einem Spital oder Pfründhaus unterzubringen. Mehrmals wollte ich den Schreiner aufsuchen, um mit ihm darüber zu beraten, doch scheute ich mich, ungefragt davon anzufangen, und vor der Begegnung mit dem Kranken hatte ich ein kindisches Grauen. Es war mir widerlich, ihn immer zu sehen, ihm die Hand geben zu müssen.
So ließ ich einen Sonntag verstreichen. Am zweiten Sonntag war ich schon im Begriff, mit einem Frühzug in den Jura auszufliegen, schämte mich dann aber doch meiner Feigheit, blieb da und ging nach Tisch zu dem Schreiner.
Mit Widerstreben gab ich Boppi die Hand. Der Schreiner war ärgerlich und schlug einen Spaziergang vor; er war, wie er mir mitteilte, des ewigen Elends überdrüssig und ich freute mich, ihn meinen Vorschlägen zugänglich zu wissen. Die Frau wollte dableiben, da bat sie der Krüppel, sie möchte mitgehen, da er gut allein bleiben könne. Wenn er nur ein Buch und ein Glas Wasser neben sich habe, könne man ihn einschließen und unbesorgt zurücklassen.
Und wir, die wir uns doch sämtlich für ganz leidliche und gutherzige Leute hielten, schlossen ihn ein und gingen spazieren! Und wir waren vergnügt, hatten unsern Spaß mit den Kindern, freuten uns der schönen goldigen Herbstsonne, und keiner von uns schämte sich und keinem schlug das Herz, daß wir den Lahmen allein im Hause hatten liegen lassen! Wir waren vielmehr froh, seiner für eine Weile ledig zu sein, atmeten erleichtert die klare, sonnenwarme Luft und boten den Anblick einer dankbaren und biederen Familie, die Gottes Sonntag mit Verstand und Dank genießt.
Erst als wir am Grenzacher Hörnli zu einem Glas Wein eingekehrt waren und im Wirtsgarten um den Tisch saßen, kam der Vater auf Boppi zu sprechen. Er klagte über den lästigen Gast, seufzte über die Beengung und Verteuerung seines Haushalts und schloß lachend mit der Bemerkung: „Na, hier draußen kann man wenigstens noch eine Stunde vergnügt sein, ohne daß er einen stört!“
Bei diesem unbedachten Wort sah ich plötzlich den armen Lahmen vor mir, flehend und leidend, ihn, den wir nicht liebten, den wir loszuwerden trachteten und der jetzt von uns verlassen und eingeschlossen einsam und traurig in der dämmernden Stube saß. Es fiel mir ein, daß es nun bald zu dunkeln beginnen müsse und daß er nicht im stande sein würde, Licht zu machen oder dem Fenster näher zu rücken. Also würde er das Buch weglegen und im Halbdunkel allein sitzen müssen, ohne Gespräch oder Zeitvertreib, indes wir hier Wein tranken, lachten und uns vergnügten. Und es fiel mir ein, wie ich den Nachbarn in Assisi vom heiligen Franz erzählt hatte und wie ich geflunkert hatte, er hätte mich gelehrt alle Menschen liebzuhaben. Wozu hatte ich das Leben des Heiligen studiert und seinen herrlichen Gesang der Liebe auswendig gelernt und seine Spuren auf den umbrischen Hügeln gesucht, wenn nun ein armer und hülfloser Mensch dalag und leiden mußte, während ich davon wußte und ihn trösten konnte?
Die Hand eines mächtigen Unsichtbaren legte sich auf mein Herz, drückte es nieder und füllte es mit so viel Scham und Schmerz, daß ich zitterte und unterlag. Ich wußte, daß Gott jetzt mit mir ein Wort reden wollte.
„Du Dichter!“ sagte er, „du Schüler des Umbriers, du Prophet, der die Menschen Liebe lehren und beglücken will! Du Träumer, der in Winden und Wassern meine Stimme hören möchte!“
„Du liebst ein Haus,“ sagte er, „wo man freundlich zu dir ist, wo du angenehme Stunden hast! Und am selben Tag, da ich dies Haus meiner Einkehr würdige, läufst du davon und sinnst darauf mich zu vertreiben! Du Heiliger! Du Prophet! Du Dichter!“
Mir war genau so zu Mute, als würde ich vor einen reinen, untrüglichen Spiegel gestellt und ich erblickte mich darin als einen Lügner, als einen Maulhelden, als einen Feigling und Wortbrüchigen. Das tut weh, das ist bitter, peinigend und schrecklich; aber was in diesem Augenblick in mir zerbrach und Qualen litt und sich verwundet bäumte, das war des Zerbrechens und Untergehens wert.
Gewaltsam und eilig nahm ich Abschied, ließ den Wein im Glase stehen und das angebrochene Brot auf dem Tische liegen und ging in die Stadt zurück. In meiner Erregung wurde ich von unausstehlicher Angst gepeinigt, es möchte ein Unglück geschehen sein. Es konnte Feuer ausbrechen, der hilflose Boppi konnte aus dem Stuhl gefallen sein und leidend oder tot am Boden liegen. Ich sah ihn daliegen, ich glaubte dabei zu stehen und den stillen Vorwurf im Blick des Krüppels sehen zu müssen.
Atemlos erreichte ich die Stadt und das Haus, stürmte die Treppe hinan und erst jetzt fiel mir ein, daß ich ja vor verschlossener Türe stehe und keinen Schlüssel besaß. Doch legte sich sogleich meine Angst. Denn ehe ich noch die Tür der Küche erreicht hatte, hörte ich drinnen Gesang. Es war ein sonderbarer Augenblick. Mit Herzklopfen und ganz außer Atem stand ich auf dem dunklen Absatz der Treppe und horchte, indem ich langsam wieder ruhig ward, auf das Singen des eingeschlossenen Krüppels. Er sang leise, weich und ein wenig klagend ein volkstümliches Liebeslied, vom „Blüemli wiß und rot.“ Ich wußte, daß er lang nicht mehr gesungen hatte, nun rührte es mich ihn zu belauschen, wie er die stille Stunde benützte um in seiner Weise ein wenig froh zu sein.
Es ist nun einmal so: Das Leben liebt es neben ernste Ereignisse und tiefe Gemütsbewegungen das Komische zu stellen. So empfand ich denn auch sogleich das Lächerliche und Beschämende meiner Lage. In meiner plötzlichen Angst war ich eine Stunde weit über Feld herbeigerannt, um nun ohne Schlüssel vor der Küchenpforte zu stehen. Entweder mußte ich wieder abziehen oder dem Lahmen meine guten Absichten durch zwei geschlossene Türen hindurch zuschreien. Auf der Treppe stand ich mit meinem Vorsatz, den Armen zu trösten, ihm Teilnahme zu zeigen und die Stunden zu verkürzen, und er saß ahnungslos drinnen, sang und wäre ohne Zweifel nur erschrocken, wenn ich mich durch Schreien oder Klopfen bemerklich gemacht hätte.
Es blieb mir nichts übrig als wieder fortzugehen. Ich bummelte eine Stunde durch die sonntäglich belebten Gassen, dann fand ich die Familie heimgekehrt. Es kostete mich diesmal keine Überwindung, Boppi die Hand zu drücken. Ich setzte mich neben ihn, knüpfte ein Gespräch an und fragte, was er gelesen habe. Es lag nahe, ihm Lektüre anzubieten, und er war dankbar dafür. Als ich ihm Jeremias Gotthelf empfahl, zeigte es sich, daß er dessen Schriften fast alle kannte. Doch war ihm Gottfried Keller noch fremd und ich versprach ihm dessen Bücher zu leihen.
Am nächsten Tag, als ich die Bücher brachte, fand ich Gelegenheit mit ihm allein zu sein, da die Frau eben ausgehen wollte und der Mann in der Werkstätte war. Da bekannte ich ihm, wie sehr ich mich schäme ihn gestern allein gelassen zu haben und daß ich froh wäre, manchmal bei ihm sitzen und sein Freund sein zu dürfen.
Der kleine Krüppel wendete seinen großen Kopf ein wenig zu mir herüber, sah mich an und sagte „Danke schön.“ Das war alles. Aber dies Wenden des Kopfes hatte ihm Mühe gemacht und war so viel wert als zehn Umarmungen eines Gesunden, und sein Blick war so hell und kindlich schön, daß mir vor Beschämung das Blut ins Gesicht stieg.
Nun war noch das Schwerere übrig, mit dem Schreiner zu reden. Es schien mir am besten, ihm meine gestrige Angst und Scham geradeheraus zu beichten. Leider verstand er mich nicht, doch ließ er mit sich darüber reden. Er nahm es an, den Kranken als gemeinsamen Gast mit mir zu behalten, so daß wir die geringen Kosten seiner Erhaltung teilten und mir die Erlaubnis blieb, nach Belieben bei Boppi ein und aus zu gehen und ihn wie einen eigenen Bruder anzusehen.
Der Herbst blieb ungewöhnlich lange schön und warm. Darum war das erste, was ich für Boppi tat, ihm einen Fahrstuhl zu besorgen und ihn täglich, meist in Begleitung der Kinder, ins Freie zu führen.

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