Peter Camenzind - Kapitel 4 by Hermann Hesse
Peter Camenzind - Kapitel 4 by Hermann Hesse

Peter Camenzind - Kapitel 4

Hermann Hesse * Track #4 On Peter Camenzind

Peter Camenzind - Kapitel 4 Annotated

IV.

Was meinem Vater seinerzeit nicht gelungen war, das gelang nun diesem Liebeselend. Es erzog mich zum Zecher.
Für mein Leben und Wesen war das wichtiger als irgend etwas von dem, was ich bisher erzählte. Der starke, süße Gott ward mir ein treuer Freund und ist es heute noch. Wer ist so mächtig wie er? Wer ist so schön, so phantastisch, schwärmerisch, fröhlich und schwermütig? Er ist ein Held und Zauberer. Er ist ein Verführer und Bruder des Eros. Er vermag Unmögliches; arme Menschenherzen füllt er mit schönen und wunderlichen Dichtungen. Er hat mich Einsiedler und Bauern zum König, Dichter und Weisen gemacht. Leer gewordene Lebenskähne belastet er mit neuen Schicksalen und treibt Gestrandete in die eilige Strömung des großen Lebens zurück.
So ist der Wein. Doch ist es mit ihm wie mit allen köstlichen Gaben und Künsten. Er will geliebt, gesucht, verstanden und mit Mühen gewonnen sein. Das können nicht Viele, und er bringt tausend und tausend um. Er macht sie alt, er tötet sie oder löscht die Flamme des Geistes in ihnen aus. Seine Lieblinge aber lädt er zu Festen ein und baut ihnen Regenbogenbrücken zu seligen Inseln. Er legt, wenn sie müde sind, Kissen unter ihr Haupt und umfaßt sie, wenn sie der Traurigkeit zur Beute fallen, mit leiser und gütiger Umarmung wie ein Freund und wie eine tröstende Mutter. Er verwandelt die Wirrnis des Lebens in große Mythen und spielt auf mächtiger Harfe das Lied der Schöpfung.
Und wieder ist er ein Kind, hat lange seidige Locken und schmale Schultern und feine Glieder. Er lehnt sich dir ans Herz und reckt das schmale Gesicht zu deinem empor und sieht dich erstaunt und traumhaft aus lieben großen Augen an, in deren Tiefe Paradieserinnerung und unverlorene Gotteskindschaft feucht und glänzend wogt wie eine neugeborene Quelle im Wald.
Und der süße Gott gleicht auch einem Strom, der tief und rauschend eine Frühlingsnacht durchwandert. Und gleicht einem Meere, welches Sonne und Sturm auf kühler Woge wiegt.
Wenn er mit seinen Lieblingen redet, dann überrauscht sie schauernd und flutend die stürmende See der Geheimnisse, der Erinnerung, der Dichtung, der Ahnungen. Die bekannte Welt wird klein und geht verloren und in banger Freude wirft sich die Seele in die straßenlose Weite des Unbekannten, wo alles fremd und alles vertraut ist und wo die Sprache der Musik, der Dichter und des Traumes gesprochen wird.
Nun, ich muß erst erzählen.
Es geschah, daß ich stundenlang selbstvergessen heiter sein konnte, studierte, schrieb und Richards Musik anhörte. Aber kein Tag ging ganz ohne Leid vorbei. Manchmal überfiel es mich erst nachts im Bette, daß ich stöhnte und mich bäumte und spät in Tränen entschlief. Oder erwachte es, wenn ich der Aglietti begegnet war. Meistens aber kam es am Spätnachmittag, wenn die schönen, lauen, müdemachenden Sommerabende begannen. Dann ging ich an den See, nahm ein Boot, ruderte mich heiß und müde und fand es dann unmöglich, nach hause zu gehen. Also in eine Kneipe oder in einen Wirtsgarten. Da probierte ich verschiedene Weine, trank und brütete und war manchmal am andern Tage halbkrank Dutzendemal überfiel mich dabei ein so schauderhaftes Elend und Ekelgefühl, daß ich beschloß nie mehr zu trinken. Und dann ging ich wieder und trank. Allmählich unterschied ich die Weine und ihre Wirkung und genoß sie mit einer Art von Bewußtsein, im ganzen freilich noch naiv und roh genug. Schließlich fand ich am dunkelroten Veltliner einen Halt. Er schmeckte mir beim ersten Glas herb und erregend, dann verschleierte er mir die Gedanken bis zu einer stillen, stetigen Träumerei, und dann begann er zu zaubern, zu schaffen, selber zu dichten. Dann sah ich alle Landschaften, die mir je gefallen hatten, in köstlichen Beleuchtungen mich umgeben und ich selbst wanderte darin, sang, träumte und fühlte ein erhöhtes, warmes Leben in mir kreisen. Und es endete mit einer überaus angenehmen Traurigkeit, als hörte ich Volkslieder geigen und als wüßte ich irgendwo ein großes Glück, dem ich vorbeigewandert wäre und das ich versäumt hätte.
Es kam von selbst so, daß ich allmählich selten mehr allein kneipte, sondern allerlei Gesellschaft fand. Sobald ich von Menschen umgeben war, wirkte der Wein anders auf mich. Dann wurde ich gesprächig, aber nicht erregt, sondern fühlte ein kühles sonderbares Fieber. Eine mir selbst bisher kaum bekannte Seite meines Wesens blühte über Nacht empor, doch gehörte sie weniger zu den Garten- und Zierblumen, als in die Gattung der Disteln und Nesseln. Zugleich nämlich mit der Beredtsamkeit kam ein scharfer, kühler Geist über mich, machte mich sicher, überlegen, kritisch und witzig. Waren Leute da, deren Gegenwart mich störte, so wurden sie bald fein und listig, bald grob und hartnäckig so lange aufgezogen und geärgert, bis sie gingen. Die Menschen überhaupt waren mir ja von Kind auf weder sonderlich lieb noch notwendig gewesen, nun begann ich sie kritisch und ironisch zu betrachten. Mit Vorliebe erfand und erzählte ich kleine Geschichten, in welchen die Verhältnisse der Menschen untereinander lieblos und mit scheinbarer Sachlichkeit satirisch dargestellt und bitter verhöhnt wurden. Woher dieser verächtliche Ton mir kam, wußte ich selber nicht, er brach wie eine reifende Schwäre aus meinem Wesen hervor, die ich lange Jahre nicht wieder los ward.
Saß ich dazwischen einmal einen Abend allein, dann träumte ich wieder von Bergen, Sternen und trauriger Musik.
In diesen Wochen schrieb ich eine Folge von Betrachtungen über Gesellschaft, Kultur und Kunst unserer Zeit, ein kleines giftiges Büchlein, dessen Wiege meine Wirtshausgespräche waren. Aus meinen ziemlich fleißig weiterbetriebenen historischen Studien kam mancherlei geschichtliches Material hinzu, welches meinen Satiren eine Art von solidem Hintergrunde gab.
Auf Grund dieser Arbeit erhielt ich bei einer größeren Zeitung den Rang eines ständigen Mitarbeiters, wovon ich nahezu leben konnte. Gleich darauf erschienen jene Skizzen auch als selbständiges Büchlein und hatten einigen Erfolg. Nun warf ich die Philologie vollends über Bord. Ich war nun schon in höheren Semestern, Beziehungen zu deutschen Zeitschriften knüpften sich an und hoben mich aus der bisherigen Verborgenheit und Armseligkeit in den Kreis der Anerkannten empor. Ich verdiente mein Brot, verzichtete auf das lästige Stipendium und trieb mit vollen Segeln dem verächtlichen Leben eines kleinen Berufsliteraten entgegen.
Und trotz des Erfolgs und meiner Eitelkeit, und trotz der Satiren und trotz meiner Liebesleiden lag über mir in Fröhlichkeit und Schwermut der warme Glanz der Jugend. Trotz aller Ironie und einer kleinen, harmlosen Blasiertheit sah ich in Träumen doch stets ein Ziel, ein Glück, eine Vollendung vor mir. Was es sein sollte, wußte ich nicht. Ich fühlte nur, das Leben müsse mir irgend einmal ein besonders lachendes Glück vor die Füße spülen, einen Ruhm, eine Liebe vielleicht, eine Befriedigung meiner Sehnsucht und eine Erhöhung meines Wesens. Ich war noch der Page, der von Edeldamen und Ritterschlag und großen Ehren träumt.
Ich glaubte im Beginn einer emporstrebenden Bahn zu stehen. Ich wußte nicht, daß alles bis jetzt Erlebte nur Zufälle waren und daß meinem Wesen und Leben noch der tiefe, eigene Grundton fehle. Ich wußte noch nicht, daß ich an einer Sehnsucht litt, welcher nicht Liebe noch Ruhm Grenze und Erfüllung sind.
Und so genoß ich meinen kleinen, etwas herben Ruhm mit aller Jugendlust. Es tat mir wohl, bei gutem Wein unter klugen und geistigen Menschen zu sitzen und, wenn ich zu reden begann, ihre Gesichter begierig und aufmerksam mir zugewendet zu sehen.
Zuweilen fiel mir auf, eine wie große Sehnsucht in allen diesen Seelen von heute nach Erlösung schrie und was für wunderliche Wege sie sie führte. An Gott zu glauben, galt für dumm und fast für unanständig, sonst aber wurde an vielerlei Lehren und Namen geglaubt, an Schopenhauer, an Buddha, an Zarathustra und viele andere. Es gab junge, namenlose Dichter, welche in stilvollen Wohnungen feierliche Andachten vor Statuen und Gemälden begingen. Sie hätten sich geschämt sich vor Gott zu beugen, aber sie lagen auf Knieen vor dem Zeus von Otrikoli. Es gab Asketen, die sich mit Enthaltsamkeit quälten und deren Toilette zum Himmel schrie. Ihr Gott hieß Tolstoi oder Buddha. Es gab Künstler, die sich durch wohlerwogene und abgestimmte Tapeten, Musik, Speisen, Weine, Parfüme oder Cigarren zu aparten Stimmungen anregten. Sie sprachen geläufig und mit erkünstelter Selbstverständlichkeit von musikalischen Linien, Farbenakkorden und ähnlichem und waren überall auf der Lauer nach der „persönlichen Note,“ welche meist in irgend einer kleinen, harmlosen Selbsttäuschung oder Verrücktheit bestand. Im Grunde war mir die ganze krampfhafte Komödie amüsant und lächerlich, doch fühlte ich oft mit sonderbarem Schauder, wie viel ernste Sehnsucht und echte Seelenkraft darin flammte und verloderte.
Von all den phantastisch einherschreitenden neumodischen Dichtern, Künstlern und Philosophen, die ich damals mit Erstaunen und Ergötzen kennen lernte, weiß ich keinen, aus dem etwas Notables geworden wäre. Es war unter ihnen ein mir gleichaltriger Norddeutscher, ein gefälliges Figürchen und ein zarter, lieber Mensch, delikat und sensibel in allem, was irgend künstlerische Dinge betraf. Er galt für einen der zukünftigen großen Dichter und ich hörte ein paar mal Gedichte von ihm vorlesen, die meiner Erinnerung noch immer als etwas ungemein Duftiges, seelenvoll Schönes vorschweben. Vielleicht war er der einzige von uns allen, aus dem ein wirklicher Dichter hätte werden können. Zufällig erfuhr ich später einmal seine kurze Geschichte. Durch einen literarischen Mißerfolg scheu geworden, entzog sich der Überempfindliche aller Öffentlichkeit und fiel einem Lumpen von Mäcen in die Hände, der ihn, statt ihn anzuspornen und zur Vernunft zu bringen, schnell vollends zu Grunde richtete. Auf den Villen des reichen Herrn trieb er mit dessen nervösen Damen ein fades Aesthetengeflunker, stieg in seiner Einbildung zum verkannten Heros und brachte sich, jämmerlich mißleitet, durch lauter Chopinmusik und präraphaelitische Ekstasen systematisch um den Verstand.
An dies halbflügge Volk seltsam gekleideter und frisierter Dichter und schöner Seelen kann ich mich nur mit Grauen und Mitleid erinnern, da ich erst nachträglich das Gefährliche dieses Umganges einsah. Nun, mich bewahrte mein Oberländer Bauerntum davor, an dem Tummel teilzunehmen.
Edler und beglückender aber als der Ruhm und der Wein und die Liebe und die Weisheit war meine Freundschaft. Sie war’s schließlich allein, die meiner angebotenen Schwerlebigkeit aufhalf und meine Jugendjahre unverdorben frisch und morgenrot erhielt. Ich weiß auch heute in der Welt nichts Köstlicheres als eine ehrliche und tüchtige Freundschaft zwischen Männern und wenn mich einmal an nachdenklichen Tagen etwas wie ein Jugendheimweh befällt, so ist es allein um meine Studentenfreundschaft.
Seit meiner Verliebtheit in Erminia hatte ich Richard ein wenig vernachlässigt. Es geschah im Anfang unbewußt, nach einigen Wochen aber schlug mir das Gewissen. Ich beichtete ihm, er entdeckte mir daß er das ganze Unglück mit Bedauern habe kommen und wachsen sehen, und ich schloß mich ihm aufs neue herzlich und eifersüchtig an. Was ich damals etwa an heiteren und freien kleinen Lebenskünsten mir erwarb, kam alles von ihm. Er war schön und heiter an Leib und Seele und das Leben schien für ihn keine Schatten zu haben. Die Leidenschaften und Irrungen der Zeit kannte er als kluger und beweglicher Mensch wohl, aber sie glitten ohne Schaden an ihm ab. Sein Gang und seine Sprache und sein ganzes Wesen war geschmeidig, wohllaut und liebenswert. O wie er lachen konnte!
Für meine Weinstudien hatte er wenig Verständnis. Er ging gelegentlich mit, hatte jedoch nach zwei Gläsern genug und betrachtete meinen wesentlich größeren Konsum mit naivem Erstaunen. Aber wenn er sah, daß ich litt und hilflos meiner Schwermut unterlag, musizierte er mir, las mir vor oder führte mich spazieren. Auf unsern kleinen Ausflügen waren wir oft ausgelassen wie zwei kleine Knaben. Einmal lagen wir auf warmer Mittagsrast in einem waldigen Tal, warfen uns mit Tannenzapfen und sangen Verse aus der frommen Helene auf gefühlvolle Melodieen. Der rasche klare Bach plätscherte uns so lange kühl verlockend ins Ohr, bis wir uns entkleideten und uns ins kalte Wasser legten. Da kam er auf die Idee Komödie zu spielen. Er setzte sich auf einen moosigen Felsen und war die Lorelei, und ich segelte unten als Schiffer im kleinen Schiffe vorüber. Dabei sah er so jungferlich schamhaft aus und schnitt solche Grimassen, daß ich, der ich das wilde Weh hätte markieren sollen, mich vor Lachen kaum halten konnte. Plötzlich wurden Stimmen laut, eine Touristengesellschaft erschien auf dem Fußweg und wir mußten uns in unsrer Blöße eiligst unter dem ausgewaschenen, überhängenden Ufer verbergen. Als die ahnungslose Gesellschaft an uns vorüberschritt, stieß Richard allerlei seltsame Töne aus, grunzte, quietschte und fauchte. Die Leute stutzten, schauten um sich, stierten ins Wasser und waren nahe daran uns zu entdecken. Da tauchte mein Freund mit halbem Leibe aus seinem Schlupfwinkel auf, blickte die indignierte Gesellschaft an und sprach mit tiefer Stimme und priesterlicher Geberde: „Ziehet hin in Frieden!“ Sogleich verschwand er wieder, zwickte mich in den Arm und sagte: „Auch das war eine Charade.“
„Was für eine?“ fragte ich.
„Pan erschreckt einige Hirten,“ lachte er. „Es waren aber leider auch Frauenzimmer dabei.“
Von meinen geschichtlichen Studien nahm er wenig Notiz. Meine fast verliebte Vorliebe für den heiligen Franz von Assisi aber teilte er bald, obschon er gelegentlich auch über ihn Witze machen konnte, die mich entrüsteten. Wir sahen den seligen Dulder freundlich begeistert und heiter wie ein liebes großes Kind durch die umbrische Landschaft wandern, seines Gottes froh und voll demütiger Liebe zu allen Menschen. Wir lasen zusammen seinen Unsterblichen Sonnengesang und kannten ihn fast auswendig. Einst, da wir im Dampfboot über den See von einer Spazierfahrt zurückkehrten und der abendliche Wind das goldige Wasser bewegte, fragte er leise: „Du, wie sagt hier der Heilige?“ Und ich zitierte:
Laudato si, mi Signore, per frate vento e per aere e nubilo et sereno et onne tempo!
Wenn wir Streit bekamen und uns Schnödigkeiten sagten, warf er mir, immer halb im Scherz, nach Art der Schuljungen eine solche Menge von drolligen Übernamen an den Kopf, daß ich bald lachen mußte und dem Ärgernis der Stachel genommen war. Verhältnismäßig ernst war mein lieber Freund nur, wenn er seine Lieblingsmusiker hörte oder spielte. Auch dann konnte er sich unterbrechen, um irgend einen Spaß zu machen. Dennoch war seine Liebe zur Kunst voll reiner, herzlicher Hingabe und sein Gefühl für das Echte und Bedeutende schien mir untrüglich.
Wunderbar verstand er die feine, zarte Kunst des Tröstens, des teilnehmenden Dabeiseins oder des Erheiterns, wenn einer seiner Freunde in Nöten war. Er konnte mir, wenn er mich übellaunig fand, ganze Mengen kleiner anekdotischer Geschichten von grotesker Nettigkeit erzählen und hatte dann etwas Beruhigendes und Erheiterndes im Ton, dem ich selten widerstand.
Vor mir hatte er ein wenig Respekt, weil ich ernster war als er; noch mehr imponierte ihm meine Körperkraft. Vor andern renommierte er damit und war stolz einen Freund zu haben, der ihn einhändig hätte erdrücken können. Er gab viel auf körperliche Fähigkeiten und Gewandtheit, er lehrte mich Tennis, ruderte und schwamm mit mir, nahm mich zum Reiten mit und ruhte nicht, bis ich fast eben so gut Billard spielte wie er selbst. Es war sein Lieblingsspiel und er betrieb es nicht nur künstlerisch und meisterhaft, sondern pflegte am Billard auch immer besonders lebhaft, witzig und fröhlich zu sein. Häufig gab er den drei Bällen die Namen von Leuten unsrer Bekanntschaft und konstruierte bei jedem Stoß aus Stellung, Annäherung und Entfernung der Bälle ganze Romane voll von Witzen, Anzüglichkeiten und karikierenden Vergleichen. Dabei spielte er ruhig, leicht und überaus elegant und es war eine Lust ihn dabei zu betrachten.
Meine Schriftstellerei schätzte er nicht höher als ich selbst. Einmal sagte er mir: „Sieh, ich hielt dich immer für einen Dichter und halte dich noch dafür, aber nicht deiner Feuilletons wegen, sondern weil ich fühle daß du etwas Schönes und Tiefes in dir leben hast, das früher oder später einmal hervorbrechen wird. Und das wird dann eine wirkliche Dichtung sein.“
Indessen glitten uns die Semester wie kleine Münze durch die Finger und die Zeit kam unverhofft, da Richard an die Rückkehr nach seiner Heimat denken mußte. Mit einer etwas künstlichen Ausgelassenheit genossen wir die schwindenden Wochen und kamen am Ende überein, daß vor dem bitteren Abschied noch irgend eine glänzende und festliche Unternehmung diese schönen Jahre heiter und verheißungsvoll beschließen sollte. Ich schlug eine Ferientour in die Berner Alpen vor, doch war es freilich noch Vorfrühling und für die Berge eigentlich viel zu früh. Während ich mir den Kopf nach anderen Vorschlägen zerbrach, schrieb Richard seinem Vater und bereitete mir in der Stille eine große und freudige Überraschung vor. Eines Tages kam er mit einem stattlichen Wechsel angerückt und lud mich ein, ihn als Führer nach Oberitalien zu begleiten.
Mir schlug bang und frohlockend das Herz. Ein seit Knabenzeiten gehegter, tausendmal durchgeträumter, sehnlicher Lieblingswunsch sollte sich mir erfüllen. Wie im Fieber besorgte ich meine kleinen Vorbereitungen, brachte meinem Freund noch ein paar Worte Italienisch bei und fürchtete bis zum letzten Tag, es möchte doch nichts daraus werden.
Unser Gepäck war vorausgeschickt, wir saßen im Wagen, die grünen Felder und Hügel flirrten vorüber, der Urnersee und der Gotthard kam, dann die Bergnester und Bäche und Geröllhalden und Schneegipfel des Tessin, und dann die ersten schwärzlichen Steinhäuser in ebenen Weinbergen und die erwartungsvolle Fahrt an den Seen hin und durch die fruchtbare Lombardei dem lärmend lebhaften, sonderbar anziehenden und abstoßenden Mailand entgegen.
Richard hatte sich vom Milaneser Dom nie eine Vorstellung gemacht, sondern von ihm nur als von einem berühmten großen Bauwerk gewußt. Es war ergötzlich, seine entrüstete Enttäuschung zu sehen. Als er den ersten Schreck überwunden und seinen Humor wiedergefunden hatte, schlug er selber vor, das Dach zu besteigen und sich in dem tollen Wirrsal von Steinfiguren dort oben umherzutreiben. Wir stellten mit einiger Befriedigung fest, daß es um die Hunderte von unseligen Heiligenstatuen auf den Fialen nicht so sehr schade sei, denn sie erwiesen sich zumeist, wenigstens sämtliche neuern, als Fabrikarbeit gewöhnlicher Art. Wir lagen fast zwei Stunden auf den breiten, schrägen Marmorplatten, die ein sonniger Apriltag leise durchglüht hatte. Behaglich gestand mir Richard: „Weißt du, im Grunde hab’ ich nichts dagegen, noch mehr solche Enttäuschungen zu erleben wie mit dem verrückten Dom da. Auf der ganzen Reise hatte ich eine kleine Angst vor alle den Großartigkeiten, die wir sehen und die uns erdrücken würden. Und nun fängt die Sache so freundlich und menschlich-lächerlich an!“ Dann reizte ihn das wirre steinerne Figurenvolk, in dessen Mitte wir lagerten, zu allerlei barocken Phantasieen.
„Vermutlich,“ sagte er, „wird dort auf dem Chorturm, als der höchsten Spitze, wohl auch der höchste und vornehmste Heilige stehen. Da es nun keineswegs ein Vergnügen sein muß, ewig als steinerner Seiltänzer auf diesen spitzen Türmchen zu balancieren, ist es billig, daß von Zeit zu Zeit der oberste Heilige erlöst und in den Himmel entrückt wird. Nun denke dir, was das jedesmal für ein Spektakel absetzt! Denn natürlich rücken nun sämtliche übrige Heilige genau nach der Rangordnung je um einen Platz vor und jeder muß mit einem großen Satz auf die Fiale des Vorgängers hüpfen, jeder in großer Eile und jeder jaloux auf alle, die noch vor ihm kommen.“
So oft ich seither durch Mailand kam, fiel jener Nachmittag mir wieder ein und ich sah mit wehmütigem Lachen die hunderte von Marmorheiligen ihre kühnen Sprünge tun.
In Genua ward ich um eine große Liebe reicher. Es war ein heller, windiger Tag, kurz nach der Mittagsstunde. Ich hatte die Arme auf eine breite Mauerbrüstung gestützt, hinter mir lag das farbige Genua, und unter mir schwoll und lebte die große blaue Flut. Das Meer. Mit dunklem Tosen und unverstandenem Verlangen warf sich mir das Ewige und Unwandelbare entgegen und ich fühlte, daß etwas in mir sich mit dieser blauen, schäumigen Flut für Leben und Tod befreundete.
Ebenso mächtig ergriff mich der weite Meerhorizont. Wieder sah ich wie in Kinderzeiten die duftblaue Ferne wie ein geöffnetes Tor auf mich warten. Und wieder faßte mich das Gefühl, ich sei nicht zum stetig heimischen Leben unter Menschen und in Städten und Wohnungen, sondern zum Schweifen durch fremde Gebiete und zu Irrfahrten auf Meeren geboren. Mit dunklem Trieb stieg das alte, traurigmachende Verlangen in mir empor, mich an Gottes Brust zu werfen und mein kleines Leben mit dem Unendlichen und Zeitlosen zu verbrüdern.
Bei Rapallo rang ich schwimmend zum erstenmal mit der Flut, schmeckte das herbe Salzwasser und fühlte die Gewalt der Wogen. Ringsum blaue, klare Wellen, braungelbe Strandfelsen, tiefer stiller Himmel und das ewige, große Rauschen. Stets von neuem ergriff mich der Anblick der ferne gleitenden Schiffe, schwarzer Masten und blanker Segel oder die kleine Rauchfahne eines entfernt dahinfahrenden Dampfers. Nächst meinen Lieblingen, den rastlosen Wolken, weiß ich kein schöneres und ernsteres Bild der Sehnsucht und des Wanderns als solch ein Schiff, das in großer Ferne fährt, kleiner wird und in den geöffneten Horizont hinein verschwindet.
Und wir kamen nach Florenz. Die Stadt lag da wie ich sie aus hundert Bildern und tausend Träumen kannte — licht, geräumig, gastlich, vom grünen, überbrückten Strom durchzogen und von klaren Hügeln umgürtet. Der kecke Turm des palazzo vecchio stach kühn in den lichten Himmel, in seiner Höhe lag weiß und warmsonnig das schöne Fiesole und alle Hügel standen weiß und rosenrot im Flor der Obstblüte. Das beweglich freudige, harmlose toskanische Leben ging mir wie ein Wunder auf und ich war bald heimischer als ich je zu Hause gewesen war. Die Tage wurden in Kirchen, auf Plätzen, in Gassen, Loggien und Märkten verbummelt, die Abende in Hügelgärten verträumt, wo schon die Limonen reiften, oder in kleinen naiven Chiantischenken vertrunken und verplaudert. Dazwischen die beglückend reichen Stunden in den Bildersälen und im Bargello, in Klöstern, Bibliotheken und Sakristeien, die Nachmittage in Fiesole, San Miniato, Settignano, Prato.
Nach einer schon zu Hause getroffenen Verabredung ließ ich nun Richard für eine Woche allein und genoß die edelste und köstlichste Wanderung meiner Jugendzeit, durch das reiche, grüne umbrische Hügelland. Ich ging die Straßen des heiligen Franz und fühlte ihn in manchen Stunden neben mir wandern, das Gemüt voll unergründlicher Liebe, jeden Vogel und jede Quelle und jeden Hagrosenstrauch mit Dankbarkeit und Freude begrüßend. Ich pflückte und verzehrte Limonen an sonnig glänzenden Hängen, nächtigte in kleinen Dörfern, sang und dichtete in mich hinein und feierte die Ostern in Assisi, in der Kirche meines Heiligen.
Mir ist immer, als seien diese acht Wandertage in Umbrien die Krone und das schöne Abendrot meiner Jugendzeit gewesen. Jeden Tag sprangen Quellen in mir auf und ich sah in die lichte, festliche Frühlingslandschaft wie in Gottes gütige Augen.
In Umbrien war ich Franz, dem „Spielmann Gottes“, verehrend nachgegangen; in Florenz genoß ich die beständige Vorstellung vom Leben des Quattrocento. Ich hatte ja schon zu Hause Satiren auf die Formen unsres heutigen Lebens geschrieben. In Florenz aber fühlte ich zum erstenmal die ganze schäbige Lächerlichkeit der modernen Kultur. Dort überfiel mich zuerst die Ahnung, daß ich in unsrer Gesellschaft ewig ein Fremdling sein würde, und dort erwachte zuerst der Wunsch in mir, mein Leben außerhalb dieser Gesellschaft und womöglich im Süden weiter zu führen. Hier konnte ich mit den Menschen verkehren, hier erfreute mich auf Schritt und Tritt eine freimütige Natürlichkeit des Lebens, über welcher adelnd und verfeinernd die Tradition einer klassischen Kultur und Geschichte lag.
Glänzend und beglückend rannen uns die schönen Wochen hin; auch Richard hatte ich nie so schwärmerisch entzückt gesehen. Übermütig und freudig leerten wir die Becher der Schönheit und des Genusses. Wir erwanderten abseitige, heiß gelegene Hügeldörfer, befreundeten uns mit Gastwirten, Mönchen, Landmädchen und kleinen zufriedenen Dorfpfarrern, belauschten naive Ständchen, fütterten bräunliche, hübsche Kinder mit Brot und Obst und sahen von sonnigen Berghöhen Toskana im Glanz des Frühlings und fern das schimmernde ligurische Meer liegen. Und wir hatten beide das kräftige Gefühl, unseres Glückes würdig einem reichen, neuen Leben entgegen zu gehen. Arbeit, Kampf, Genuß und Ruhm lagen so nah und glänzend und sicher vor uns, daß wir ohne Hast uns der glücklichen Tagen freuten. Auch die nahe Trennung schien leicht und vorübergehend, denn wir wußten fester als je, daß wir einer dem andern notwendig und einer des andern für’s Leben sicher waren.

Das war die Geschichte meiner Jugend. Es scheint mir, wenn ich es überdenke, als sei sie kurz wie eine Sommernacht gewesen. Ein wenig Musik, ein wenig Geist, ein wenig Liebe, ein wenig Eitelkeit — aber es war schön, reich und farbig wie ein eleusisches Fest.
Und erlosch schnell und armselig wie ein Licht im Wind.
In Zürich nahm Richard Abschied. Zweimal stieg er wieder aus dem Eisenbahnwagen, um mich zu küssen, und nickte mir noch, so lange es ging, vom Fenster aus zärtlich zu.
Zwei Wochen später ertrank er beim Baden in einem lächerlich kleinen süddeutschen Flüßchen. Ich sah ihn nicht mehr, ich war nicht dabei als er begraben wurde, ich hörte alles erst ein paar Tage später, als er schon im Sarge und in der Erde lag. Da lag ich in meinem Stüblein auf den Boden hingestreckt, fluchte Gott und dem Leben in gemeinen und scheußlichen Lästerworten, weinte und tobte. Ich hatte bis dahin nie bedacht, daß mein einziger sicherer Besitz in diesen Jahren meine Freundschaft gewesen war. Das war nun vorüber.
Es litt mich nicht länger in der Stadt, wo täglich eine Menge von Erinnerungen sich an mich hängte und mir die Lust raubte. Was nun käme, war mir einerlei; ich war im Kern der Seele krank und hatte ein Grauen vor allem Lebendigen. Einstweilen schien die Aussicht gering, daß mein zerstörtes Wesen sich wieder aufrichte und mit neu gespannten Segeln dem herberen Glück der Mannesjahre entgegen treibe. Gott hatte gewollt, daß ich das Beste meines Wesens einer reinen und fröhlichen Freundschaft hingäbe. Wie zwei rasche Nachen waren wir miteinander vorangestürmt, und Richards Nachen war der bunte, leichte, glückliche, geliebte, an dem mein Auge hing und dem ich vertraute, er würde mich zu schönen Zielen mitreißen. Nun war er mit kurzem Schrei versunken und ich trieb steuerlos auf plötzlich verdunkelten Wassern umher.
Es wäre an mir gewesen, die harte Probe zu bestehen, mich nach den Sternen zu richten und auf neuer Fahrt um den Kranz des Lebens zu kämpfen und zu irren. Ich hatte an die Freundschaft, an die Frauenliebe, an die Jugend geglaubt. Nun sie eine um die andere mich verlassen hatten, warum glaubte ich nicht an Gott und gab mich in seine stärkere Hand? Aber ich war zeitlebens zag und trotzig wie ein Kind und wartete immer auf das eigentliche Leben, daß es im Sturme über mich käme, mich verständig und reich machte und auf großen Flügeln einem reifen Glück entgegen trüge.
Das weise und sparsame Leben aber schwieg und ließ mich treiben. Es schickte mir weder Stürme noch Sterne, sondern wartete, bis ich wieder klein und geduldig und mein Trotz gebrochen wäre. Es ließ mich meine Komödie des Stolzes und Besserwissens spielen, sah daran vorbei und wartete, bis das verlaufene Kind die Mutter wieder finden würde.

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