Johann Wolfgang von Goethe
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I. Von den Samenblättern
§ 10.
Da wir die Stufenfolge des Pflanzen-Wachsthums zu beobachten uns vorgenommen haben, so richten wir unsere Aufmerksamkeit sogleich in dem Augenblicke auf die Pflanze, da sie sich aus dem Samenkorn entwickelt. In dieser Epoche, können wir die Theile, welche unmittelbar zu ihr gehören, leicht und genau erkennen. Sie läßt ihre Hüllen mehr oder weniger in der Erde zurück, welche wir auch gegenwärtig nicht untersuchen, und bringt in vielen Fällen, wenn die Wurzel sich in den Boden befestigt hat, die ersten Organe ihres oberen Wachsthums, welche schon unter der Samendecke verborgen gegenwärtig gewesen, an das Licht hervor.
§ 11.
Es sind diese ersten Organe unter dem Nahmen Cotyledonen bekannt; man hat sie auch Samenklappen, Kernstücke, Samenlappen, Samenblätter genannt und so die verschiedenen Gestalten, in denen wir sie gewahr werden zu bezeichnen gesucht.
§ 12.
Sie erscheinen oft unförmlich, mit einer rohen Materie gleichsam ausgestopft, und eben so sehr in die Dicke als in die Breite ausgedehnt; ihre Gefäße sind unkenntlich, und von der Masse des Ganzen kaum zu unterscheiden; sie haben faßt nichts Ähnliches von einem Blatte, und wir können verleitet werden sie für besondere Organe anzusehen.
§ 13.
Doch nähern sie sich bey vielen Pflanzen der Blattgestalt; sie werden flächer, sie nehmen, dem Licht und der Luft ausgesezt, die grüne Farbe in einem höhern Grade an, die in ihnen enthaltenen Gefäße werden kenntlicher, den Blattrippen ähnlicher.
§ 14.
Endlich erscheinen sie uns als wirkliche Blätter, ihre Gefäße sind der feinsten Ausbildung fähig, ihre Aehnlichkeit mit den folgenden Blättern erlaubt uns nicht sie für besondere Organe zu halten, wir erkennen sie vielmehr für die ersten Blätter des Stengels.
§ 15.
Läßt sich nun aber ein Blatt, nicht ohne Knoten, und ein Knoten nicht ohne Auge denken, so dürfen wir folgern daß derjenige Punct wo die Cotyledonen angeheftet sind, der wahre erste Knotenpunct der Pflanze sey. Es wird dieses durch diejenigen Pflanzen bekräftiget, welche unmittelbar unter den Flügeln der Cotyledonen, junge Augen hervortreiben, und aus diesen ersten Knoten vollkommene Zweige entwickeln, wie z.B. Vicia Faba zu thun pflegt.
§ 16.
Die Cotyledonen sind meist gedoppelt, und wir finden hierbey eine Bemerkung zu machen, welche uns in der Folge noch wichtiger scheinen wird. Es sind nehmlich die Blätter dieses ersten Knotens oft auch dann gepaart, wenn die folgenden Blätter des Stengels wechselsweise stehen, es zeigt sich also hier eine Annäherung und Verbindung der Theile, welche die Natur in der Folge trennt und von einander entfernt. Noch merkwürdiger ist es wenn die Cotyledonen als viele Blättchen um Eine Axe versammlet erscheinen, und der aus ihrer Mitte sich nach und nach entwickelnde Stengel, die folgenden Blätter einzeln um sich herum hervorbringt, welcher Fall sehr genau an dem Wachsthum der Pinusarten sich bemerken läßt. Hier bildet ein Kranz von Nadeln gleichsam einen Kelch, und wir werden in der Folge, bey ähnlichen Erscheinungen uns des gegenwärtigen Falles wieder zu erinnern haben.
§ 17.
Ganz unförmliche einzelne Kernstücke solcher Pflanzen, welche nur mit Einem Blatte keimen, gehen wir gegenwärtig vorbey.
§ 18.
Dagegen bemerken wir, daß auch selbst die blattähnlichsten Cotyledonen, gegen die folgenden Blätter des Stengels gehalten, immer unausgebildeter sind. Vorzüglich ist ihre Peripherie höchst einfach, und an derselben sind so wenig Spuren von Einschnitten zu sehen als auf ihren Flächen sich Haare oder andere Gefäße ausgebildeter Blätter bemerken lassen.